Im aktuellen erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskurs stehen die schulischen Misserfolge von Jungen im Zusammenhang mit der Debatte um Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit im Bildungssystem im Mittelpunkt. Dabei sind Mädchen deutlich seltener Thema im Vergleich zu ihren männlichen Altersgenossen. Dies kann u.a. darauf zurückgeführt werden, dass der Bildungserfolg von Mädchen und jungen Frauen sich in einer höheren Bildungsaspiration dokumentiert. Die Forderung, Jungen mehr zu fördern, wird von Gegenstimmen jedoch stark kritisiert. Das Hauptargument dabei ist, dass die ungünstigen Leistungsbilanzen in der Schule auch mit der Milieuzugehörigkeit und dem Migrationshintergrund von Schüler/-innen zusammenhängen und nicht allein auf geschlechtsbezogene Komponenten zurückzuführen sind.
In ihrem Lehrbuch setzen sich Herwartz-Emden, Schurt und Waburg mit der Frage der schulischen Sozialisationsbedingungen und geschlechterbezogenen Erwartungen auseinander. Als empirische Datenbasis dienen ihnen die Ergebnisse der Schulleistungsstudien PISA, IGLU und TIMSS, auf Grundlage derer sie bestehende Unterschiede zwischen Geschlechtern in der Schule analysieren und kritisch hinterfragen. Der Fokus ihrer Analyse liegt auf den Prozessen der Reproduktion der Strukturen von geschlechtsspezifischen Benachteiligungen und der Funktion, die hierbei der Schule zukommt. Neben der Kategorie Geschlecht streifen die Autorinnen auch den Umgang mit Heterogenität im schulischen Kontext.
Im ersten Kapitel zeichnen die Verfasserinnen die historischen Eckdaten der Koedukationsdebatte seit 1960 nach und stellen die Bedingungen der formalen Benachteiligung von Mädchen anhand ausgewählter empirischer Untersuchungen dar. Im Zuge dieser Debatte festigte sich die „Defizitperspektive“, aus der heraus Mädchen und Frauen als „mangelhaft entwickelte Persönlichkeiten und Opfer“ adressiert wurden (17).
Auf der Basis einer Auswahl von Ergebnissen von Schulleistungsstudien im Zeitraum von 2000 bis 2010 setzen sich die Autorinnen im zweiten Kapitel mit der Frage auseinander, welche unterschiedlichen Bildungsverläufe Jungen und Mädchen haben und welche Qualifikationen sie zum Ende ihrer Schulpflicht (nicht) erreichen. Zudem relativieren sie auf der Basis der vorliegenden statistischen Daten die Aussage, dass Jungen zu den neuen Bildungsverlierern gehören.
Dass Bildungserfolg nicht allein von kognitiven Fähigkeiten abhängt, diskutieren Herwartz-Emden, Schurt und Waburg im dritten Teil des Buchs. Sie kritisieren, dass im aktuellen Diskurs hauptsächlich die quantitativen Ergebnisse von Schulleistungsstudien fokussiert und damit mehr die kognitiven, jedoch nicht die individuellen Faktoren von Jungen und Mädchen eine Berücksichtigung finden. Auf der Grundlage der aktuellen AIDA-Studie machen die Verfasserinnen das Spannungsverhältnis zwischen den erreichten Qualifikationen in Form von Zertifikaten und Leistungsnachweisen auf der einen Seite sowie der Personalkompetenz, dem Wohlbefinden und den Lernemotionen auf der anderen Seite deutlich. Dabei weisen sie auch auf die Einflüsse anderer Ungleichheitskategorien wie sozialer Schicht oder kultureller Zugehörigkeit hin, die für den Verlauf der Bildungsbiografie einzelner Individuen bedeutsam sind, und fordern eine stärkere Berücksichtigung dieser.
