EWR 11 (2012), Nr. 4 (Juli/August)

Hans-Christoph Koller
Bildung anders denken
EinfĂŒhrung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse
Stuttgart: Kohlhammer 2012
(194 S.; ISBN 978-3-17-021980-9; 24,90 EUR)
Bildung anders denken Wie kann Bildung heute gedacht werden, wenn sich an ihre klassische Fassung nicht ungebrochen anschließen lĂ€sst, der Bildungsbegriff fĂŒr die Diskussion ĂŒber Legitimation, Kritik und Zielsetzung pĂ€dagogischen Handelns jedoch weiterhin unverzichtbar erscheint und daher unter BerĂŒcksichtigung theoriegeschichtlicher, methodologischer und gesellschaftlicher Bedingungen der Gegenwart weiterentwickelt werden soll? Ähnlich wie Hans-Christoph Kollers 1999 publizierte Habilitationsschrift „Bildung und Widerstreit“ [1] ist auch sein jĂŒngst erschienenes Buch „Bildung anders denken“ der Beantwortung dieser Ausgangsfrage verpflichtet, wofĂŒr Grundannahmen von Kokemohrs und Marotzkis bildungstheoretischen Überlegungen aufgegriffen, vor dem Hintergrund zeitgenössischer Theoriebildung aktualisiert und so weiter ausgearbeitet werden, dass sie sich auch in ihrer redigierten Form mit der empirischen Erforschung von Bildung verbinden lassen. WĂ€hrend in „Bildung und Widerstreit“ eine Neujustierung des klassischen Bildungsbegriffs vor allem mittels der Sprachphilosophie Lyotards vorgeschlagen wird, stellt Koller in diesem EinfĂŒhrungsbuch eine Vielzahl an theoretischen BezĂŒgen her, die er allesamt daraufhin prĂŒft, was sie zur Ausarbeitung einer „Theorie transformatorischer Bildungsprozesse“ beitragen können.

Seinen Ausgang nimmt Kollers Entwurf bei einer formalen Explikation von Bildung, die er von Kokemohr ĂŒbernimmt. Mit Humboldt und ĂŒber diesen hinaus beschreibe Bildung eine „VerĂ€nderung der grundlegenden Figuren des Welt- und SelbstverhĂ€ltnisses von Menschen, die sich potentiell immer dann vollziehen, wenn Menschen mit neuen Problemlagen konfrontiert werden, fĂŒr deren BewĂ€ltigung die Figuren ihres bisherigen Welt- und SelbstverhĂ€ltnisses nicht mehr ausreichen“ (15f). FĂŒr die inhaltliche Anreicherung dieser Ausgangsdefinition bewegt sich Koller entlang von vier Achsen, die den strukturellen Aufbau des Buches bestimmen und jene „Dimensionen“ markieren, die seine transformationstheoretische Bildungskonzeption zu enthalten habe: Es ist die Suche nach einer begrifflich-theoretischen Erfassung der „Struktur von Welt- und SelbstverhĂ€ltnissen“ (23), der „Problemlagen oder Krisenerfahrungen“, die „den Anlass fĂŒr transformatorische Bildungsprozesse darstellen“ (17), der „Verlaufsformen und Prozessstrukturen“ (18) von Bildung sowie des „VerhĂ€ltnis[ses] von Bildungstheorie und Bildungsforschung“ (ebd.), die Kollers systematisierenden Blick auf Bildung rahmt.

FĂŒr die theoretische Erschließung der „Struktur und Genese von Welt- und SelbstverhĂ€ltnissen“ zeigt Koller im ersten Teil seiner Arbeit mit Rekurs auf die Habitustheorie Bourdieus zunĂ€chst, dass diese sich als Resultate einer fortdauernden Inkorporation Ă€ußerer Strukturen begreifen lassen und durch gesellschaftliche MachtverhĂ€ltnisse limitiert sind. ErgĂ€nzt wird der Begriff des Habitus als Scharnierbegriff zwischen objektiven Existenzbedingungen und subjektiven Denk- und Handlungsweisen durch solche theoretischen Konzepte, welche auch die sprachliche bzw. symbolische Vermitteltheit von Welt- und SelbstbezĂŒgen zu denken erlauben (RicƓur und Lacan). Mit Butler wird darĂŒber hinaus die Dringlichkeit betont, SubjektivitĂ€t durch eine radikale AlteritĂ€t strukturiert zu verstehen und zwar insofern, als das Subjekt durch sein Begehren nach sozialer Anerkennung gesellschaftlichen Normvorstellungen ĂŒberantwortet ist, die seine Anerkennbarkeit reglementieren.

