EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)

Joachim Schröder (Hrsg.)
GeflĂŒchtete in der Schule
Vom Krisenmanagement zur nachhaltigen Schulentwicklung
Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2018
(100 S.; ISBN 978-3-17-033519-6; 32,00 EUR)
GeflĂŒchtete in der Schule Durch die Migrations- und Fluchtbewegungen um 2015 hat das Thema Fluchtmigration in Europa politisch und auch in der breiten Öffentlichkeit schlagartig große Aufmerksamkeit erhalten. Die Suche nach politischen Lösungen, bspw. dazu wie die EuropĂ€ische Union mit GeflĂŒchteten umgeht, scheint jedoch seit Jahren zu stagnieren. Aktuell erhĂ€lt die Thematik eher sporadisch grĂ¶ĂŸere mediale Aufmerksamkeit – so wie im Herbst 2020 auf Grund der Notlage der geschĂ€tzt 16.000 GeflĂŒchteten, die sich im durch einen Großbrand zerstörten FlĂŒchtlingslager ‚Moria‘ auf der griechischen Insel Lesbos befinden.

Was hat der Brand von ‚Moria‘ mit Schulen im hiesigen Kontext zu tun? GlobalisierungsphĂ€nomene und deren Kontingenz sind allgegenwĂ€rtig in unserer Gesellschaft – sei es im alltĂ€glichen wie auch im schulischen Leben. Es ist kaum möglich, sich diesen weltumspannenden VerĂ€nderungen zu entziehen. Fluchtmigration kann daher als ein exemplarisches PhĂ€nomen gesellschaftlicher Entwicklungen angesehen werden, das zur KomplexitĂ€t professionellen pĂ€dagogischen Handelns beitrĂ€gt und dem es gilt sich aus erziehungswissenschaftlicher Sicht spezifisch zu widmen. Der vorliegende Sammelband greift mit dem Titel „GeflĂŒchtete in der Schule“ dieses Thema auf.

Anliegen des Herausgebers Joachim Schröder ist es in dieser Publikation „theoretische BegrĂŒndungen, konzeptionelle Überlegungen und pĂ€dagogische Konkretionen fĂŒr eine lebenslagenorientierte Unterrichts- und Schulprogrammentwicklung im Handlungsfeld Flucht und Asyl“ (S. 11, Hervorh. im Original) zusammenzubringen. Hervorzuheben ist dabei, dass die Überlegungen hierzu ĂŒberwiegend von der Lebenssituation der GeflĂŒchteten her begrĂŒndet werden.

Dabei liegt der inhaltliche Fokus deutlich auf Bildungsangeboten fĂŒr schutzsuchende Ă€ltere Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. BegrĂŒndet wird diese Fokussierung mit der kurzen Verweildauer von Jugendlichen im deutschen Schulsystem, deren Schulpflicht oft schon nach ein oder zwei Schuljahren endet, und damit vor besonderen Herausforderungen beim Übergang in die hiesige Arbeits- und Berufswelt stehen.

In der Einleitung betont Schröder die herausfordernde, gleichzeitig zwingend notwendige pĂ€dagogische Aufgabe, Bildungsangebote auf die spezifischen Lebens- und Lernbedingungen von jugendlichen Schutzsuchenden hin auszurichten, deren Bildungsbiografien hĂ€ufig geprĂ€gt sind von BrĂŒchen und DiskontinuitĂ€ten. UnabhĂ€ngig von der Altersstufe der Zielgruppe sind es dabei hĂ€ufig informelle Lerngelegenheiten, die in den transnationalen BildungsverlĂ€ufen von Kindern und Jugendlichen eine besondere Rolle spielen.

Das Buch umfasst neben der Einleitung neun Kapitel, drei davon hat der Autor selbst geschrieben. Die Auswahl der weiteren Autorinnen und Autoren umfasst dabei Personen, die in schulischen oder auch sozialpĂ€dagogischen Bildungskontexten – wie in der Erwachsenenbildung oder in der Aus- und Weiterbildung von LehrkrĂ€ften – umfangreiche Erfahrungen mit benachteiligten Jugendlichen oder jungen Erwachsenen aufweisen. Diese Bandbreite zeigt sich in der Mischung der Perspektiven auf das Thema Flucht, die von der Publikation abgedeckt werden – von einerseits stĂ€rker praxisbezogenen hin zu forschungsorientierteren BeitrĂ€gen.

Exemplarisch wird im Folgenden auf drei Kapitel nĂ€her eingegangen. Im ersten Kapitel („AnnĂ€herungen an Lebenslagen und Biografien junger GeflĂŒchteter – eine unabdingbare Voraussetzung fĂŒr eine pĂ€dagogische Kommunikation >auf Augenhöhe<“) geht Schröder auf das Konzept der ‚HabitussensibilitĂ€t‘ ein, mit dem der bewusste und reflektierte Umgang mit sozialen Ungleichheiten in asymmetrischen pĂ€dagogischen Situationen (wie der Machtposition einer Lehrkraft gegenĂŒber SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern) umschrieben wird. Der Autor bezeichnet die daraus abgeleitete notwendige soziale SensibilitĂ€t auf Seiten der Lehrkraft als SchlĂŒsselkompetenz und nutzt sie als ‚Reflexionsbrille‘, um ausgehend von der achtjĂ€hrigen biographischen Fluchtgeschichte eines afghanischen Schutzsuchenden zu beschreiben, anhand welcher Aufgabenarten Lehramtsstudierende zur Reflexion ihrer NormalitĂ€tsvorstellungen und Stereotypen gegenĂŒber GeflĂŒchteten angeregt werden können.

