Die besonderen Möglichkeiten einer ‚Erziehung‘ bzw. Beeinflussung von Kindern und Jugendlichen, die die Herauslösung aus den Elternhäusern in Verbindung mit einer möglichst langfristigen Zusammenführung und Unterrichtung bietet, haben sich nahezu alle totalitären Systeme zunutze gemacht. Die institutionalisierten Einrichtungen, die in Deutschland von den Nationalsozialisten in Form von Internaten für verschiedene Zielgruppen ins Leben gerufen wurden, hat die hiesige bildungsgeschichtliche Forschung in zahlreichen Publikationen untersucht [1]. Die Tatsache, dass sich das faschistische Italien in ähnlicher Form um die Errichtung von Internatsschulen bemühte, um die Heranwachsenden dort zu ‚neuen‘ Italienerinnen und Italienern zu erziehen, fand hingegen sowohl in der italienischen als auch in der deutschen Forschungslandschaft noch viel zu wenig Beachtung.
Nun aber liegt mit der Publikation von Jana Wolf die erste umfassende Monografie zu dem Versuch der faschistischen Machthaber vor, ein Internatsschulsystem einzuführen, in dem nicht nur berufsbezogene Schulbildung vermittelt werden, sondern auch eine Charakter- und Persönlichkeitsbildung im Sinne der Führungsriege um Mussolini stattfinden sollte. Damit gemeint sind die unter dem Namen „Collegi“ Mitte der dreißiger Jahre erfolgten Schulgründungen, die von der faschistischen Jugendorganisation „Opera Nazionale Balilla“ (ONB) ausgingen und von deren Nachfolgeorganisation „Gioventú Italiana del Littorio“ (GIL) fortgesetzt wurden. Diese den nationalsozialistischen Internatsschulen ähnelnden, sich jedoch in vielen Gesichtspunkten davon unterscheidenden Schulen für Mädchen und Jungen (selbstverständlich nicht koedukativ) im Alter von sechs bis 21 Jahren, sollten Fachkräfte für Politik, Militär und Industrie hervorbringen und den faschistischen Nachwuchs sicherstellen. Angeboten wurden unterschiedliche Schulabschlüsse, die vom einfachen Volksschulabschluss bis hin zur Hochschulreife reichten, hinzu kamen bestimmte berufsbildende oder berufsvorbereitende Elemente. Obwohl das politische Interesse an dieser Einrichtung groß war, ergaben sich in den wenigen Jahren ihres Bestehens zahlreiche Schwierigkeiten, die, wie die Studie zeigt, zu einer großen Kluft zwischen dem propagierten Anspruch und der Realität führten.
Der Forschungsaufwand für die zugrundeliegende Dissertation, die 2020 an der Technischen Universität Dresden angenommen wurde, war angesichts der Quellenlage offensichtlich immens. Es lässt sich allenfalls von einer „fragmentarischen Überlieferung“ (16) sprechen, die Recherchen in zahlreichen Archiven notwendig machte. Gründe hierfür sieht Wolf in der wechselhaften Geschichte der Collegi, die eine kontinuierliche Archivierung von Akten ebenso erschwerte wie die Kriegswirren. Hinzu kam das Bemühen der Verantwortlichen, nach dem Krieg möglichst viele Akten verschwinden zu lassen. Trotz dieser problematischen Situation gelang es der Verfasserin, schulspezifische Archivalien wie Klassenbücher und Verwaltungsakten, aber auch Personal- und Schülerakten zu sichten, wodurch sich auch ein Kontakt zu dreißig ehemaligen Schülern herstellen ließ, mit denen sie Interviews führte. Die Quellenlage ist auch dafür verantwortlich, dass über die sieben Collegi für Mädchen keine Erkenntnisse gewonnen werden konnten, was Wolf sehr bedauert, da ihr so kein Beitrag zu der kontroversen Diskussion um die emanzipatorische Wirkung des italienischen Faschismus möglich war.
