Mit der Ganztagsschule verbinden sich große Erwartungen. Auch bei dem so genannten Bildungsgipfel im Oktober 2008 in Dresden wurde mit viel Handlungsdruck und Gespür für symbolische Politik die Ganztagsschule als drängendes Thema der Bildungspolitik verhandelt. Aber: Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel. Beschlossen wurde immerhin, dass der Ausbau der Ganztagsschulen "bedarfsgerecht" vorangehen soll. In dieser Hinsicht kamen in Dresden die politisch Verantwortlichen darin überein, dass der Bund an bedürftige Kinder bis zur zehnten Klasse pro Schuljahr 100 Euro für Lernmittel zahlt. So weit so gut. Ob der Bund für diese Kinder auch die Kosten der Mittagsverpflegung übernimmt, ist allerdings noch strittig. Aber kann diese Lernmittelfreiheit Bildungsbenachteiligungen ausgleichen? Kommen die bedürftigen Kinder überhaupt bis zur Klasse zehn? Reicht die verlängerte Zeit des Lernens an einer Ganztagsschule aus, um auch für diese Risikokinder bessere Bildungschancen zu ermöglichen?
Risikokinder sind Kinder und Jugendliche in riskanten Lebensverhältnissen, die besonders hart von gesellschaftlichen Ausschließungsprozessen betroffen sind. Es handelt sich dabei um Kinder und Jugendliche jenseits der bürgerlichen Kontexte einer „Normalbiographie“, gleichsam die traditionelle Klientel der Sozial- und Sonderpädagogik. Um die bestehenden Bildungsbenachteiligungen auszugleichen, so scheint man sich in den aktuellen bildungspolitischen Diskursen einig, ist eine intensivere Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe nötig. Kann dies unter dem Dach der bis dahin bei der Bildungspolitik eher unbeliebten Ganztagsschule gelingen? Wird diese Zusammenarbeit für Kinder und Jugendliche in erschwerten Lebenslagen eine Verbesserung bringen?
Diese Fragen stehen für Stephan Ellinger, Katja Koch und Joachim Schroeder zur Klärung an. Grundlegende und zugleich skeptische These in ihrem Praxishandbuch ist, dass die aktuellen schulpädagogischen Debatten und bildungspolitischen Bemühungen zur Weiterentwicklung der Ganztagsschule weitgehend an den Bedürfnissen, Lebenslagen und Alltagsproblemen benachteiligter Kinder vorbei gehen. Die Autoren und die Autorin der Studie können die These belegen, dass es weder „explizite bildungstheoretische Begründungszusammenhänge noch schulpädagogische Erfahrungen gibt, an die man zur angemessenen Förderung von Jungen und Mädchen in riskanten Lebenslagen anknüpfen könnte. Schärfer noch: Aus der historischen ‚kompensatorischen’ Ganztagsbetreuung für Benachteiligte wurde im letzten Jahrzehnt die ‚Ganztagsschule für alle’. Diese Ausweitung des Schulkonzepts wurde um den Preis erkauft, dass Dimensionen wie Armut, Migrationshintergrund, ökonomische Marginalisierung und soziale Ausgrenzung in der aktuelle Debatte um ganztägige Betreuungs- und Bildungsangebote so gut wie keine Rolle (mehr) spielen.“ (28)
Dies hat vor allem den Hintergrund, dass Kinder in Risikolebenslagen allenfalls mitgedacht und in den schulpädagogischen Konsequenzen völlig übergangen werden. Das pädagogische Spannungsverhältnis zwischen der Schul- und der Sozialpädagogik wird in fast allen derzeitigen Debatten und Konzeptionen zur Ganztagsschule vorschnell aufgehoben und führt neben anderen Verkürzungen zu den beschriebenen Konsequenzen und der Verengung des Blicks. Verbleibt das Projekt Ganztagsschule in der Logik der bislang vorherrschenden additiven Struktur des Bildungssystems, dann werden benachteiligte Schüler und Schülerinnen wenig von der organisatorischen Umstellung des schulischen Lernens haben. Grund genug, sie also wieder verstärkt in den erziehungswissenschaftlichen Reflexionshintergrund der Ganztagspädagogik einzubeziehen.
