Dem lebensgeschichtlichen Verstehen verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher kommt in der Pädagogik bei Verhaltensstörungen schon immer ein hoher Stellenwert zu. Darauf verweist unter anderem die psychoanalytische Tradition dieser sonderpädagogischen Teildisziplin. Neben dem Bemühen um Verstehen lässt sich, nicht als Antipoden, sondern in gleichwertiger Ergänzung das Bemühen um Erklärungen von Verhaltensstörungen stellen. Dem Paradigma des Erklärens mag in jüngster Zeit vermehrt Aufmerksamkeit zugekommen sein – insbesondere aufgrund der Zunahme evidenzbasierter Forschung sowie einer Ausweitung empirischer Fragestellungen, was nicht zuletzt durch die Herausforderungen, die mit der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung entstanden sind, erklärt werden könnte.
Umso begrüßenswerter ist es, dass Christian Wevelsiep mit seinem Buch „Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen“ das Anliegen vertritt, einen Perspektivwechsel von einer individualisierenden hin zu einer verstehenden Sichtweise von Kindern und Jugendlichen mit emotionalem und sozialem Förderbedarf zu vollziehen, und so dem in letzter Zeit zu Unrecht ein wenig in Bedrängnis geraten zu sein scheinenden Paradigma des Verstehens Gehör verschaffen möchte. Wevelsiep gliedert sein Buch dazu in drei große Abschnitte. Im ersten Abschnitt werden Grundfragen der Disziplin in den Mittelpunkt gerückt: Geschichtliches Herkommen und anthropologische Grundfragen des Faches werden hier ebenso thematisiert wie pädagogische Formen der Hilfe zur Erziehung, aber auch die von Wevelsiep als „Sinngestalten“ bezeichneten Aufgaben des Beratens, Förderns, Erziehens und Intervenierens sowie pädagogische Professionalität und inklusive Pädagogik. Befasst sich der erste Abschnitt demnach stärker mit der Teildisziplin der Pädagogik bei Verhaltensstörungen selbst, so widmet sich der zweite Teil stärker Grundfragen der Profession mit Blick auf Handlungsbedingungen und -perspektiven. Neben einem Kapitel zur Diagnostik und zum Begriff der Störung geht es Wevelsiep hier vor allem um die Frage, wie sich eine professionelle Einheit für die angesprochenen Kinder und Jugendlichen erzielen lässt und was dies für ein entsprechendes Erziehungsverständnis bedeuten könnte. Der dritte Abschnitt wendet sich unter der Überschrift der „Lebenslauforientierung“ institutionellen und organisatorischen Aspekten zu: Wevelsiep stellt sich hier Fragen der Moderne und ihren Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche ebenso wie der „Schule als krankmachende Institution“ (Kapitel 3) und deckt die Zwiespältigkeit hinsichtlich des Präventionsgedankens auf.
Wevelsiep tritt als engagierter Autor für das Fach wie auch für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten auf. Dies macht nicht nur sein Bemühen um die „Anerkennung einer besonderen Disziplin“ (Kapitel 5) am Ende des Buches deutlich, sondern auch das pädagogische Anliegen, welches sein Buch durchzieht. Es ist spürbar, dass Wevelsiep als Wissenschaftler vor dem Hintergrund seiner konkreten schulischen Erfahrungen als Lehrer an einer Förderschule zur emotionalen und sozialen Entwicklung schreibt – und man ist ihm dankbar dafür. Musste sich anwaltschaftliches Schreiben und Handeln doch im Zuge der Diskussion um Inklusion zuletzt immer wieder auch Paternalismusvorwürfen erwehren. Wevelsiep weist deutlich auf die biografischen Verletzungen und akuten Vulnerabilitäten der Kinder und Jugendlichen mit emotionalem und sozialem Förderbedarf hin und führt hier tatsächlich von personenorientieren Zuschreibungen hin zu einer verstehenden Perspektive, wenn er von der „Verletzbarkeit der sozialen Bezüge“ spricht. Dass er hierfür die Geschichte dieser sonderpädagogischen Teildisziplin an den Beginn seines Buches stellt, um Zuschreibungen aufzeigen und die Notwendigkeit der Überwindung dieser fordern zu können, ist angemessen; allerdings wären die Überlegungen auch ohne einen größeren geschichtlichen Abriss nachvollziehbar, nicht zuletzt, da diese Aspekte differenziert in der von Roland Stein und Norbert Myschker kürzlich völlig überarbeiten und aktualisierten Ausgabe des Klassikers „Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen“ [1] nachzulesen sind und sich auch in anderen Überblickswerken finden. Auch manch anderes Unterkapitel erscheint hier eher formal und bringt neben einigen Akzentuierungen nichts wesentlich Neues. Hier wäre deutlich mehr Raum für die anthropologische Fundierung dieses Buches gewesen, die leider recht kurz ausfällt und doch für das formulierte Anliegen so notwendig wäre. Wevelsiep verpasst hier die Chance, den nur von Schmid in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts vorgenommenen Versuch, „Verhaltensstörungen aus anthropologischer Sicht“ darzustellen, in das 21. Jahrhundert zu überführen. Statt der Beratung ein eigenes Kapitel zu widmen, wäre es konsequenter gewesen, wenn die von Wevelsiep als „anthropologisches Fundament“ bezeichnete Erziehung vertieft diskutiert worden wäre. Hinzu kommt: eine verstehende Perspektive kann die Pädagogik bei Verhaltensstörungen heute ehrlicherweise nur einnehmen, weil sie auch psychoanalytische Wurzeln hat. Dieser wichtige Aspekt fehlt gänzlich.