Um „Anspruch und Wirklichkeit“ dieses aus der Sicht des Historikers Luca La Rovere „ambitioniertesten Realisierungsversuch[s] zur Schaffung des „neuen Menschen“ im italienischen Faschismus“ (5) zu analysieren, widmet sich Jana Wolf im ersten Kapitel zunächst den Vorstellungen, die drei führende Köpfe des italienischen Faschismus vom neu zu formenden italienischen Menschen hatten. Neben Mussolini sind dies zwei Männer, die für die Einflussnahme auf die Jugend in besonderem Maße verantwortlich waren: Renato Ricci, Initiator der Collegi und von 1927 bis 1937 Führer der ONB, sowie sein Nachfolger Achille Starace, Parteisekretär und seit 1937 Führer der GIL, die in diesem Jahr der faschistischen Partei unterstellt wurde. Dabei werden sowohl die allen drei Politikern gemeinsame Abneigung gegen vermeintliche Eigenschaften der zeitgenössischen Landsleute als auch ihre Vision zur Schaffung eines neuen Typus von Italienern und Italienerinnen herausgearbeitet: hier der liberale, dem süßen Leben zugeneigte, egoistische alte Mensch, dort der vitale, disziplinierte, dem Militärischen zugewandte und vom Faschismus überzeugte neue Mensch.
Im zweiten Kapitel rückt die Erziehungs- und Bildungspolitik in Italien seit 1922 in den Blick, die zwar vom Anspruch her darauf abzielte, das Bildungsniveau der Jugend zu heben und sie zu kriegsbegeisterten Faschisten und Faschistinnen zu erziehen, die aber u.a. durch unklare Zuständigkeiten, die beständige Auswechslung des Führungspersonals und die fehlende Klarheit der Umsetzung der Vorhaben im legislativen Bereich weitgehend scheiterte. Ein sich anschließender Exkurs, der nach den Berührungspunkten der Ausleseschulen im nationalsozialistischen Deutschland und im faschistischen Italien fragt, zeigt, dass die Berührungspunkte trotz gegenseitiger Besuche nicht allzu groß waren, doch sei hier, so Wolf, noch Forschungsbedarf erkennbar.
In den folgenden Kapiteln geht es konkret um die Collegi, beginnend mit einer Darstellung von „Genese, Organisation, Struktur und Funktion“ (7) der insgesamt 22 Gründungen, wobei Wolf zwischen den 1936 und 1937 gegründeten Collegi, die sich als Vorbereitungsanstalten für Akademien (Leibeserziehung, Militär) verstanden, und den sich daran anschließenden Gründungen, die neben der Militarisierung auch die zivile Berufsausbildung sowie eine stärkere Politisierung der ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schüler verfolgten, unterscheidet. Den Fokus ihrer Untersuchung richtet Wolf sowohl hier als auch in den folgenden Kapiteln aufgrund der Quellenlage, des Datums ihrer Gründung, ihrer regionalen Verteilung und ihrer Spezialisierung auf fünf Collegi. Diese waren in zwei Fällen an die Marine (Brindisi und Venedig, 1937) sowie in jeweils einem Fall ans Heer (Bozen, 1939) und an die Luftwaffe (Forli, 1938) angebunden. Das fünfte Collegio schließlich wurde 1941 in Lecce speziell für Kriegswaisen gegründet und verfolgte damit offiziell eine soziale Zielsetzung.
Kapitel 4 wendet sich den Schülern zu und fragt nach Auswahlmechanismen, Selektionskriterien und sozialer Herkunft. Die Interessenten mussten einer Vielzahl von Kriterien entsprechen, die sich auf geistige und körperliche Leistungsfähigkeit, die charakterliche Eignung und die erwünschte politische Haltung bezogen. Je nach Bewerberlage, so Wolf, wurden diese Kriterien mehr oder weniger streng gehandhabt, Empfehlungsschreiben von angesehenen Fürsprechern konnten zudem dabei helfen, auch bei unzureichender Eignung aufgenommen zu werden. Ein weiteres Auslesemerkmal war überraschenderweise das zu zahlende Schulgeld, denn nicht alle Eltern konnten sich die zum Teil recht hohen Gebühren leisten, Stipendien wurden nur in besonderen Ausnahmefällen gewährt. Schulgeldfrei waren nur die Collegi für Kriegswaisen.
