Unter dem Stichwort „Heterogenität“ wird schon seit längerem darüber diskutiert, wie die Pädagogik darauf reagieren kann bzw. reagieren sollte, dass sie es mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, die in äußerst unterschiedlichen kulturellen Kontexten aufgewachsen und durch diese geprägt sind. In der Interkulturellen Pädagogik ist inzwischen das Bewusstsein davon sehr ausgeprägt, wie groß die pädagogische Herausforderung angesichts dessen ist, dass diese kulturellen und religiösen Prägungen den Heranwachsenden nicht nur äußerlich sind, sondern auch konstitutiv für deren Identität sein können [1]. Die Schulpädagogik hingegen scheint diese Herausforderung noch kaum wahrgenommen zu haben, obwohl freilich auch sie vor ihr steht: Die kulturelle Heterogenität der Schülerschaft an deutschen Schulen ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten erheblich gestiegen – und diese Entwicklung wird sich gewiss aufgrund globaler Migrationsbewegungen in Zukunft weiter fortsetzen.
Gegenwärtig spitzt sich die pädagogische Herausforderung des Umgangs mit kultureller bzw. religiöser Heterogenität für die Schule angesichts dessen zu, dass einzelne Schülerinnen und Schüler sich in unterschiedlicher Weise auf jene radikale Spielart des Islam beziehen, die gemeinhin als „Islamismus“ bezeichnet wird. Darauf pädagogisch adäquat zu reagieren ist angesichts dessen äußerst dringlich, dass die Hinwendung zu dieser Variante des Islam Schülerinnen und Schüler dazu veranlassen kann, sich sowohl vom Elternhaus als auch von der Schule sowie von ihrer bisherigen peer group zu distanzieren und sich Gruppen anzuschließen, in denen Deutungsmuster zirkulieren, die einen „Heiligen Krieg“ mit Gewalt zu führen als religiöse Pflicht erscheinen lassen, und in denen ein moralischer Druck erzeugt wird, der in etlichen Fällen bereits dazu geführt hat, dass Heranwachsende meinten, sich an dem Konflikt in Syrien beteiligen zu müssen.
Die Schulpädagogik fängt jedoch gerade erst an, sich dieser Herausforderung zu stellen. Genauer gesagt, in der Praxis macht sie das schon seit längerem, auf der Ebene der Wissenschaft wird hingegen gerade erst damit begonnen, sich diesem Problem zu widmen – andere Dinge wie die Sicherung der Qualität des Unterrichts schienen bisher wichtiger zu sein [2].
Während bereits einige Publikationen vorliegen, die auf das Phänomen des Islamismus bzw. Salafismus im Allgemeinen eingehen [3] sowie auch solche, die dieses Phänomen unter pädagogischen Aspekten thematisieren [4], ist nun das erste Buch erschienen, das die Schule fokussiert und der Frage nachgeht, worin für diese die pädagogische Herausforderung besteht und wie sie darauf reagieren kann. Das kleine Bändchen trägt den Titel „Islamismus als pädagogische Herausforderung“ und stammt aus der Feder von Kurt Edler, der lange Zeit als Lehrer die Fächer Deutsch, Politik, Ethik und Philosophie unterrichtete, dann in die Lehrerbildung ging und zuletzt das Referat „Gesellschaft“ des Hamburger Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung leitete.
Der Autor bietet einen ersten kundigen Abriss über diese Problematik – einen Abriss, den kennzeichnet, dass die wesentlichen Themen, Probleme und Fragestellungen prägnant behandelt werden: Begonnen wird mit einer Bestimmung dessen, was „Islamismus“ ist. Diesen begreift Edler als „eine totalitäre politische Ideologie“ (13), die sich einer religiösen Sprache und Rhetorik bediene. Gemäß einem ihrer Vordenker, dem Ägypter Sayyid Qutb (1906-1966), eröffne er einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der in einen Gottesstaat münden solle. Damit aber stehe der Islamismus in einem Spannungsverhältnis zum Rechtsstaat und zur Demokratie – und im Widerspruch zu einer „offenen Gesellschaft“ (Popper). Dann kommt der Autor auf den Dschihadismus als spezielle Variante eines jugendlichen Lebensentwurfes zu sprechen. Dieser biete für Heranwachsende, wenn sie sich in einer Krise befinden (die z.B. einfach durch einen „Liebeskummer“ ausgelöst worden sein könne, doch auf einer tiefer liegenden Ebene in Orientierungslosigkeit bestehe, häufig vor dem Hintergrund einer gestörten oder nicht vorhandenen Vaterbeziehung, aber auch bereits die Form einer „Devianz-Karriere“ angenommen haben könne), eine Lösung an, die in eine „ideologische Nebenrealität“ (27) führe. Dabei würden Versatzstücke der Religion mit einem „Undergroundstil“ zu einer militanten Ideologie verbunden, wie etwa bei Denis Cuspert, der via Internet die Botschaft vermittle, dass, wenn ein Muslim im Westen zum Terroristen erklärt und von der Polizei gesucht werde, seine Frömmigkeit außer Frage stehe.
