EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)

Ludwig Liegle
Frühpädagogik
Erziehung und Bildung kleiner Kinder. Ein dialogischer Ansatz
Stuttgart: Kohlhammer 2013
(172 S.; ISBN 978-3-17-022480-3; 24,00 EUR)
Frühpädagogik Das hier zu besprechende Buch gehört zu einer Reihe von jüngeren Veröffentlichungen Liegles, die allesamt darauf zielen, die Frühpädagogik konzeptuell zu konsolidieren, ihre Traditionen lebendig zu erhalten und ihre grundlegenden Wissensbestände zu sichern [1]. Es handelt sich bei diesem Buch aber nicht um einen Beitrag zur Theorie der Frühpädagogik. Diese ist Desiderat; m. W. haben im deutschsprachigen Raum zuletzt Gunnar Heinsohn und Barbara M.C. Knieper 1977 einen entsprechenden Versuch dazu vorgelegt [2]. Liegles Buch enthält vielmehr einen konzeptionellen Ansatz. Er basiert auf einem pragmatisch-hermeneutischen Begriff der Erziehungswirklichkeit, der Frühpädagogik als eine Aufgabe begreift, die wissenschaftlich zu klären ist und in deren Horizont Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen ihre Arbeit als eine pädagogische Praxis beobachten und reflektieren.

Macht man sich diesen Ansatz klar, dann lässt sich auch ohne Enttäuschung quittieren, wovon in diesem Buch nicht die Rede ist: Das Buch legt Begründungen dar, auf die pädagogische Akteure bei dem Versuch zurückgreifen können, ihre pädagogische Aufgabe zu erfüllen. Es handelt aber nicht davon, wie sich die Aufgabe der Frühpädagogik konstituiert, sondern setzt diese Aufgabe voraus und interpretiert sie. Es spricht auch nicht von der Praxis der Programme, also davon, inwieweit es gelingt oder gelingen kann, das frühpädagogische Feld in eine pädagogische Wirklichkeit zu verwandeln.

Diese Feststellung hilft, die Stärken dieses Buches genauer zu erkennen. Denn es ist alles andere als eine wuchtige Programmatik oder gar ein Katalog von Wünschen und Ansprüchen. Vielmehr führt es unausgesprochen eine Auseinandersetzung mit einer Politik (im Sinne von „politics“) der Betreuung und Bildung, welche „die Gesetzmäßigkeiten verfehlt, die nachhaltigen Bildungsprozessen zugrunde liegen“ (142). Liegle konstatiert eine Krise der Frühpädagogik, zum einen verursacht durch die beharrliche Weigerung der nationalen Entscheidungsinstanzen, bei der Gestaltung der materiellen Rahmenbedingungen institutioneller Betreuung und Bildung pädagogischen Argumenten (153) zu folgen. Zum anderen hat die Wissenschaft von der Pädagogik der frühen Kindheit den supranationalen politics of early childhood education and care, die einer Vorstellung von Pädagogik als Vermittlungstechnologie des „Beibringens“ von Wissen und der „Übertragung“ von Werten (142) folgen, wenig entgegenzusetzen. Liegles Plädoyer für „zufälliges Lernen“ (154) und für eine Didaktik indirekter Erziehung ist vor diesem Hintergrund eine Provokation der herrschenden Politik früher Bildung und ihrer wissenschaftlichen Parteigänger. Es beruht auf der Einsicht, das Wissen eben nicht übermittelt werden kann, sondern von jedem Lerner und jeder Lernerin re-konstruiert werden muss, und dass Lernen nicht lediglich ein kognitiver, sondern auch ein sozial-emotionaler Vorgang ist. Zufälliges Lernen ist alles andere als beliebig und unberechenbar, sondern selbstgesteuert: Darin besteht die bildungspolitische Pointe der Provokation.

Der Argumentationsgang des Buches entfaltet seine Konzeption der Erziehung und Bildung kleiner Kinder in fünf Kapiteln:

Das erste Kapitel skizziert eine pädagogische Anthropologie, die Liegle in Anlehnung vor allem an Rogoff und Tomasello als Theorie der kulturellen Natur des Kindes entwirft. Sie formuliert das Bezugsproblem, den Gegenstand der Frühpädagogik (32): das Verhältnis von Entwicklung und Erziehung/Bildung. Der anthropologische Ansatz verweist die Frühpädagogik auf ein Kind, dessen Natur der Pädagogik ihre Aufgabe gleichsam vorzeichnet. Als kulturelle Natur verdankt sie sich einer biologisch-sozialen Ko-Evolution, die ein immer angemesseneres Verständnis von Bedürfnissen und Potentialen des Kindes in pädagogischen Institutionen vergegenständlicht. Als Entwicklungswesen sind Kinder – mit einer Formulierung Pestalozzis – ein Werk der Natur, der Gesellschaft und ihrer selbst.