Obwohl in Butlers Subjektivationsmodell politische HandlungsfĂ€higkeit denkbar und die Möglichkeit verĂ€ndernden Handelns Koller zufolge potentiell gegeben sei, bleibe in ihrem theoretischen Rahmen im Dunkeln, wovon es abhĂ€ngt, ob dieses widerstĂ€ndige Potential genutzt wird. Daher wendet er sich im zweiten Teil des Buches zwei phĂ€nomenologisch orientierten Konzeptionen und Lyotards Philosophie des Widerstreits zu, um „typische Herausforderungen“ (17) aufzuspĂŒren, die destabilisierend auf etablierte Welt- und SelbstverhĂ€ltnisse wirken und daher zum „Anlass transformatorischer Bildungsprozesse“ werden können. Die auf den Erfahrungsbegriff Husserls zurĂŒckgehenden AnsĂ€tze von Buck und Waldenfels ermöglichen, die krisenhaften und riskanten Momente von Bildungsprozessen herauszuarbeiten, in denen die relative StabilitĂ€t von Welt- und SelbstbezĂŒgen in Frage gestellt wird. Koller nutzt vor allem Waldenfels’ Konzeption der Erfahrung des Fremden zur theoretischen Erschließung der Grundstruktur von Irritationen.

Trotz der dezentrierenden Struktur der Erfahrung, die das Subjekt als Handlungszentrum in Frage stellt, bleibt der Husserl’sche Erfahrungsbegriff am Subjektbegriff orientiert. Daher unternimmt Koller mit Rekurs auf zentrale Motive der Diskursphilosophie Lyotards den Versuch, AnlĂ€sse „grundlegender VerĂ€nderungen“ (35) nicht als Erfahrungen eines Subjekts, sondern als rein sprachimmanente FĂ€lle von Widerstreit verstĂ€ndlich werden zu lassen, die aufgrund einer radikalen Vielfalt und HeterogenitĂ€t von Diskursarten notwendig zustande kommen, mangels einer ĂŒbergeordneten Urteilsinstanz jedoch nicht geschlichtet, sondern nur bezeugt werden können. Das Bezeugen des Widerstreits als ethisch-politischer Appell Lyotards fĂŒr eine gerechtere Diskurspraxis findet demnach auch in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse Eingang (wie auch schon in „Bildung und Widerstreit“).

Da sich aus Lyotards Werk aber weder Hinweise auf Entstehungsbedingungen noch auf konkrete Verlaufsformen dieser innovatorischen Sprachereignisse entnehmen lassen, wendet Koller sich im dritten Teil des Bandes „Theorien der Entstehung des Neuen“ (97) zu. Nach einem Durchgang durch Theorien wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung (Popper, Kuhn, Peirce) sowie durch die im handlungstheoretischen und methodologischen Rahmen der Objektiven Hermeneutik angestellten Überlegungen zur Entstehung neuer Strukturen menschlichen Denkens und Handelns (Oevermann) prĂŒft er hermeneutische (Gadamer) und dekonstruktive (Derrida, Butler) AnsĂ€tze daraufhin, was sie zur Ausarbeitung v.a. zweier Aspekte beitragen können: Es geht hierbei um die Frage der Ermittelbarkeit des konkreten gesellschaftlichen Hintergrunds individueller Handlungsstrukturen und der Bedeutung kĂŒnstlerisch-kreativer Prozesse fĂŒr die Entstehung des Neuen. FĂŒr Koller erlaubt es vor allem Butlers Begriff der Resignifizierung, Überschreitungen und VerĂ€nderungen gesellschaftlicher MachtverhĂ€ltnisse und deren innovative Verlaufsformen zu denken: Die in der KonventionalitĂ€t des Sprechens grĂŒndende Unausweichlichkeit der Wiederholung performativer Sprechakte biete die Chance, das Wiederholte in einen anderen Kontext zu verschieben und so in seiner Bedeutung zu verĂ€ndern. Aus der subjektdezentrierenden Argumentation Butlers erwachse zudem die Möglichkeit, die Entstehung des Neuen in einer diskursiven Außenwelt (und eben nicht im Inneren des Subjekts) zu verorten. Inwiefern sich mit Butler „die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen“ (121) von VerĂ€nderungen denken lassen, geht aus Kollers AusfĂŒhrungen nicht hervor, was zum Teil vermutlich auf konzeptuelle Schwierigkeiten bei Butler selbst zurĂŒck verweisen dĂŒrfte. Mit Blick auf „Bildung“‘ erwĂ€gt Koller in diesem Abschnitt des Buches „das Transformationsgeschehen selber als Resignifizierung im beschriebenen Sinne zu begreifen. Die Entstehung neuer Figuren des Welt- und Selbstbezugs vollzöge sich demnach in sprachlichen (oder anderen zeichenförmigen) Praktiken, die bereits vorhandene Figuren wiederauffĂŒhren und dabei zugleich abwandeln.“ (135)