Auch geht der Autor auf typische Konflikte ein, die im pädagogischen Alltag an Schulen auftreten können, und gibt Hinweise zu der Frage, wie diese gelöst werden können. Die Beispiele sind bekannt: Konflikte um das Tragen bestimmter Kleidungsstücke, um Gebetszeiten und -räume in der Schule etc. Schließlich spricht er über jene Herausforderungen, die sich einzelnen Pädagogen im Umgang mit radikalisierten Schülerinnen und Schülern stellen können, sowie über die Anforderungen, auf die Schule als Institution reagieren muss. Ergänzt werden schließlich diese Darlegungen durch einen „Materialteil“, in dem sich Gesprächserinnerungen, kurze Fallbeispiele sowie „Werkzeuge“ befinden, wie mit Islamismus von Schülerinnen und Schülern in der Praxis umgegangen werden kann.
Kennzeichnend für die Ausführungen von Edler ist, dass sie erfahrungsgesättigt sind: Sie zeugen davon, dass der Autor bereits zahlreiche Gespräche mit radikalisierten Schülerinnen und Schülern geführt und mit Lehrerinnen und Lehrern über Maßnahmen – präventive sowie nicht präventive – diskutiert hat. Demjenigen, der in der Praxis bisher noch nicht mit der Herausforderung des Islamismus konfrontiert war, wird hier viel Neues geboten. Derjenige jedoch, für den das nicht gilt, erfährt wenig, was er nicht schon kennt, denn der Autor bietet eine Zusammenstellung von dem, was sich in der letzten Zeit in der Praxis mehr oder weniger bewährt hat. Das sind Methoden und Konzepte, die zum einen eine lange Tradition haben und von grundsätzlicher Bedeutung sind: Edler nennt „professionelle Standards“ wie die „Kontrolle der eigenen Gefühle, respektvoller Umgang, Analyse des Einzelfalles, taktvolle Motiv-Erkundung, Klärung einer möglichen Konfliktlage auf der Basis der Gesetze und der Hausordnung, angemessene Maßnahmen im Falle eines Regelverstoßes, aber bei allem das Intakthalten der pädagogischen Beziehung“ (35). Zum anderen sind es pädagogische Antworten, die in Reaktion auf die Herausforderung durch den politischen Extremismus, speziell den Rechtsextremismus, entwickelt wurden. Es ist mithin vor allem der Ansatz einer Demokratiepädagogik, für den der Autor plädiert: Dieser sei die angemessene Antwort auf die Herausforderung durch den Islamismus. Die Prämisse, auf die er sich dabei stützt, besteht darin, dass der Islamismus wie der Rechtsradikalismus als ein politisches Phänomen gesehen werden kann. Aber ist dem tatsächlich so?