Das zweite Kapitel behandelt gleichsam die operative Ebene dieser biologisch-kulturellen Evolution, indem es Bildung, Lernen, Sozialisation und Erziehung, einschließlich Betreuung, als Facetten eines den Lebenslauf begleitenden Beziehungsgeschehens (44) einführt. Dieses Konzept ist zentral für den konzeptionellen Ansatz. Es strukturiert den Gegenstandsbereich der Frühpädagogik. Wenn Liegle Erziehung, Bildung, Lernen und Sozialisation als Aspekte eines Beziehungsgeschehens bestimmt, grenzt er sie von einem erzieherzentrierten Missverständnis ab. Dabei bleiben sie zurückgebunden an die menschliche Entwicklung als Voraussetzung und Ziel (45) und stehen zu ihr in einem Verhältnis der Entwicklungsangemessenheit (48). Das Konzept kulminiert in der „Aufforderung zur Selbsttätigkeit/Bildung“ (58ff) als pädagogischer Aufgabe.

Das dritte Kapitel konkretisiert die Erziehung in Beziehungen als Erziehung in Generationenbeziehungen und sozialen Kontext des Lebenslauf begleitenden Beziehungsgeschehens. Generationenbeziehungen sind für Liegles Ansatz einer Pädagogik der frühen Kindheit vor allem deshalb so wichtig, weil sie auf ein Drittes verweisen, auf ein „Zwischen“, das der dialogischen Gestaltung bedarf. „Die Kategorie des ‚Zwischen‘ vereinigt in sich, wie ein Prisma, die Brennpunkte meiner Konzeption der Frühpädagogik: Sie beschreibt die Prozesse der Erziehung und Bildung als Beziehungsgeschehen, … das auf Gegenseitigkeit bzw. Wechselseitigkeit beruht; eines, das jede direkte Übertragung, Vermittlung, Belehrung oder anderweitige direkte und nur in einer Richtung – vom Erwachsenen zum Kind – verlaufende Beeinflussung ausschließt; und eines, das – wie alle soziale Praxis intensiver und dauerhafter Beziehungen – auf Ambivalenz bzw. Mehrdeutigkeit angelegt ist“ (95). Der Verweis auf Generationenbeziehungen kann die aktive Rolle der Kinder im Prozess ihrer Bildung gleichsam als Strukturnotwendigkeit begründen und sie zugleich an die kulturelle Überlieferung binden.

Das vierte Kapitel schließt an den Aspekt der Institutionalisierung der Ko-Evolution von menschlicher Biologie und Kultur (vgl. Kap. 1.8 des Buches) an. Als „nachgeburtlicher ‚Schoß‘, den der menschliche Nachwuchs braucht, um sich ‚normal‘ entwickeln zu können“ (101) sind Familienbeziehungen, und als „tendenziell die einzigen sozialen Orte …, wo Kinder ihresgleichen begegnen sowie mit ihresgleichen spielen und zusammenarbeiten … können“ (107) sind Tageseinrichtungen in diesem evolutionstheoretischen Verständnis Institutionen frühkindlicher Erziehung, Bildung und Sozialisation. Unter der Prämisse, dass „den Bedürfnissen und Rechten der Kinder … nur noch unter der Bedingung angemessen entsprochen werden kann, dass private und öffentliche Verantwortung … für Kinder … im Kontext eines vom gesamten Gemeinwesen getragenen Bündnisses zwischen Familien und öffentlichen Instanzen (gemeinsam wahrgenommen werden)“ (110), buchstabiert Liegle ein wechselseitiges Verweisungsverhältnis zwischen Familien und Tageseinrichtungen von der Position der Kinder her aus.

Das fünfte Kapitel schließlich stellt gleichsam ein elementardidaktisches Resümee der Argumentation dar. Liegle expliziert sein Konzept von Erziehung als Lebenslauf begleitende Beziehungsgestaltung unter dem Aspekt des Verantwortungslernens. Er bindet es an Erfahrungen von Autonomie und Verbundenheit sowie von Partizipation und Verantwortungsübernahme in familialen und institutionellen Settings. Erfahrungen können nicht durch Programme gesteuert, sondern allenfalls praktisch ermöglicht werden. Die Ermöglichung nicht-strategischen, zufälligen Lernens hat für die Frühpädagogik daher zentrale Bedeutung. Liegle plädiert für eine „Didaktik der indirekten Erziehung“, der „bewussten und absichtsvollen Gestaltung der interpersonalen, situativen, räumlichen und sächlichen Umwelt“ (ebd.).

