EWR 19 (2020), Nr. 2 (März / April)

Heinrich Tröster
Diagnostik in schulischen Handlungsfeldern
Methoden, Konzepte, praktische Ansätze
Stuttgart: Kohlhammer 2019
(359 S.; ISBN 978-3-17-025148-9; 39,00 EUR)
Diagnostik in schulischen Handlungsfeldern Das umfangreiche Werk umfasst 359 Seiten mit 10 Kapiteln, die unterschiedlich stark gewichtet sind. Nach einer knappen Skizzierung der Aufgaben der Diagnostik in schulischen Handlungsfeldern im Kontext von Heterogenität geht es um Beobachten und Beurteilen, schulische Leistungsbeurteilung, diagnostische Kompetenz von Lehrkräften, Intelligenz und -diagnostik, schulisches Selbstkonzept, Lernstrategien und selbstgesteuertes Lernen.

Im 1. Kapitel wird thematisiert, dass die Herausforderungen angesichts heterogener Lernvoraussetzungen nicht neu sind (Herbart 1808, S.453) (13). Auch noch heute prägen Vorstellungen vom „imaginären Durchschnittsschüler“ und „Mittelköpfen“ (15) Konzepte von Unterricht in homogenen Lerngruppen. Mit dem Anspruch einer Pädagogik der Vielfalt (14) sollen kompensatorische und remediale Strategien dazu beitragen, heterogene Lernvoraussetzungen zu berücksichtigen und einen differenzierenden, individualisierenden Unterricht adaptiv zu gestalten.

Das 2. Kapitel stellt Methoden und Ansätze zur systematischen Verhaltensbeobachtung vor. Nach Methoden der Verhaltensregistrierung durch Zeichen- und Kategoriensysteme und Ratingskalen werden mögliche Beurteilungsfehler durch Urteilstendenzen der Beobachter, Halo- und Positionseffekte mit schulrelevanten Beispielen veranschaulicht.

In Kapitel 3 werden die konzeptionellen und methodischen Grundlagen psychometrischer Tests vorgestellt: „Arten psychologischer Tests, Schulleistungsstests, Gütekriterien, klassische Testtheorie und Normierungen. Ansätze zur Sicherung von Testfairness werden in einem extra Punkt begründet, was zum Verständnis von länder- und kulturübergreifenden Vergleichen schulischer Kompetenzen bedeutsam ist (111).

Kapitel 4 beleuchtet Funktionen, Kriterien, Auswirkungen und Routinen schulischer Leistungsbeurteilung. Tröster skizziert die Spannung zwischen Leistungs- versus Lernprozessdiagnostik, expliziten und impliziten Beurteilungsprozessen, formellen und informellen Verfahren, individuellen und sachlichen oder sozialen Bezugsnormen. Wendet man psychometrische Standards auf die Qualität der Benotung von Schulleistungen (140) an, so ergeben sich Kritikpunkte an der Zensurengebung.

Diagnostische Kompetenz von Lehrkräften wird in 5. Kapitel als Voraussetzung für eine adaptive Unterrichtsgestaltung und individuelle Förderung im Hinblick auf folgende Bereiche betrachtet (156): Beurteilung der individuellen Lernergebnisse und -prozesse, schulischen Lernvoraussetzungen, -angebote und -materialien. Es werden empirische Befunde vorgestellt, die erweiterte Konzepte der diagnostischen Expertise von Lehrkräften unter komplexen Praxisbedingungen erfordern.

Kapitel 6 betrachtet Intelligenz und -diagnostik, wie sie in der Regel von Schulpsychologen und -beratern durchgeführt wird, im Zusammenhang mit Schullaufbahnberatung, Hochbegabung, Lernstörungen und Verhaltensproblemen. Das Konstrukt Intelligenz wird ausführlich durch verschiedene Modelle veranschaulicht. Intelligenz kann als kognitives Grundpotential gesehen werden, das unterschiedlich ausgeschöpft je nach individuellen Lernvoraussetzungen, -gelegenheiten und -bedingungen (210).

In Kapitel 7 „Lern- und Leistungsmotivation“ geht es um hypothetische Konstrukte wie intrinsische und extrinsische Lernmotivation, Selbstbestimmungstheorie und die Diagnostik motivationaler Verhaltensregulation, z. B. mit Skalen zur akademischen Selbstregulation von Schülerinnen und Schülern (224). Mit projektiven Verfahren und Fragebögen z. B. zur Leistungsmotivation (FLM) von Petermann & Winkel (2007) kann das Leistungsmotiv gemessen werden und so können Bezüge zu Schulleistungen aufgeklärt werden (252). Der Fragebogen zur Erfassung aktueller Motivation (FAM) von Rheinberg, Vollmeyer & Bruns (2001) fokussiert die Wechselwirkung zwischen dem Leistungsmotiv und dem Anregungsgehalt einer Situation (251).

