Das von Annette Leonhardt, Inhaberin des Lehrstuhls für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, herausgegebene Buch umfasst insgesamt elf Kapitel. Das erste Kapitel liefert eine theoretische Einführung in das Thema schulische Integration hörgeschädigter Menschen; ein Kapitel besteht aus vier Erfahrungsberichten ehemals integriert beschulter Erwachsener. In weiteren acht Kapiteln werden die Ergebnisse und Erfahrungen eines umfangreichen, unter der Leitung der Herausgeberin zwischen 1999 und 2009 durchgeführten Forschungsprojekts zur Situation integrativ beschulter hörgeschädigter Schüler in Bayern dargestellt. Eine Ausnahme bildet der Beitrag von Wessel, Universität zu Köln, der seine Studie im Rahmen seiner Dissertation in Nordrhein-Westfalen durchgeführt hat. Die Daten wurden mittels Leitfrageninterviews, Unterrichtsbeobachtungen, quantitativer sowie qualitativer Fragebögen gewonnen.
Im Fokus der Aufmerksamkeit steht nicht nur der hörgeschädigte Schüler selbst, sondern auch sein unmittelbar am Integrationsprozess beteiligtes Umfeld. So erfährt der Leser die Sichtweise der Eltern, der Regelschullehrer, die die hörgeschädigten Schüler unterrichten, der Förderlehrer der mobilen Begleitdienste sowie der hörenden Mitschüler und erhält eine breite, umfassende Informationsbasis.
Jedes Kapitel beginnt mit einer Zusammenfassung der Forschungsergebnisse und einer übersichtlichen tabellarischen Darstellung des Studiendesigns, in der Bearbeitungszeitraum, Methode, Stichprobe, Untersuchungsart, -instrument und Untersuchungsgegenstand beschrieben werden. Besonders relevante Ergebnisse werden in überwiegend klaren, übersichtlichen Diagrammen dargestellt.
Im ersten Kapitel skizziert Leonhardt einen profund recherchierten geschichtlichen Abriss der Integrationsbemühungen bei der Beschulung hörgeschädigter Kinder von der Verallgemeinerungsbewegung bis ins 20. Jahrhundert. Gebärdensprachorientierte oder bilinguale Ansätze finden ebenso wenig Erwähnung wie der aktuelle Paradigmenwechsel von der Integrations- zur Inklusionsbewegung, die in der Ratifizierung der UN-Konvention im Dezember 2008 ihren vorläufigen Höhepunkt fand.
Im zweiten Kapitel stellt Lönne dar, wie hörgeschädigte Schüler in allgemeinen Schulen ihre Situation beurteilen. Befragt wurden nahezu alle zum Zeitpunkt der Erhebung (Anfang 2001) erfassten integrierten Schüler der 3. bis 7. Klasse in Bayern mittels Fragebogen; die Rücklaufquote betrug über 70%, so dass die Ergebnisse zumindest für Bayern als repräsentativ betrachtet werden dürfen. Es überrascht, dass über alle Klassenstufen hinweg die Schüler ihre Situation in Bezug auf ihre soziale und leistungsmotivationale Integration mehrheitlich positiv einschätzen. Ganz anders stellt sich hingegen ihre Wahrnehmung ihrer emotionalen Integration dar, hier sinken die Mittelwerte von der 3. bis zur 7. Klassenstufe signifikant ab. Erschreckend ist die Erkenntnis, dass nahezu die Hälfte der integriert beschulten Schüler nur einmal pro Jahr Besuch vom Lehrer des mobilen Dienstes bekommen, nur ein Schüler von 216 gibt an, wöchentliche Unterstützung zu erhalten.
Steiner legt in Kapitel 3 die Sicht der hörenden Mitschüler dar. Auffallend ist, dass diese ihr eigenes Kommunikationsverhalten sehr positiv bewerten, das Sprachverständnis des hörgeschädigten Schülers hingegen eher negativ einschätzen. Weiterhin bestätigen Steiners Ergebnisse frühere Forschungen bezüglich der Integrationssituation hörgeschädigter Schüler, dass die Bewertung der Beziehung zu dem hörgeschädigten Schüler mit zunehmender Jahrgangsstufe negativer ausfällt.
Wie Lehrer des mobilen Dienstes die Integrationssituation hörgeschädigter Schüler bewerten, zeigt Lönne in Kapitel vier anhand der systematischen Auswertung qualitativer Interviews auf. Hierbei offenbart sich das vielfältige Aufgabenfeld des mobilen Lehrers, das ihm völlig andere Kompetenzen abverlangt als seine eigentliche Qualifikation, nämlich die Unterrichtung hörgeschädigter Schüler. Deutlich wird auch hier das sehr knappe Zeitbudget für den einzelnen Schüler, das in Kapitel zwei bereits angesprochen wurde.
In Kapitel fünf stellt Steiner die Sicht der Lehrer der allgemeinen Schule dar. 75% der befragten Regelschullehrer halten die hörgeschädigten Schüler in ihrer Klasse für gut integriert, und auch die Kommunikationssituation des hörgeschädigten Schülers wird von ihnen überwiegend positiv bewertet. Dass sich diese Einschätzung nicht immer mit der Selbsteinschätzung der hörgeschädigten Schüler deckt, wird in der Studie von Lindner (Kap. 8) deutlich.