Ausgehend von einer solchen sprachtheoretischen Deutung von Bildung sei die Möglichkeit eröffnet, eine BrĂŒcke zur Analyse transformatorischer Bildungsprozesse anhand von empirischem Material zu schlagen. Da Kollers Theorie den Anspruch erhebt, auch fĂŒr die empirische Untersuchung von Bildungsprozessen anschlussfĂ€hig zu sein, widmet sich der vierte Teil des Buches der Frage, wie sich der Gegenstand und die AnlĂ€sse, die Bedingungen und Verlaufsstrukturen dieser Prozesse empirisch ermitteln und analysieren lassen. Der Versuch, aus ausgewĂ€hlten Theoremen der zuvor eingefĂŒhrten ReferenzautorInnen methodische Anhaltspunkte fĂŒr eine empirische Beschreibung dieser Dimensionen des Bildungsprozessbegriffs zu beziehen und dadurch die bildungstheoretisch fundierte Biographieforschung (Kokemohr, Marotzki) zu erweitern, scheint sich v.a. auf eine methodologische Grundannahme zuzuspitzen: Das autobiographische ErzĂ€hlen in narrativen Interviews oder in literarischen Texten könne insofern selbst zum Anlass transformierender Prozesse werden, als es einer zeitlichen und sinnhaften Ordnung genĂŒgen muss, sich aber bestimmte Momente der VielfĂ€ltigkeit des eigenen Lebens ihr möglicherweise nicht fĂŒgen.

Dass der Versuch, diese widerstreitenden Momente in eine diskursive Ordnung zu integrieren aufgrund ihres alteritĂ€ren Status auch scheitern kann, fĂŒhrt Koller abschließend anhand eines Exemplifizierungsversuches seiner Überlegungen an Jeffrey Eugenides’ Roman „Die Selbstmord-Schwestern“ auf zwei Argumentationsebenen vor: Zum einen illustriere der Roman dieses Scheitern dadurch, dass Fremdheit (dort: die des Selbstmordes) in ihrer UnerklĂ€rlichkeit bestehen bleibe, weil sie sich in die diskursive Ordnung der Narration nicht integrieren lasse. Zum anderen trage die im Roman dargestellte Unmöglichkeit der Subsumtion des Fremden unter eine gegebene Ordnung zu einer kritischen Revision der AusgangsprĂ€missen des Forschers bei. Dies fĂŒhrt Koller zu dem ResĂŒmee, dass Bildung möglicherweise „ja weniger in dem abgeschlossenen Vorgang der Ersetzung eines etablierten durch ein neues Welt- und SelbstverhĂ€ltnis als vielmehr in einem unabschließbaren Prozess der Infragestellung oder VerflĂŒssigung bestehender Ordnungen und eines Anderswerdens mit offenem Ausgang“ besteht (169). Die LektĂŒre der „Selbstmord-Schwestern“ mĂŒndet in einer weiteren Option, „Bildung“ anders zu denken, als das nĂ€mlich, „was dieser Roman uns, den Lesern und Leserinnen, aufgibt, und was darauf abzielt, eine Antwort auf den Anspruch zu suchen, der von der darin dargestellten Fremdheit ausgeht.“ (184)
Diese finale Neuakzentuierung der AusgangsprĂ€missen zugunsten der Offenheit und Unabschließbarkeit von Bildung erscheint durchaus konsequent im Sinne von Kollers eigenem forschungspraktischen Motiv einer Offenheit der Bildungsforschung im Forschungsprozess. Die konstitutive Selbstrevision hat fĂŒr Kollers Entwurf und dessen Rezeption jedoch den Effekt, dass beide unter den Vorbehalt seines Scheiterns gestellt sind. Daraus resultiert aber mindestens die Frage, welche Stellung der empirischen Erforschung von Bildungsprozessen noch zukommt: Welchen Beitrag kann eine empirische Forschung ihrem epistemologischen Status nach zur Erweiterung und ErgĂ€nzung eines Bildungsbegriffs leisten, der auf Unabschließbarkeit und Destabilisierung setzt? Und schließlich: Wie sind die im vierten Teil des Buches exponierten methodologischen Überlegungen vor diesem Hintergrund einzuordnen?