Deren Entstehungszusammenhänge und geschlechtsbezogene Sozialisation werden im vierten Kapitel behandelt. Hier gehen die Autorinnen den Fragen nach, welche wissenschaftlichen Erklärungsansätze es für die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und welche Variationen es innerhalb der Genusgruppen gibt. Als Zwischenfazit halten sie fest, dass Geschlecht immer in Interaktion mit anderen hergestellt wird. Der Ansatz des „doing gender“ werde in der aktuellen Geschlechterforschung im schulischen Kontext weiterentwickelt, um den Prozess der Herstellung von Geschlecht den Akteur/-innen reflexiv zugänglich zu machen. Wie die Ergebnisse ethnographischer Schulstudien belegen, sind sowohl Lehrkräfte, unabhängig von ihrem eigenen Geschlecht, als auch Schüler/-innen daran beteiligt, Geschlechterdifferenzen und Machtverhältnisse in der Schule weiterhin zu reproduzieren. Das Fazit von Herwartz-Emden, Schurt und Waburg ist, dass allgemein verbreitete Geschlechterstereotype „den Handlungs- und Verhaltensspielraum von Mädchen und Jungen“ einschränken (83) und daher einer kritischen Reflexion zu unterziehen sind.
Die Themen „Geschlechtsbezogene Interessen“ und „Geschlechtsspezifische Fächerwahl“ schließen das Buch ab. Hier wird der Frage nachgegangen, wie pädagogische und fachbezogene Arbeit in der Schule gestaltet werden kann, um individuelle Bildungsprozesse von Jungen und Mädchen angemessen zu fördern. Die Autorinnen stellen heraus, dass Geschlechtergerechtigkeit auf allen Handlungsebenen stattfinden kann und alle Akteur/-innen des schulischen Feldes betrifft. Entsprechend sei die Genderkompetenz von Lehrkräften eine Voraussetzung dafür, dass individuellen Interessen und Fähigkeiten von Schüler/-innen Rechnung getragen werden kann. Aber auch Schüler/-innen sollten über Genderkompetenz verfügen und reflexive Aufmerksamkeit gegenüber der eigenen Person entwickeln können. Daraus folge für die Settings Schule und Unterricht, dass stereotypisierende Dramatisierungen von Geschlecht bewusst gemacht und Diskriminierungen bekämpft werden müssen.
Abschließend lässt sich sagen, dass das Buch vor allem für Lehrkräfte, Dozierende und Studierende des Lehramts von Interesse ist. Anzumerken ist, dass es den Autorinnen nicht zufriedenstellend gelingt, die anfangs formulierte Frage: „Warum noch ein Buch über Mädchen und Jungen in der Schule?“ (11) zu beantworten. Dafür erhalten Leser/-innen, die bisher nur wenig oder keine Vorkenntnisse zum Themenkomplex „Schule und Geschlecht“ haben, einen komprimierten Überblick über den Diskurs zur Geschlechtergerechtigkeit in der Schule, die wichtigsten Entwicklungen im Bereich der Geschlechterforschung im schulischen Kontext sowie mögliche pädagogische Ansätze zur Förderung beider Geschlechter in Schule und Unterricht. Auf einer eher allgemeineren Ebene bleiben die praktischen Anregungen für die Unterrichtspraxis sowie die Aussagen zu einer geschlechterbezogenen Förderung. Pädagog/-innen werden dazu aufgefordert, Dramatisierungen und Vereinfachungen von Geschlecht möglichst reflexiv zu begegnen. Zugleich können sich die Autorinnen an einigen Stellen jedoch nicht davor bewahren, ebenso Dramatisierungen und geschlechtsspezifische Deutungen vorzunehmen.
Dennoch ist das Buch mehr als nur eine Zusammenschau unterschiedlicher Studienergebnisse. Es hilft den Leser/-innen einen kritischen Blick und eine eigene Position zum Thema Schule und Geschlecht zu entwickeln. Darüber hinaus wird deutlich gemacht, dass das Thema Geschlecht im schulischen Kontext nicht an Aktualität verliert, sondern nach wie vor problematisiert und reflektiert werden sollte. Allerdings nicht um die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen zu dramatisieren, sondern diese für das Sichtbarmachen von Variationen innerhalb der Genusgruppen zu nutzen.
EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)
Mädchen und Jungen in Schule und Unterricht
Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2012
(137 S.; ISBN 978-3-17-020903-9; 19,90 EUR)
Lucy Urich (Freiburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lucy Urich: Rezension von: Herwartz-Emden, Leonie / Schurt, Verena / Waburg, Wiebke: Mädchen und Jungen in Schule und Unterricht. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317020903.html
Lucy Urich: Rezension von: Herwartz-Emden, Leonie / Schurt, Verena / Waburg, Wiebke: Mädchen und Jungen in Schule und Unterricht. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317020903.html