Die Diagnostik motivationaler Zielorientierungen in Kapitel 8 bietet Erklärungsansätze dafür, wenn junge Menschen ihr Leistungspotenzial nicht ausschöpfen, Anstrengungen vermeiden, Arbeiten verweigern und Kompetenzdefizite verbergen. Skalen zur Erfassung von Zielorientierungen bei Schülerinnen und Schülern z. B. von Köller & Baumert (1998) und zur Erfassung der Lern- und Leistungsmotivation von Spinath u. a. (2002) bieten hilfreiche Erklärungsmodelle. In diesem Kapitel verdichtet sich viel Erfahrung aus der Rehabilitationspsychologie.

Im 9. Kapitel geht es um das schulische Selbstkonzept: Vorgestellt werden Skalen zur Erfassung des schulischen Selbstkonzepts (SESSKO) von Schöne, Dickhäuser, Spinath & Stiensmeer-Pelster (2002) für Schülerinnen und Schüler der 4. bis 10. Klassenstufe, das differentielle schulische Selbstkonzept-Gitter (DISK-Gitter) von Rost et al. (2007) für die 7. bis 10. Klassenstufe an Realschulen und Gymnasien sowie die Frankfurter Selbstkonzeptskalen (FSKN) von Deusinger (1986), die klinische Fragestellungen betreffen und aus zehn Skalen bestehen (297).

Das letzte Kapitel widmet sich den Lernstrategien und dem selbstgesteuerten Lernen. Auf der Grundlage einer Taxonomie von Lernstrategien werden Kognition, Metakognition, Ressourcen und emotional-motivationale Stützstrategien in den Blick genommen und mit Beispielen veranschaulicht. Drei standardisierte Tests richten sich an verschiedene Altersgruppen: In der Grundschule einsetzbar ist der Selbstregulations-Strategietest für Kinder (SRST-K) von Kuhl & Christ (1993). Das Lern- und Arbeitsinventar (LAVI) von Keller & Thiel (1998) gilt für Schülerinnen und Schüler der 5. bis 10. Klasse und erfasst Arbeitshaltung, Stressbewältigung und Lerntechnik. Das Arbeitsverhaltensinventar (AVI) von Thiel, Keller & Binder (1979) ist konzipiert für Schülerinnen und Schüler ab der 10. Klasse. Studierende können das Inventar zur Erfassung von Lernstrategien im Studium (List) von Wild & Schiefele (1994) nutzen. Weitere Fragebögen dienen der Selbsteinschätzung, z.B. „Wie lernst du?“ (Lompscher 1996). Der Fragebogen zielt auf Textverstehen, unterrichtliches Kommunizieren, Problemlösen, Organisieren der eigenen Lerntätigkeit, Einprägen/Reproduzieren und Kooperieren beim Lernen (327). Souvignier und Gold entwickelten 2004 „Wie lernen Sie“? zur Erfassung von Lernstrategien in der Oberstufe. Weitere diagnostische Ansätze zur Erfassung von Lernstrategien sind direkte Befragungen, Beobachtungen des Lern- und Arbeitsverhaltens und Lerntagebücher (331).

Das Lehrbuch ist übersichtlich strukturiert mit zweispaltigem Layout und lernerfreundlich gestaltet mit Schaubildern zu Denkmodellen und mit gerahmten Kästen für Schlüsselbegriffe. Das erleichtert das Querlesen und die Suche nach Definitionen. Zusätzlich zum Inhaltsverzeichnis steht vor jedem Kapitel die ausführliche Gliederung, die jeweils drei Ebenen umfasst und mit weiterführenden Literaturhinweisen endet. Das Lehrbuch ermöglicht einen guten Überblick zu psychologischen Theorien in Zusammenhang mit diagnostischen Fragestellungen in Unterricht und Schule. Das Werk bietet somit vielfältige Anregungen für Studierende und Lehrende in der ersten und zweiten Phase der Lehrerbildung, Schulpsychologen und für Lehrkräfte an Förder- und Regelschulen im Kontext von Inklusion.
Offen bleibt die Frage, unter welchen schulischen Bedingungen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen welche diagnostischen Verfahren im schulischen Handlungsfeld eingesetzt werden können und wie sich das auf die Optimierung von schulischem Lernen im Unterricht auswirken kann.
Marianne Wiedenmann (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marianne Wiedenmann: Rezension von: Tröster, Heinrich: Diagnostik in schulischen Handlungsfeldern, Methoden, Konzepte, praktische Ansätze. Stuttgart: Kohlhammer 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.05.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317025148.html