Liegles Ansatz vermag die blinden Flecken jener vermittlungstechnologischen Denkweise systematisch aufzudecken, welche die Politik früher Bildung gegenwärtig in hohem Maße bestimmt. Das lässt sich an der Rezeption der Hirnforschung beispielhaft erläutern. Während sie in der bildungspolitisch finalisierten Bildungsforschung als Beleg für Möglichkeit und Notwendigkeit der Förderung von Lernprozessen fungiert, macht Liegle ebenfalls mit Verweis auf die Hirnforschung darauf aufmerksam, dass diese Förderung durch den re-konstruierenden, selbsttätigen Charakter dieses Lernens, anders gesagt: durch die selbstreferenziellen Aneignungsprozesse der Kinder mitbestimmt und begrenzt wird. „Die Wirkung von Erziehung … kann nur durch die Adressaten der Erziehung selbst hervorgebracht werden“ (72): In diesem Sinne weist Liegle der Formel von der frühen Bildung eine ganz andere Bedeutung zu als die elementarpädagogische empirische Bildungsforschung. Was Liegle freilich nicht berücksichtigt (vgl. 108ff): Lernen ist auch ein sozialer Vorgang [3]. Der selbsttätige, konstruktive Charakter des Lernens verdankt sich nicht lediglich hirnphysiologischen Gegebenheiten, sondern ist auch eine Kulturleistung des Kinderkollektivs, ohne das Kindertageseinrichtungen als institutionalisierte Lernorte gar nicht funktionieren würden [4]. Lernen als interpretative Reproduktion, wie sie William A. Corsaro beschreibt, ist kein individuelles Phänomen, sondern Sozialisation in eigener Regie durch die soziale Welt der Kinder. Sie gibt nicht nur eine eigenständige Antwort auf die Entwicklungstatsache, sondern antwortet auch auf die institutionalisierte Antwort, welche die Kindertagesbetreuung auf die Entwicklungstatsache gibt, anders gesagt: Sie kommentiert deren Verständnis von der pädagogischen Aufgabe [5].

Der blinde Fleck des Ansatzes erklärt sich aus den Traditionen Allgemeiner Pädagogik und ihrer Vorstellung von allgemeiner Menschenbildung. Dabei finden sich bei Liegle durchaus Anknüpfungspunkte, das Lebenslauf begleitende Beziehungsgeschehen „instituetisch“, als Eigenlogik einer institutionellen Praxis aufzufassen, wenn er, auf Bernfeld anspielend, formuliert: „Nicht eine Person ‚erzieht‘ eine andere Person, sondern die gelebten und erlebten Beziehungen ‚erziehen‘“ (136). Dieser Spur folgt Liegle jedoch nicht; er hebt auf den dialogischen Charakter des Beziehungsgeschehens ab. Daher kann sich Liegles Konzeption einer wissenschaftlichen Frühpädagogik – drückt man es unter Bezug auf Bernfelds Formel aus – auch auf eine Hermeneutik der Entwicklungstatsache konzentrieren.

Wenn sich die Frühpädagogik indes lediglich als Vergewisserung einer pädagogischen Aufgabe begreift, kann sie keine Antwort auf die Frage geben, wie sie zu dieser Aufgabe kommt, warum sie plötzlich auf so viel Akzeptanz stößt und welche Relevanz sie für die Wirklichkeit institutionalisierter Kleinkinderziehung überhaupt hat. Die von Liegle konstatierte Krise der Frühpädagogik ist daher auch eine Krise ihrer Gegenstandsauffassung. Die Bedeutung von Liegles systematischer Konzeption liegt nicht zuletzt darin, an den Grenzen des eigenen Entwurfs Fragen nach dem Gegenstand einer Wissenschaft von der Pädagogik der frühen Kindheit und ihrem Wirklichkeitszugang zu ermöglichen.

[1] Liegle, Ludwig: Bildung und Erziehung in früher Kindheit. Stuttgart 2009; Fried, Lillian/Dippelhofer-Stiem, Barbara/Honig, Michael-Sebastian/Liegle, Ludwig: Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim und Basel 2012
[2] Heinsohn, Gunnar/Knieper, Barbara M. C.: Theorie des Kindergartens und der Spielpädagogik. Frankfurt am Main 1977
[3] Möglicherweise besteht der tiefere Grund für die Dominanz der Psychologie in Fragen der frühen Bildung darin, dass die Erziehungswissenschaft sich in ihrem Verständnis der Lernvorgänge von der Psychologie abhängig macht; vgl. Klaus Mollenhauer in der Einleitung zu der – zu Unrecht vergessenen – Pionierarbeit von Michael Parmentier über die Struktur der kindlichen Interaktion: „Die vorliegende Studie gibt zu bedenken, ob nicht eine empirische Theorie der Bildung und des ‚Lernens‘ möglich wäre, die sich nicht auf den psychologischen Wissenstypus zu gründen versucht“. Vgl. Parmentier, Michael: Frühe Bildungsprozesse. Zur Struktur der kindlichen Interaktion. München 1979, S. 9
[4] vgl. Jung, Petra: Kindertageseinrichtungen zwischen pädagogischer Ordnung und den Ordnungen der Kinder. Eine ethnografische Studie zur pädagogischen Reorganisation der Kindheit. Wiesbaden 2009
[5] vgl. Schnoor, Oliver/Seele, Claudia: Organisationales Lernen ‚vom Kinde aus‘? Eine organisationstheoretische Fallstudie zum secondary adjustment einer frühpädagogischen Einrichtung. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 33 (2013) 1, S. 42-61
Michael-Sebastian Honig (Luxemburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael-Sebastian Honig: Rezension von: Liegle, Ludwig: Frühpädagogik, Erziehung und Bildung kleiner Kinder. Ein dialogischer Ansatz. Stuttgart: Kohlhammer 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317022480.html