Auch im zweiten Teil des Buches setzt sich das Anliegen Wevelsieps fort, bei allen pädagogischen Techniken und effektiven Maßnahmen die Rolle des Erziehers und der Erzieherin als verstehende Person in ihrer Bedeutung für die Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen mit emotional-sozialem Förderbedarf nicht zu vergessen. Umso mehr erstaunt, dass der Auseinandersetzung rund um Diagnostik und Störungsbild, und damit einer eher auf das Individuum zentrierten Perspektive, so viel Platz eingeräumt wird. Das Phänomen des Verstehens in seiner ganzen Problematik und Herausforderung, aber auch in seiner durchaus vorhandenen geisteswissenschaftlichen und psychoanalytischen Tradition selbst wird weder aufgegriffen noch diskutiert. Dagegen wird der humanistischen Psychologie und der lernpsychologischen Perspektive im Zusammenhang mit dem Problem einer professionellen Einheit erstaunlich viel Raum geboten.
Der dritte Teil des Buches hilft durchaus nachzuvollziehen, dass sich rein personenorientierte Sichtweisen von Verhaltensstörungen angesichts gesellschaftlicher Komplexität und schulischer Realitäten verbieten. Dieser, der kürzeste Teil des Buches ist soziologisch geprägt, liefert aber inhaltlich keine substanziell neuen Gedanken, auch wenn man Wevelsieps Forderung zur Anerkennung einer besonderen Disziplin zustimmen mag.
Insgesamt fällt auf, dass die Bezüge zu aktuellerer Fachliteratur eher spärlich ausfallen. Nicht zuletzt erstaunt der Titel: Ein Buch, das so pädagogisch verstanden werden will wie dieses, hätte zu bedenken, dass der Begriff der „Entwicklungsstörungen“ zum einen stark psychologisch gefärbt ist und zum anderen besonders die individualisierende Perspektive betont, von der dieses Buch sich doch gerade abheben will. Wevelsiep schneidet in seinem Buch viele pädagogisch bedeutsame Aspekte an, die wieder deutlich mehr in den Fokus der Fachdiskussionen rücken müssten: Nähe und Distanz, Macht und Ohnmacht, Vulnerabilität und Autonomie und vieles mehr. An etlichen Stellen wünschte man sich, dass das Buch die Leserschaft stärker in eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen Inhalten führte. Will man jedoch einen Überblick oder eine erste Orientierung in diesen Themenfeldern gewinnen, so lohnt Wevelsieps Buch mit Sicherheit.
[1] Myschker, N. / Stein, R.: Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Erscheinungsformen – Ursachen – Hilfreiche Maßnahmen. Stuttgart: Kohlhammer 2014.
EWR 15 (2016), Nr. 2 (März/April)
Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen
Kompendium Behindertenpädagogik
Stuttgart: Kohlhammer 2015
(214 S.; ISBN 978-3-17-023435-2; 32,99 EUR)
Thomas Müller (Würzburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thomas Müller: Rezension von: Wevelsiep, Christian: Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen, Kompendium Behindertenpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317023435.html
Thomas Müller: Rezension von: Wevelsiep, Christian: Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen, Kompendium Behindertenpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317023435.html