EWR 16 (2017), Nr. 3 (Mai/Juni)

Erhard Fischer / Reinhard Markowetz (Hrsg.)
Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
Reihe: Inklusion in Schule und Gesellschaft, Band 6
Stuttgart: Kohlhammer 2016
(340 Seiten; ISBN 978-3-17-024247-0; 40,00 EUR)
Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Inklusion hat nach wie vor Konjunktur – als Thema sozial- und bildungspolitischer Reformbestrebungen und Debatten, aber auch als Gegenstand theoretischer Beschäftigung aus dem Blickwinkel unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen. Obgleich Behinderung nur eine von vielen Differenzlinien darstellt und Inklusion als Leitidee grundsätzlich alle gesellschaftlichen Felder berührt, kristallisiert sich die Auseinandersetzung immer noch stark an Fragen der schulischen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. Dabei greifen normativ aufgeladene bildungspolitische Diskussionen, institutions- und professionsbezogene Legitimationsfragen, konzeptionelle Überlegungen und auch empirische und begrifflich-analytische Zugänge ineinander, so dass man insgesamt von einer recht unübersichtlichen Gemengelage sprechen kann. Dies zeigt sich auch in einer großen Bandbreite an Veröffentlichungen zu schulischer Inklusion mit sehr unterschiedlicher Schwerpunktsetzung im Schnittfeld von Theorie und Praxis.

Idee der Buchreihe „Inklusion in Schule und Gesellschaft“ ist es, schulische Inklusion aus Perspektive der verschiedenen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte zu thematisieren. Auch wenn ein solcher Ordnungsversuch entlang historisch gewachsener, kontingenter Fachrichtungskategorien im Kontext der aktuell geführten Diskussion um Dekategorisierung einerseits hinterfragt werden kann, erscheint ein solcher Zuschnitt andererseits sinnvoll, um Teilhabemöglichkeiten einzelner Personengruppen fokussierter beleuchten und aktuelle bildungspolitische Tendenzen einer ‚geteilten Inklusion‘ kritisch reflektieren zu können.

Der Verweis auf das unteilbare Recht auf Inklusion bildet auch Motiv und Ausgangspunkt des Sammelbandes zur Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, dessen Anspruch es ist, Fragen der Umsetzung schulischer Inklusion im Hinblick auf den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung nachzugehen und in diesem Zusammenhang konkrete Anforderungen an die Schul- und Unterrichtsgestaltung zu identifizieren. In insgesamt zehn Einzelbeiträgen werden hierzu verschiedene Aspekte beleuchtet.

Den Auftakt bilden zwei Beiträge, die sich grundlegender mit Fragen der schulischen Teilhabe dieses Personenkreises auseinandersetzen:

Der Einleitungsbeitrag von Erhard Fischer und Reinhard Markowetz kann als kritische Bestandsaufnahme zur aktuellen bildungspolitischen Umsetzung schulischer Inklusion aus Perspektive der Geistigbehindertenpädagogik gelesen werden: Ausgehend von einer Skizzierung historischer Entwicklungslinien exklusiver und integrativen bzw. inklusiver schulischer Angebote für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung verweisen die Autoren auf die Kluft zwischen dem in der UN-Behindertenrechtskonvention formulierten Inklusionsanspruch und der gegenwärtigen Praxis schulischer Inklusion, in der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung mit ihren spezifischen Lernvoraussetzungen bislang kaum berücksichtigt würden.

Georg Feuser problematisiert ausgehend von einer autobiographischen Beschreibung die mit der Kategorisierung ‚Behinderung des Geistes‘ einhergehende Negierung der Vernunftfähigkeit des Gegenübers, durch die das Subjekt als ‚anderer Anderer‘ etikettiert und sozial exkludiert werde.

Zwei Beiträge des Sammelbandes geben einen hilfreichen Überblick zum empirischen Forschungsstand zum inklusiven Unterricht mit Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, zum einen im Hinblick auf soziale Inklusion (Holger Preiß), zum anderen bezogen auf Schulleistungsentwicklung (Christoph Ratz). Dabei verweisen die Autoren auch auf grundlegende forschungsmethodische Probleme.