Wessel geht in seinem Beitrag (Kap. 6) der Frage nach, wie die am Integrationsgeschehen beteiligten Lehrkräfte den Kooperationsprozess gestalten. Kooperationsgewinne und -erschwerungen werden systematisch herausgearbeitet, die Rollenverständnisse sowie damit korrespondierende Kooperationsstrategien sowohl der Hörgeschädigtenpädagogen als auch der Regelschullehrer mit geschärftem Blick beleuchtet und anhand von Originalzitaten aus den geführten qualitativen Interviews illustriert.
Die Untersuchungsergebnisse von Ludwig, erörtert in Kapitel sieben „Eltern und Integration – Erfahrungen und Erwartungen“, zeigen, dass die große Mehrheit der Eltern integriert beschulter hörgeschädigter Kinder zufrieden ist mit der schulischen Integration. Die insgesamt positive Bewertung darf jedoch nicht über die Schwierigkeiten und Belastungen hinwegtäuschen, mit denen sich die Eltern konfrontiert sehen. Häufig bedarf es bei Problemen der elterlichen Unterstützung. Angesichts der dargestellten Ergebnisse stellt sich die Frage, ob die schulische Integration auch dann gelingen würde, wenn das Elternhaus weniger engagiert und unterstützend wäre.
Lindner ergründet anhand von qualitativen Interviews mit zwölf hörgeschädigten Schülern, deren Eltern, Regel- und Förderschullehrern die Motive für den Wechsel von der Regel- in die Förderschule (Kap. 8). Hier fällt auf, dass die Selbsteinschätzung der Schüler bezüglich ihres Sprachverstehens sowie ihrer sozialen Integriertheit zum Teil deutlich schlechter ausfällt als die Einschätzung ihrer Lehrer an der allgemeinen Schule. Die teilweise weitreichenden Handlungsimpulse, die Lindner empfiehlt, um die in ihrem Beitrag „genannten Missstände, wie Bullying etc., weitestgehend zu reduzieren“ (201), scheinen angesichts der geringen Fallzahl gewagt.
In Kapitel neun berichten vier hörgeschädigte Erwachsene über ihre Erfahrungen als integriert beschulte Schüler in der Regelschule. Allen Berichten gemeinsam ist das große Engagement der Eltern, ohne dass die schulische Integration entweder gar nicht erst versucht worden wäre oder aber nicht erfolgreich hätte beendet werden können. Besonders der Beitrag von Krauskopf, die bereits 1988 ihren Schulabschluss erwarb und keinerlei hörgeschädigtenspezifische Förderung erfuhr, macht deutlich, welchen Preis ein hörgeschädigtes Kind zahlt, wenn unter Integration die Integrationsfähigkeit des Betroffenen, also die möglichst unauffällige Anpassung des hörgeschädigten Schülers an das allgemeine Schulsystem, verstanden wird.
Born untersucht in ihrer Studie mittels Unterrichtsbeobachtungen und Leitfadeninterviews, inwiefern hörgeschädigtenspezifische methodisch-didaktische Prinzipien im Gemeinsamen Unterricht Anwendung finden (Kap. 10). Die bisherigen Ergebnisse zeigen starke interindividuelle Unterschiede auf, die die Autorin auf den individuellen Unterrichtsstil der Lehrer zurückführt, da viele der beobachteten, für den hörgeschädigten Schüler förderliche Maßnahmen der Unterrichtsgestaltung von den Lehrern nicht bewusst eingesetzt wurden.
Im letzten Kapitel liefert Diller einen Einblick in die Situation hörgeschädigter Kinder in allgemeinen und integrativen Kindergärten. Sie skizziert die lautsprachliche Entwicklung der Kinder, die sie als „durchweg positiv“ (295) beschreibt. Besonders interessant ist die Information in ihrem Resümee, welche Schulformen ihre Probanden nach der Einschulung besuchen.
Insgesamt bietet das Buch einen umfassenden und vor allem aktuellen Überblick über die verschiedenen Facetten zur Situation integrativ beschulter hörgeschädigter Kinder und Jugendlicher. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass das Gelingen von Integration von vielen verschiedenen Faktoren abhängig ist. Besonders deutlich wird, dass die zeitlichen und personellen Kapazitäten des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes deutlich erhöht werden müssten, damit Integration nicht weiterhin eine Leistung bleibt, die primär der hörgeschädigte Schüler erbringen muss. Aufschlussreich wäre ein abschließendes Kapitel gewesen, in dem die Erkenntnisse aus den einzelnen Modulen einer zusammenführenden Betrachtung und Diskussion unterzogen werden.
EWR 9 (2010), Nr. 6 (November/Dezember)
Hörgeschädigte Schüler in der allgemeinen Schule
Theorie und Praxis der Integration
Stuttgart: Kohlhammer 2009
(304 S.; ISBN 978-3-1701-9574-5; 29,80 EUR)
Pia Hübinger (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Pia Hübinger: Rezension von: Leonhardt, Annette (Hg.): Hörgeschädigte Schüler in der allgemeinen Schule, Theorie und Praxis der Integration. Stuttgart: Kohlhammer 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317019574.html
Pia Hübinger: Rezension von: Leonhardt, Annette (Hg.): Hörgeschädigte Schüler in der allgemeinen Schule, Theorie und Praxis der Integration. Stuttgart: Kohlhammer 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317019574.html