Pragmatisch gesehen ist es durchaus sinnvoll und wohl auch notwendig, pädagogische Antworten, die in anderen Zusammenhängen entwickelt wurden, auf die Herausforderung des Islamismus zu übertragen. Für die Zukunft wäre es jedoch wichtig, stärker auf die Spezifik dieses Phänomens einzugehen. Und dafür könnte es hilfreich sein, die Diskussionen in anderen Disziplinen stärker zu berücksichtigen: In den Islamwissenschaften besteht keineswegs Konsens darüber, den Islamismus schlicht als eine politische Ideologie zu begreifen. Hier gibt es eine schon lang anhaltende Diskussion über die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik im Islam. Und diese ist keineswegs unwichtig für die pädagogische Praxis. Die Untersuchung von Unterricht, in dem über Themen gesprochen wird, die mit dem Islam zu tun haben, zeigt nämlich, dass es durchaus zu einem, wie Edler es im Anschluss an Huntington formuliert, clash of civilisations kommen kann. Und dies hängt damit zusammen, dass es nicht einfach ist, eine verbale oder nonverbale Äußerung, die von einer Schülerin oder einem Schülern gemacht wurde, angemessen zu verstehen, denn es stellen sich eine Reihe von Fragen: Ist sie spielerisch gemeint oder ernst? Gibt die Schülerin oder der Schüler mit ihr nur eine Affinität zum Islam zu erkennen oder identifiziert sie/er sich vollkommen mit ihm? Ist die Äußerung Ausdruck eines religiösen Bekenntnisses oder steht hinter ihr eine politische Ideologie? Kommt in ihr womöglich zum Ausdruck, dass die Schülerin oder der Schüler einen Kompromiss sucht zwischen den Anforderungen der eigenen religiösen oder kulturellen Tradition und den Ansprüchen der Schule bzw. denen der modernen Gesellschaft oder setzt sie/er erstere in einen Gegensatz zu letzteren? Ist sodann mit einer Äußerung die Erwartung verbunden, dass auch andere auf die gleiche Weise denken und handeln sollen? Steht hinter ihr womöglich das Projekt einer Islamisierung anderer Schülerinnen und Schüler, der Schule, der Gesellschaft?
Diese Fragen stellen sich Lehrerinnen und Lehrern in der Praxis immer häufiger. Hinzu kommt freilich, dass sie es mit Heranwachsenden zu tun zu haben, deren Entwicklung offen ist. Erforderlich ist folglich nicht nur, dass Lehrerinnen und Lehrer fachlich kompetent, d.h. ein Stück weit darüber informiert sind, wie der Islam unterschiedlich interpretiert werden kann, sondern auch offen sind für unterschiedliche Deutungen von Äußerungen ihrer Schülerinnen und Schüler, und dass sie nicht zuletzt dasjenige besitzen, was seit Johann Friedrich Herbart als „pädagogischer Takt“ bezeichnet wird: jene Zurückhaltung und Vorsicht gegenüber Schülerinnen und Schülern, die der Offenheit ihrer Entwicklung Rechnung trägt.
Wünschenswert wäre es, wenn es in Zukunft mehr islamwissenschaftlich informierte empirische Untersuchungen zu Schule und Unterricht gäbe. Zu erwarten ist nicht, dass diese Untersuchungen eindeutige Antworten auf die Frage liefern, wie mit der pädagogischen Herausforderung des Islamismus umzugehen ist, jedoch können sie für diese Herausforderung weiter sensibilisieren.
[1] Vgl. Mecheril, P.: Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim / Basel: Beltz 2004.
[2] Auf das Problem der Qualitätssicherung wurde mit dem Programm einer Standardisierung des Unterrichts geantwortet. Die kulturelle bzw. religiöse Heterogenität der Schülerschaft verlangt freilich genau das Gegenteil, nämlich die Fähigkeit, der Besonderheit der Schülerinnen und Schüler Rechnung zu tragen.
[3] Siehe z.B. Said, B. T. und Fouad, H. (Hg.): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam. 2. Auflage. Freiburg im Breisgau: Herder 2016.
[4] Siehe z.B.: Ceylan, R. / Kiefer, M.: Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention. Wiesbaden: Springer VS 2013; El-Gayar, W. / Strunk, K. (Hg.): Integration versus Salafismus. Identitätsfindung muslimischer Jugendlicher in Deutschland. Schwalbach / Taunus: Wochenschau 2014.
EWR 15 (2016), Nr. 2 (März/April)
Islamismus als pädagogische Herausforderung
Reihe: Brennpunkt Schule
Stuttgart: Kohlhammer 2015
(114 S.; ISBN 978-3-17-028444-9; 22,99 EUR)
Johannes Twardella (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Twardella: Rezension von: Edler, Kurt: Islamismus als pädagogische Herausforderung, Reihe: Brennpunkt Schule. Stuttgart: Kohlhammer 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317028444.html
Johannes Twardella: Rezension von: Edler, Kurt: Islamismus als pädagogische Herausforderung, Reihe: Brennpunkt Schule. Stuttgart: Kohlhammer 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317028444.html