Unter dem Titel „Nur Sprache und Berufsschulunterricht? Was brauchen unbegleitete, minderjĂ€hrige FlĂŒchtlinge wirklich?“ formulieren Hiller und Mater in ihrem Beitrag zunĂ€chst sechs Merkmale, welche die Situation unbegleiteter minderjĂ€hriger Jugendlicher mit Fluchterfahrung charakterisieren. Darauf aufbauend fĂŒhren die Autoren zentrale Elemente einer solidarischen Begleitung aus und leiten davon Bausteine einer emanzipatorischen Bildung fĂŒr junge GeflĂŒchtete ab, die den Autoren zufolge zum Ziel haben sollte, die Jugendlichen zu selbstbestimmten Entscheidungen zu ‚empowern‘ (und diese nicht nur schnellstmöglich auf die regulĂ€ren Bildungslaufbahnen im deutschen Bildungssystem und damit in die VollerwerbstĂ€tigkeit zu bringen).

Schleicher richtet in seinem Kapitel zu „Transnationalen Formen der Remigration von GeflĂŒchteten als Herausforderung fĂŒr Integration und Bildung“ den Blick der internationalen Transmigrationsdebatte auf Ressourcen und Potenziale transnationaler Migration. Er untersuchte exemplarisch wie Jugendliche den familiĂ€ren Remigrationsprozess von Deutschland nach Kurdistan erlebten und welche BildungsverlĂ€ufe nach Ankunft entstanden. Der Autor betont Migration als hĂ€ufig unabgeschlossenen Prozess, der sich auch nach einem vermeintlichen ‚Ankommen‘ nicht statisch, sondern hĂ€ufig weiterhin dynamisch entwickeln kann.

Gerade bei solch einem gesellschaftlich aktuellen und polarisierenden Thema wie „GeflĂŒchtete in der Schule“ ist die Frage der AktualitĂ€t des geschriebenen Wortes relevant. Die Drucklegung des Buches war 2018, dementsprechend entstammt das Konzept und die Manuskriptgestaltung der Publikation der Zeit kurz nach der großen politischen und öffentlichen Aufmerksamkeit fĂŒr das Thema Fluchtmigration, in der es stĂ€ndige VerĂ€nderungen in bspw. den rechtlichen Vorgaben gab. Dieser zeitliche Rahmen ist relevant als Kontext fĂŒr die Einordung der Blickwinkel, die fĂŒr diese Publikation gesammelt wurden – so sind einzelne BeitrĂ€ge auch als pĂ€dagogische Momentaufnahmen anzusehen.

Aus pĂ€dagogischer Sicht können gesellschaftliche Entwicklungen immer erst mit rĂŒckwĂ€rts gerichtetem Blick reflektiert werden. Entsprechend wertvoll sind Publikationen, wie die Dargebotene, mit denen (wenn auch etwas fragmentarisch zusammengestellt) zeitnah das Thema Flucht aufgegriffen wurde und der Sammelband damit eine der frĂŒhen Publikationen darstellt, die die dezidiert erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht im schulischen Kontext diskutiert.

Kritisch anzumerken ist, dass die Auswahl der EinzelbeitrĂ€ge keine klare Systematik erkennen lĂ€sst. Der rote Faden bezieht sich auf den bereichernden Blickwinkel hinsichtlich der Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen, der in vielen der BeitrĂ€ge eingenommen wird. WĂŒnschenswert fĂŒr den wissenschaftlichen Diskurs wĂ€re eine ĂŒbergeordnete theoretische und thematische Einordnung der einzelnen BeitrĂ€ge gewesen.

Etwas irrefĂŒhrend erscheint der Zusammenhang des Titels mit dem Konzept der Publikation. Der Untertitel „Krisenmanagement“ suggeriert eine eher defizitorientierte Wahrnehmung und betont den Blick auf die krisenhaften Schwierigkeiten im Umgang mit schutzsuchenden Kindern und Jugendlichen, der im Band gerade nicht eingenommen wird. Auch das andere Stichwort des Untertitels „nachhaltige Schulentwicklung“ wird nur teilweise eingelöst; der Bezug zur Institution Schule wird insbesondere durch die drei BeitrĂ€ge des Autors herausgearbeitet, fehlt jedoch ĂŒberwiegend in den anderen sechs BeitrĂ€gen. Der Bedeutungshorizont von „nachhaltig“ wird angedeutet, wĂ€re jedoch noch stĂ€rker zu explizieren gewesen.

Insgesamt stellen die AufsĂ€tze eine Sammlung ĂŒberwiegend eindrĂŒcklicher Versuche dar, das Thema ‚Flucht und GeflĂŒchtete‘ aus schul- und sozialpĂ€dagogischer Sicht der und dem Lesenden nahe zu bringen. Dabei besticht die Bescheidenheit, die einigen der BeitrĂ€ge zugrunde liegt, mit der die Autorinnen und Autoren sich diesem komplexen Themenfeld nĂ€hern. Lehrreich ist diese Manier im Angesicht der großen Herausforderungen, die der pĂ€dagogischen Arbeit mit geflĂŒchteten Kindern und Jugendlichen inhĂ€rent ist – bedingt durch die unsicheren Lebenslagen, den diskontinuierlichen Bildungserfahrungen und der hĂ€ufig traumatisierenden Erlebnisse der Kinder und Jugendlichen.
Sarah DĂ©sirĂ©e Lange (WĂŒrzburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sarah DĂ©sirĂ©e Lange: Rezension von: Schröder, Joachim (Hg.): GeflĂŒchtete in der Schule, Vom Krisenmanagement zur nachhaltigen Schulentwicklung. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2018. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317033519.html