Die vorliegende Publikation führt die Befunde und Erkenntnisse der langjährigen Forschungs-, Lehr- und Beratungstätigkeit Heinrich Rickings und Tobias Hagens zusammen. Der Band stellt zunächst die historischen und juristischen Grundlagen der Schulpflicht dar, bestimmt die verschiedenen Formen von Schulabsentismus und grenzt die in diesem Zusammenhang oftmals ebenfalls verwendeten Begriffe Schulangst, Schulmeidung und Zurückhalten voneinander ab. Auch der zweite zentrale Begriff des Bandes, Schulabbruch, wird umfassend eingeführt. Dabei werden Differenzen der Begriffsverwendung im internationalen Raum herausgestellt und Forschungsbefunde dargelegt.
Das zweite Kapitel zu „Diagnostik“ von Schulabsentismus stellt heraus, welche Bedeutung die systematische quantitative Erfassung von Fehlzeiten im Umgang mit Schulabsentismus hat. Das simple Dokumentieren der Anwesenheit von Schülerinnen und Schülern zu Beginn des Unterrichtstages – wie es die gängigen Klassenbücher vorsehen – ist dabei ein notwendiges, aber nicht hinreichendes Verfahren, das nur begrenzte Möglichkeiten zur Analyse und Interpretation des Schulbesuchsverhaltens liefert. Ricking und Hagen stellen hier praxiserprobte Verfahren zur Erfassung und Dokumentation vor und geben Hinweise zu hilfreichen diagnostischen Verfahren, beispielsweise sind dies die „Einschätzungsskala der Schulverweigerung (ESV)“ oder „Skalen zur Erfassung der Lern- und Leistungsmotivation“.
Auf rund 80 Seiten stellen die Autoren nach dieser Grundlegung die möglichen Optionen zum Umgang mit Schulabsentismus in seiner pathogenetischen Verlaufsform dar: Prävention (Kapitel drei) will Schülerinnen und Schüler vor dem Auftreten von auffälligem Schulbesuchsverhalten erreichen, Intervention (Kapitel vier) versucht dem auffälligen Schulbesuchsverhalten entgegenzuwirken und den oder die betroffene Schüler/in unmittelbar wieder zurück in die Schule zu führen. Prävention und Intervention kann Schule leisten, solange die Schülerinnen und Schüler in ihr verweilen. Gelingt es trotz aller Bemühungen nicht, die Schülerinnen und Schüler an die Schule zu binden, bleibt als letzte Option die alternative Beschulung (Kapitel fünf).
Ein guter Ausgangspunkt zur Prävention von Schulabsentismus ist „mit der Ausrichtung der schulischen Bedingungen auf die Lebenswelt und die Bedürfnisse heutiger Schüler“ gegeben, mit der eine „Verstärkung und Förderung der Anwesenheit und inneren Teilhabe am Unterricht verbunden“ ist (90). Prävention zielt darauf ab, Schülerinnen und Schüler nicht in die Schule zu zwingen, sondern sie an die Schule zu binden. Dies kann nur über „gute“ pädagogische Rahmenbedingungen und engagiertes pädagogisches Personal gelingen. Zentral ist dabei, Lernerfolge auch für bildungsbenachteiligte Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen, da sich immer wieder zeigt, dass massiv schulabsente Schülerinnen und Schüler überproportional häufig aus der Gruppe der sozioökonomisch schwachen, bildungsfernen Haushalte stammen. Erläutert wird in diesem Zusammenhang der Response-to-Intervention-Ansatz (RTI), ein dreistufiges Modell auf der Grundlage von Huber und Grosche (2012), das erstens mit qualitativ hochwertigem Unterricht mit präventiver Grundausrichtung und zweitens intensiver Förderung in Kleingruppen sowie drittens bedarfsgerecht eingesetzter intensiver Einzelfallhilfe ein gestuftes Gerüst zur Prävention von Schulabbruch liefert. Ausgehend von diesem eher generellen Ansatz stellen die Autoren die schulischen Rahmenbedingungen für Prävention und Intervention vor. Die Unterscheidung von Erziehungsmaßnahmen, die in den Händen der einzelnen Lehrkräfte liegen, und Ordnungsmaßnahmen, die von der Klassenkonferenz verantwortet werden, wird exemplarisch am niedersächsischen Schulgesetz verdeutlicht. Im Kontext von Schulabsentismus müssen Schulen sich fragen lassen, was sie tun können, um Ordnungsmaßnahmen erst gar nicht anwenden zu müssen. An diesen rechtlichen Exkurs schließt ein Blick auf mögliche pädagogische Schwerpunkte an, die in der Absentismusprävention relevant sind. Allein durch den häufig ganztägigen Unterricht ist Schule nicht mehr nur Lernort, sondern wird zunehmend Lebensort, an dem Schülerinnen und Schüler sich wohlfühlen sollen. Wohlfühlen soll in der Schule zum einen über die äußeren Rahmenbedingungen (Räume und deren Ausstattung) ermöglicht werden, zum anderen soll sich Schule für eine Lebensweltorientierung offen zeigen, ihr Leistungsverständnis prüfen und ihre Lehrkräfte für einen gesünderen Umgang mit den beruflichen Belastungen und Herausforderungen fortbilden. Als präventive Leitlinien führen die Autoren klassische pädagogische Grundforderungen an, wie die nach einer professionellen Haltung oder nach einer Stärkung der sozialen Einbindung. Damit verdeutlichen Ricking und Hagen, dass das Thema Schulabsentismus und seine Prävention den schulischen Alltag durchdringt, dass es wichtig ist, im Alltag Qualität nicht allein am Lernergebnis, sondern am Lernerleben aller Beteiligten festzumachen und wie wesentlich das Kerngeschäft „Pädagogik“ für Schule ist. Folgerichtig schließt dieses Kapitel mit der Vorstellung des Potentials von Schulsozialarbeit, die in das Kollegium und die Schulstruktur einzubinden ist.
