Vermehrt wurde in den letzten Jahren wieder über schulische Leistung diskutiert. So zeigt sich beispielhaft an der kürzlich um Nerowski-Berkemeyer-Tenorth entsponnenen Debatte [1], aber eben auch an der Präsenz der Thematik in historisch oder philosophisch interessierten Forschungsverbänden [2], dass schulische Leistung und ihre Bewertung nicht bloß öffentliche Zankäpfel geblieben sind. Der Veröffentlichungszeitpunkt in diesem Themenfeld verspricht also gegenwärtig allemal Sichtbarkeit. Das wird dem vorliegenden Band von Silvia-Iris Beutel und Hans Anand Pant auch deshalb gelingen, da er „Lehrerinnen und Lehrern Möglichkeiten aufzeigen [möchte], wie eine notenfreie Leistungsbeurteilung begründet und in allen Schulformen gestaltet werden kann“ (Klappentext).
Diese Zeilen lenken die Aufmerksamkeit des Lesepublikums bereits auf eine eher praxeologisch interessierte als wissenschaftlich-systematische Fährte. Der Titel – Lernen ohne Noten. Alternative Konzepte der Leistungsbeurteilung – verspricht einem gleichermaßen gesinnten Publikum „klassische“ Zugriffe auf Notengebung, Leistungsprinzipien, Bildungsgerechtigkeit, ihre Alternativen mit besonderer Berücksichtigung der preisgekrönten Konzepte des „Deutschen Schulpreises“, ihre Implementierungsmöglichkeiten und Innovationsversprechungen sowie erhofften gesellschafts-transformatorischen Möglichkeiten. Besonders die rezeptartige Nachahmungsaufforderung von „best-practice Beispielen“ (S. 121 oder 183ff) mahnt jedoch zur Vorsicht und kritischen Prüfung, geht damit nicht der implizite Anspruch einher, einzelschul- und situationsgerechten Praktiken trotz ihrer spezifischen Unterrichtsgegebenheiten Allgemeinwert zuzusprechen. Dies kann mit Vorsicht gelingen, wenn umsichtig geprüft wird, inwieweit Allgemeines im Speziellen ausgesagt werden kann. Während sich aber Beutel und Pant (Kapitel 1.3) mit Kritik an Noten und Fairness begnügen, bleiben gerade bei ihren Alternativkonzepten, die den Preisträgerschulen entnommen sind, derartige Anfragen aus. So horcht der interessierte Leser spätestens dann auf, wenn am Fallbeispiel geschildert der „positive Medikamenteneinfluss [dazu] führte, dass sich immer mehr Erfolgserlebnisse einstellten“ (S. 191). Wäre es nicht redlicher, den ausgezeichneten Konzepten eine ebenso kritische Zuwendung zuteilwerden zu lassen, wie es für Noten zur Hand gegeben wird? Ist reformwilligen Lehrpersonen nicht gerade das zumutbar? Misst man die Publikation an ihrem selbstgesteckten Ziel, Lehrerinnen und Lehrern Alternativen anzubieten, so erscheint es „realitätsnäher“, würde aufgezeigt werden, dass auch diese mit spezifischen Voraussetzungen und Problemstellungen einhergehen können, die vor schulentwicklerischen Anstrengungen wohl wissenswert wären. Auch für die angebotenen „innovativen Leistungskonzepte“ (Kapitel 5) von werkstattorganisierter Lernbegleitung zu Jena-(Ge)Planter Leistungsbeurteilung und Matthias-Claudianischen Bremer Logbüchern liegen kritische Studien vor, die ebenso älteren Datums sind, wie die als innovativ gezeichneten Alternativkonzepte.