Dazu will dieses Buch anregen. Nachdem im ersten Kapitel vier konzeptionelle Spannungsfelder exemplarisch diskutiert worden sind und geklärt wird, was die Ganztagsschule für Risikokinder leisten kann und was sie nicht zu leisten vermag, werden die konzeptionellen Minimalanforderungen an die Entwicklung von Ganztagsschulen für Risikokinder beschrieben. Anschließend zeigen die Autoren und die Autorin anhand von sechs verschiedenen Förderbereichen mögliche Potenziale auf, die im Rahmen einer Ganztagsschule besonders auf Risikokinder zugeschnitten werden. Die Aufgabenfelder „Interkulturalität“, „Lernförderung“, „Armut und soziale Benachteiligung“, „Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität“, „Störungen im Bindungsverhalten“ und schließlich „Schulaversives Verhalten“ diskutieren Ellinger, Koch und Schroeder hinsichtlich angemessener Hilfen und Fördermöglichkeiten in einer Ganztagsschule, die das Lernen unter erschwerten Bedingungen im Blick hat.
Diese Systematik ist überzeugend und bietet eine reichhaltige Fülle von Anregungen und erprobten Praxisbeispielen. Es ist nur folgerichtig, dass anschließend die praktischen Schritte zur effektiven Ganztagsschule aufgezeigt werden. Auch wenn die Checkliste mit 10 Schritten zur Ganztagsschule zunächst wie ein adaptierbares Rezept anmutet, so wird doch schnell deutlich, dass vor allem im Hinblick auf das anfangs geschilderte Spannungsfeld von Schulpädagogik, Sonderpädagogik und Sozialpädagogik veränderte Berufsbilder, neue Aufgaben und schließlich eine pädagogische Kultur der Verantwortung greifen müssen, um die Ganztagsschule so zu gestalten, dass sie auch an den Lebenslagen ihrer Schülerschaft orientiert ist. Dass dieser Prozess nicht ohne Kontroversen zu haben ist, versteht sich. Werden diese Prozesse im Zuge der Umstrukturierung allerdings konstruktiv aufgegriffen, kommt es zu strukturellen, personellen und lernorganisatorischen Veränderungen, dann kann die Ganztagsschule in der Tat zu einem Ort werden, der für Risikokinder mehr Bildungschancen bietet.
Wer dieses Buch in Gebrauch nimmt, ist also mehr oder weniger schon im Prozess des Umbaus von Schule und kann diesem Prozess nach der Lektüre eine klar definierte Richtung geben. Zielgruppen werden gleichwohl Lehrkräfte an Schulen oder auch Schulleitungen sein, die in Richtung einer Entwicklung der Ganztagschule an verschiedenen Ausgangspunkten stehen. Aber auch die Praktiker der Jugendhilfe können sich mit diesen Vorschlägen und Leitlinien eine neue Position im Zusammenspiel von formalen, non-formalen und informellen Bildungsorten verschaffen.
Sie alle werden sicherlich von den Vorschlägen, Leitlinien und Beispielen profitieren, um einen geschärften Blick auf Kinder und Jugendliche in riskanten Lebensverhältnissen zu entwickeln. Aber auch Studierende der drei genannten pädagogischen Fachrichtungen werden in diesem Buch weit reichende Anregungen finden, um sich neue Aufgabenfelder jenseits der klassischen institutionellen Zuschnitte zu erschließen.
EWR 7 (2008), Nr. 6 (November/Dezember)
Risikokinder in der Ganztagsschule
Ein Praxishandbuch
Stuttgart: Kohlhammer 2007
(259 S.; ISBN 978-3-17-019517-2; 28,00 EUR)
Sven Sauter (GieĂźen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sven Sauter: Rezension von: Ellinger, Stephan / Koch, Katja / Schroeder, Joachim: Risikokinder in der Ganztagsschule, Ein Praxishandbuch. Stuttgart: Kohlhammer 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317019517.html
Sven Sauter: Rezension von: Ellinger, Stephan / Koch, Katja / Schroeder, Joachim: Risikokinder in der Ganztagsschule, Ein Praxishandbuch. Stuttgart: Kohlhammer 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317019517.html