Schulische Interventionskonzepte werden in individuumsbezogene Förderprogramme, ökologische Ansätze und Transitionsprogramme unterschieden. In den individuumsbezogenen Förderprogrammen werden Strategien zu einer systematischen und effektiven Registratur vorgestellt und eine Art Leitfaden geliefert, der Hilfestellungen zur Einschätzung des schulischen Verhaltens hinsichtlich eines erhöhten Absentismus- bzw. Abbruchrisikos gibt. Wird ein erhöhtes Risiko festgestellt, wird die Schule aktiv und „beschäftigt sich systematisch und kontinuierlich mit der Beziehung des Schülers zur Schule“ (145). Regelmäßige Gespräche, das Ernennen eines Mentors und Gespräche mit den Eltern sowie intensivere, stark individualisierte Förderung setzen nun ein. In den ökologischen Ansätzen wird die soziale Umgebung bzw. das Lernumfeld mit einbezogen. Der Ansatz des „Classroom Managements“ oder das peer-orientierte Tutorverfahren „twelve together“, die zu den ökologischen Ansätzen gezählt werden, werden vorgestellt und in ihren Wirkungsweisen erläutert. Transitionsprogramme, die vor allem in den USA etabliert und gut evaluiert sind, nehmen den Übergang von Schule zu Beruf in den Blick. Ansätze dieser Art wollen die Anschlussfähigkeit von Jugendlichen am Ende ihrer schulischen Laufbahn an den Beruf herstellen. Damit dies gelingt, ist das Erreichen eines ersten schulischen Abschlusses zentral. Die Motivation hierfür soll unter anderem über das Ermitteln von beruflichen Perspektiven geschaffen werden. Die Darstellung der Interventionskonzepte schließt mit einem Überblick über Studien zur Wirksamkeit von Programmen zur Vermeidung von Schulabbruch. Gewissermaßen als Fazit der vorgestellten Strategien zur Prävention und Intervention wird Hagens Rahmenkonzept zur Förderung der schulischen Partizipation und Prävention von Dropout aus dem Jahre 2014 vorgestellt, das die Stufen universelle Prävention (proaktive Stufe) und gezielte Prävention (reaktive Stufe) unterscheidet.
Alternative Beschulung ist die letzte Option, die greift, wenn Schülerinnen und Schüler nicht mehr zur Schule kommen. Die Regelschule stellt dann keinen Ort mehr dar, in den der Schüler oder die Schülerin in absehbarer Zeit mit einem von der Schule leistbaren Aufwand reintegriert werden könnte. In der Arbeit mit schulabsenten Jugendlichen ist es nun die maßgebliche Aufgabe alternativer Beschulungseinrichtungen, den ihnen anvertrauten Jugendlichen „Schule als sinnstiftende Institution zu vermitteln, ihre Lernmotivation zu fördern und sie somit erneut pädagogischen und erzieherischen Einflüssen zu öffnen“ (176).
Die Monografie bietet einen fundierten Einstieg sowohl für Forschende und Studierende als auch in der schulischen Praxis tätige Personen. Dabei ist es kein Praxishandbuch, das fertige Handlungskonzepte liefert, die nur noch angewendet werden müssten. Die Lektüre des vorliegenden Buchs ermöglicht den schulischen Akteuren ihre bisherige schulische Praxis dahingehend zu analysieren, was sie bereits leisten, um Schulabsentismus vorzubeugen und zu ermitteln, wo sie an einer Stärkung und Ergänzung der bisherigen Maßnahmen oder Konzepte arbeiten können.
EWR 16 (2017), Nr. 1 (Januar/Februar)
Schulabsentismus und Schulabbruch
Grundlagen – Diagnostik – Prävention
Reihe: Brennpunkt Schule
Reihe: Brennpunkt Schule
Stuttgart: Kohlhammer 2016
(206 S.; ISBN 978-3-17-029366-3; 29,00 EUR)
Sandra Seeliger (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sandra Seeliger: Rezension von: Ricking, Heinrich / Hagen, Tobias: Schulabsentismus und Schulabbruch, Grundlagen – Diagnostik – Prävention Reihe: Brennpunkt Schule. Stuttgart: Kohlhammer 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317029366.html
Sandra Seeliger: Rezension von: Ricking, Heinrich / Hagen, Tobias: Schulabsentismus und Schulabbruch, Grundlagen – Diagnostik – Prävention Reihe: Brennpunkt Schule. Stuttgart: Kohlhammer 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317029366.html