Verwunderlich ist auch, dass die ungenannte Mitautorin Alexandra Marx, die das Kapitel zu Ansätzen und Effekten notenunabhängiger Leistungserfassung und -beurteilung beisteuerte, konkludiert, „dass notenfreie Verfahren nicht per se einen günstigen Effekt auf Schülerinnen und Schüler haben. Vielmehr scheinen diese Effekte stark davon abzuhängen, in welcher Form und in welchen Konzepten notenfreie Verfahren zur Leistungsrückmeldung eingesetzt werden und welche anderen Möglichkeiten zur Einschätzung und Bewertung der schulischen Leistung Kindern und Jugendlichen zur Verfügung stehen“ (S. 83). Treten diese Effekte aber nicht wünschenswert und empirisch belegbar zutage, so schließt die Autorin (S. 87), leider wie allzu oft auch anderorts, auf die fehlende Lehrerinnen- und Lehrerkompetenz, die mit Fort- und Weiterbildung zu beheben wäre. Wie am dargelegten Beispiel sichtbar, ringt die Publikation mit einer kohärenten Einordnung von teils auch als divergent dargestellten Forschungsergebnissen in der Ausrichtung auf schulpreisverdächtige Ansätze der Leistungsbewertung. So werden aus wissenschaftlicher Perspektive klärungsbedürftige Begrifflichkeiten und Konzepte von Lernen, Lehren oder Effizienz mit Managementkonzepten von plan-do-act-check (S. 153) ersetzt. Ebenso unterschiebt man den Adressatinnen und Adressaten des Bandes ein Rollenbild, das suggeriert, Lehrpersonen seien und müssten fraglos Lernbegleitende sein. Konsequent sind Lernende als motiviert, lernwillig, neugierig, vertieft und reflektiert beschrieben. Zudem gesellen sich zu Abbildungen, Tabellen, Grafiken, Interviewauszügen und Fotografien manche konkretisierungs- beziehungsweise problematisierungsbedürftig scheinende Aussagen, wenn beispielsweise „das Kernthema der Individualisierung, das mit einer Fülle projektförmig angelegter Lernarrangements für die Lernenden und durch eine hochdifferenzierte Kommunikation in unterschiedlichen Konferenz- und Entscheidungsgremien als Grundthema der Schule weiterentwickelt wird“ (S. 144).
Wichtige Funktionsunterscheidungen von Leistungsbewertungen in inner- und außerschulische Perspektiven werden im Verlauf des Bandes aufgegeben, um die „pädagogische Funktion“ zurückzugewinnen. Dabei stellt sich die Frage nach der Anschlussfähigkeit von Schulabgehenden oder auch die überschaubare Auskunftsfunktion für am Unterricht nicht Teilnehmende, die jedoch auf Schule und ihre Differenzmarkierungen bauen wollen, ohne auf demokratisch unverfügbare Assessmentpraktiken zurückzugreifen, nicht mehr. Hervorgehoben sei: Leistung wird stets sozial verhandelt! Was als Leistung anerkannt wird, folgt im demokratisch geführten Diskurs einer anderen Logik, als in ökonomisch oder sonst wie organisierten Prozessen. Zudem scheint ausgeblendet, dass es paradoxe empirische Befunde gibt [3], dass gerade inklusiv gedachte Formate von offenem Unterricht, Planunterricht oder ähnlichem, leistungsstarken Schülerinnen und Schülern entgegenkommen und schwächere Schülerinnen und Schüler benachteiligen.
Die Rolle der am Cover geführten AutorInnen in der Jury des Deutschen Schulpreises könnte vermuten lassen, diese Publikation sei für zukünftige Preisempfänger konzipiert. Zugegeben, wie einleitend angeführt, handelt es sich beim vorliegenden Band weniger um eine wissenschaftliche Publikation als um eine bildungspolitisch motivierte Schrift zur Verbreitung und Bewerbung alternativer Leistungsbeurteilung. Dabei werden all jene fündig und bestätigt, die mit geläufiger Notenkritik bekannt und reformwilliger Einstellung wohlwollend auf verbreitete Alternativkonzepte blicken.
[1] vergleiche Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 23 (2020).
[2] Das um Andreas Gelhard und Andreas Kaminski DFG-geförderte Projekt „Geschichte der Prüfungstechniken, 1900-2000“; u.a. Reh, Sabine; Ricken, Norbert (Hrsg.)(2018): Leistung als Paradigma. Zur Entstehung und Transformation eines pädagogischen Konzepts. Wiesbaden: Springer; Verheyen, Nina (2018): Die Erfindung der Leistung. München: Hansen Berlin
[3] vergleiche beispielsweise Arbeitsberichte der NOESIS-Studie an der Universität Wien.
EWR 19 (2020), Nr. 5 (November / Dezember)
Lernen ohne Noten
Alternative Konzepte der Leistungsbeurteilung
Stuttgart: Kohlhammer 2020
(219 S.; ISBN 978-3-17-034270-5; 29,00 EUR)
Bernhard Hemetsberger (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Bernhard Hemetsberger: Rezension von: Beutel, Silvia-Iris / Pant, Hans Anand: Lernen ohne Noten, Alternative Konzepte der Leistungsbeurteilung. Stuttgart: Kohlhammer 2020. In: EWR 19 (2020), Nr. 5 (Veröffentlicht am 22.12.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317034270.html
Bernhard Hemetsberger: Rezension von: Beutel, Silvia-Iris / Pant, Hans Anand: Lernen ohne Noten, Alternative Konzepte der Leistungsbeurteilung. Stuttgart: Kohlhammer 2020. In: EWR 19 (2020), Nr. 5 (Veröffentlicht am 22.12.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317034270.html