Nimmt man Kollers abschließende ErwĂ€gungen beim Wort, so hĂ€tte eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse eine Antwort auf den Anspruch derjenigen Momente von Bildungsprozessen zu suchen, „die sich der empirischen Identifizierung widersetzen und in ihrer interpretativen Erschließung mit Hilfe narrativer Interviews oder anderer Dokumente nicht aufgehen“ (146). Wohin eine so verstandene Theorie von Bildung sich bewegen könnte, bleibt in dem vorgelegten EinfĂŒhrungsband weiteren Bearbeitungen aufgegeben, ebenso wie auch die Frage, welcher der vielen, aus den Referenztheorien jeweils gewonnenen Bildungsbegriffe aus welchen GrĂŒnden besondere Beachtung verdient – der am Widerstreit orientierte, der als Resignifizierung verstandene oder der auf Waldenfels’ responsive Ethik rekurrierende Bildungs(prozess)begriff?

Das Potential dieser Öffnung könnte jedoch darin liegen, zentrale Motive des Bildungsdenkens so weiter auszuarbeiten, dass die drĂ€ngende Frage nach dem „Wozu“ innovativer Subjekttransformationen in den Blick kommt. Angesprochen sind damit v.a. die ĂŒber BezugsautorInnen wie Lyotard und Butler vermittelten – jedoch von Koller selbst nur angedeuteten – „normativen“ (18, Fußnote 7) bzw. ethischen oder politischen Implikationen des Bildungsbegriffs, die sich mit Hilfe des Potentials entfalten ließen, das just jenen Theorien eigen ist, auf die er sich bezieht.

Gleichwohl liegt mit diesem EinfĂŒhrungsband ein umfassender Entwurf vor, in welchem der klassische Bildungsbegriff Humboldt’scher PrĂ€gung mit Rekurs auf philosophische, erziehungswissenschaftliche, soziologische, psychologische und wissenschaftstheoretische Konzeptionen systematisch weitergedacht wird. Koller illustriert durchgĂ€ngig, dass und wie die aufgegriffenen Theoreme bildungstheoretisch bedeutsame Begriffe wie „Subjekt“, „Erfahrung“, „IdentitĂ€t“ etc. irritieren und zugleich produktiv auf den Begriff von „Bildung“ bezogen werden können. In dieser Hinsicht stellt das Buch eine dichte und ebenso luzide EinfĂŒhrung sowohl in die rezipierten theoretischen Konzepte, als auch und vor allem in eine Form von Bildungstheorie dar, welche an VerĂ€nderungen von Welt-, Selbst- und AnderenverhĂ€ltnissen interessiert ist und die Koordinaten des Ortes solcher Bildungsprozesse zu bestimmen bzw. dessen Grenzbereiche auszuloten sucht.

[1] Koller, Hans-Christoph: Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne. MĂŒnchen: W. Fink 1999.
Nina Wlazny (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nina Wlazny: Rezension von: Koller, Hans-Christoph: Bildung anders denken, EinfĂŒhrung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317021980.html