Ein besonderer Schwerpunkt des Sammelbandes liegt auf den in der Inklusionsdebatte nach wie vor eher vernachlässigten didaktischen Fragen:

Erhard Fischer leitet aus einer Charakterisierung der besonderen Entwicklungs- und Lernausgangslagen von Kindern und Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung „Mindeststandards einer bedarfsgerechten schulischen Bildung und Erziehung“ (97) ab.

Im Beitrag von Reinhard Markowetz wird die didaktische Frage als unterrichtsorganisatorische Aufgabe, inklusive und exklusive Lernsituationen in heterogenen Lerngruppen auszubalancieren, gefasst. Um auch dem Bildungsanspruch von Schülerinnen und Schülern mit geistiger Behinderung im inklusiven Unterricht angemessen Rechnung tragen zu können, fordert er eine gleichberechtigte Verzahnung der unterschiedlichen Bildungspläne.

Karin Terfloth fokussiert, illustriert anhand eines Fallbeispiels, Fragen der unterrichtlichen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung. Aus systemtheoretischer Perspektive und auf Grundlage einer kritischen Analyse der Inklusions- und Exklusionsprozesse auf verschiedenen Ebenen des Sozialsystems entwirft sie Perspektiven für das pädagogische bzw. didaktisch-methodische Handeln.

Weitere Beiträge gehen Fragen der Organisationsentwicklung nach:

Hans-Jürgen Pitsch und Ingeborg Thümmel fragen nach dem Anforderungsprofil an Unterrichtende im inklusiven Unterricht. Sie greifen dabei ausgehend von einem stark lerntheoretisch fundierten Unterrichtsverständnis tradierte Prinzipien der Unterrichtsgestaltung im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung auf und betonen deren Anschlussfähigkeit, in dem sie nach Parallelen zu den Implikationen aus der Metaanalyse John Hatties zu wirkmächtigen Faktoren für schulischen Lernerfolg suchen.

Ingeborg Thümmel gibt einen informativen Überblick über unterschiedliche Organisationsformen schulischer Inklusion und formuliert Ansprüche an strukturelle und organisatorische Rahmenbedingungen aus Perspektive des Förderschwerpunkts. Dieser Beitrag wird ergänzt durch die international vergleichende Betrachtung inklusiver Beschulungspraxis von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Deutschland (bzw. Bayern), Südtirol, Österreich und der Schweiz.

Der Band gibt in der Gesamtschau einen guten Überblick über konkrete Umsetzungsfragen schulischer Inklusion unter Berücksichtigung von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Die Beiträge machen dabei auf ‚blinde Flecken‘ in der Diskussion um schulische Inklusion aufmerksam und geben damit insbesondere für die schulische Praxis und die weitere inklusive Schulentwicklung wichtige Hinweise.

Fragen schulischer Inklusion werden in dem vorliegenden Band vornehmlich aus dem Blickwinkel der aktuellen sonderpädagogischen Praxis in ‚exklusiven‘ schulischen Settings im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung heraus bearbeitet. Ein solcher Zugang ist vor dem Hintergrund der schulstrukturellen Realität historisch und in Zusammenhang mit aktuellen bildungspolitischen Fragen auch argumentativ nachvollziehbar. Allerdings führt eine solche Transferlogik an einigen Stellen auch zu ‚blinden Flecken‘ in der eigenen Auseinandersetzung mit Fragen schulischer Inklusion, beispielsweise im Hinblick auf die – auch im Unterricht an Förderschulen – nach wie vor unbefriedigt beantworteten (fach-)didaktischen Fragestellungen oder auch hinsichtlich der Teamkooperation und des professionellen Selbst- und Aufgabenverständnisses von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen in inklusiven Settings. Nichtsdestotrotz leistet der Sammelband einen wichtigen Beitrag in der aktuellen Debatte zur inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung und ist insofern zur Lektüre zu empfehlen.
Judith Riegert (Hannover)
Zur Zitierweise der Rezension:
Judith Riegert: Rezension von: Fischer, Erhard / Markowetz, Reinhard (Hg.): Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, Reihe: Inklusion in Schule und Gesellschaft, Band 6. Stuttgart: Kohlhammer 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317024247.html