
An dieser Positionierung erkennt man Schroeders wissenschaftliche Herkunft überdeutlich, nämlich eine Anschließung an Hillers Ansatz einer milieuspezifischen Bildung (einschließlich des Mentorenmodells und einer starken Orientierung an Alltagsvorbereitung und beruflicher Bildung auf Grundlage eines sozialräumlichen Bildungsverständnisses).
Das Buch ist grob in drei Bereiche gegliedert: Disziplin, Profession und Institution.
Im ersten Teil werden Probleme des Lernens im Kontext moderner Gesellschaften und prekären Lebenslagen thematisiert sowie Chancen einer entgrenzten Pädagogik und Probleme einer reduktionistischen und monistischen Didaktik benannt. Dem schließt sich der zweite Teil an, der zentrale Aufgabenfelder der Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens beschreibt: Eine sozial situierte Vermittlung von Kulturtechniken, Konzepte alltagsorientierter Bildung einschließlich einer Orientierung auf die Arbeitswelt. Das dritte Kapitel widmet sich unter der Überschrift „Institution“ schul-, sozial-, kinder-/jugend- und behindertenrechtlichen Grundlagen institutioneller Erziehung und Bildung um schließlich kommunale Bildungslandschaften und auch experimentelle Formen professioneller Praxis als adäquate Antworten auf prekäre Aufwachsbedingungen und Migrationsbewegungen vorzustellen.
Der milieutheoretisch verortete Ansatz Schroeders zieht sich dabei konsequent durch das ganze Buch: Lernbeeinträchtigung wird soziokulturell mit der Frage nach der historischen und institutionellen Erzeugung von Lernproblemen verknüpft und hier normative Erwartungen insbesondere an Schriftlichkeit mit Ansätzen einer milieuspezifischen und im Sozialraum situierten Bildung konfrontiert. Mit bildungsstatistischen Verweisen auf das zunehmend Ausschluss produzierende mehr oder weniger zweigliedrige Sekundarschulwesen begründet Schroeder letztendlich die Notwendigkeit einer Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens (148ff). Diese zeichne sich nicht nur durch multimodale didaktische Zugänge aus, sondern auch durch verschiedene institutionelle Vermittlungsformen (von lehrgangsförmigen Trainings über Unterrichtseinheiten hin zu spiel- und projektförmigen Zugängen (84f)).
Schmunzeln muss man schon, wenn Schroeder hier implizit nicht nur einer dezidierten „Sonder-“ Pädagogik das Wort redet, sondern ihm auch so manche inklusionspädagogische Formel durchgeht („Integrations- und Haltekraft der inklusiven Schule“ (149)), denn schließlich war und ist Schroeder ein Vertreter einer „Pädagogik von unten“, die sich von Marginalisierung aus denkt und bürgerliche Bildungskonzepte als Zementierung der „feinen Unterschiede“ (Bourdieu) als prima facie exkludierende betrachtet und somit Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens „als kritisches Korrektiv der hegemonialen „Buchschule“ entwirft“ (90). Insofern ist es nur konsequent (und hochaktuell), auch transnationale Entwicklungen unter der Fragestellung sozialer Ungleichheit mit in den Fokus zu nehmen.
Haben wir hier einen alten und neuen Hiller? Ich würde sagen ja, aber das nicht zum Schaden, sondern zum Gewinn und zur Erneuerung einer wichtigen Perspektive für das Fach Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens, das in der bildungspolitischen Debatte um Auflösung der Schulen mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ langsam ihren Fokus zu verlieren droht. Hier fällt einem Wolfgang Jantzen wieder ein, der einmal schrieb, dass mit der Abschaffung des Behinderungsbegriffes nicht automatisch auch das Problem verschwinde – aber mit Schroeder müsste man hinzufügen – welches Problem? Denn hier wird Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens weniger als ein Problem des akademischen Achievements, sondern als Problem sozialer Ausschließungsprozesse im Kontext von institutioneller Bildung entworfen. Und zugegebener Maßen ist es Joachim Schroeder wohl nicht sehr wichtig, wie genau die Disziplin zu bezeichnen ist, die sich diesen Fragen stellt, insofern hat er sich einleitend auch eher unscharf als erziehungswissenschaftlich positioniert.
Das gut leserliche und schlüssig argumentierende Buch ist ein interessantes Einführungswerk, das sich in Bezug auf Inhalt, Form und Diktion in erster Linie an Studierende adressiert (erkennbar auch an den sicherlich vom Verlag eingeforderten Merksätzen, illustrierenden Textauszügen und Fallbeispielen). Insofern hätte es vielleicht auch eher in eine Einführungsreihe gehört, weil es sich als Kompendium doch sehr stark positioniert.
Kritisch ist lediglich anzumerken, dass Joachim Schroeder zwar im historischen Teil auch auf die Tradition eines sozialhistorischen Verständnisses von „Lernbehinderung“ innerhalb der Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens, wie das Fach inzwischen heißt, verweist, diese aber nicht konsequent als Strang des Faches ausweist und somit auch nicht ausreichend deutlich macht, dass er hier die Tradition Hillers fortschreibt.