Das Personal wird in Kapitel 5 untersucht. Auf der obersten Führungsebene der militärisch ausgerichteten Collegi etablierte sich ein wenig effektives Kommandantensystem, das zunächst aus drei, später aus zwei Personen bestand, die keine pädagogische Vorbildung besaßen. Diese Amtsaufteilung führte aufgrund von Interessenskonflikten und einer schlechten Aufgabenverteilung zu Problemen in der Leitung.
Wichtiger, da in direktem Kontakt zu den Schülern stehend, waren die Erzieher und Lehrer. Bei den Erziehern achtete man darauf, dass es sich um Absolventen der Akademie für Leibeserziehung und somit um ideologisch gefestigte Kräfte handelte. Die tatsächliche Wirkung drückt sich in den Erinnerungen ehemaliger Collegi-Absolventen aus, die zwar ambivalent ausfallen, aber größtenteils zeigen, dass die Erzieher „ein entscheidender Faktor bei der Faschisierung der Kollegiaten waren.“ (240) Die Ansprüche an die Qualität der Erzieher mussten aufgrund des Personalmangels, der mit Beginn des Kriegs einsetzte, in ähnlicher Weise herabgesetzt werden wie die an die Lehrkräfte, was dazu führte, dass ab 1943 an manchen Collegi die Zugehörigkeit zur faschistischen Partei keine Voraussetzung mehr war.
In Kapitel 6 geht es um den Schul- und Lebensalltag. Offensichtlich unterschied sich der Unterricht in seinen Inhalten und den Methoden nicht von dem der staatlichen Schulen. Dagegen machten die berufsbildenden bzw. praktischen Elemente, vor allem an den militärisch angebundenen Collegi, durch ihre Praxisnähe und die jugendnahen Angebote Eindruck auf die Schüler, die sich hier mit Luftfahrttechnik, Schifffahrt, Fahrausbildung und der Bedienung von Industriemaschinen beschäftigen konnten. Auch das Internatsleben, das an den näher betrachteten Collegi mit zahlreichen Gemeinschaftserlebnissen, Ausflügen und Feiern eine Vielzahl an Attraktionen bot, sei für viele Schüler im Vergleich zum Leben im Elternhaus sehr reizvoll gewesen. Die Erinnerungen fallen auch hier positiv aus, die militärischen Elemente wurden offensichtlich bereitwillig angenommen. Hinzu kamen viele Sportangebote, eine medizinische Betreuung und eine reichhaltige Ernährung, so dass sich viele Kollegiaten privilegiert fühlten, was auch durch die unangenehmen Disziplinierungsmaßnahmen, die Wolf beschreibt, nicht getrübt wurde.
So ergibt sich durch die ausführliche Darstellung ein plastischer Einblick in ein Internatssystem, das mehr schlecht als recht funktionierte, in dem Kompetenzstreitigkeiten der Führungsriege an der Tagesordnung waren, in dem geplante Baumaßnahmen nie umgesetzt wurden, wo es nicht in allen Fällen eine gute Zusammenarbeit mit den zuständigen lokalen Behörden gab, das aber dennoch eine nicht zu unterschätzende Spätwirkung auf die Klientel hatte. Darauf geht Jana Wolf im siebten Kapitel ein und hält fest, dass die Interviews und Erinnerungsdokumente verdeutlichen, dass in diesen Schulen durchaus eine Mentalitätsprägung stattgefunden habe, die als „eine Internalisierung und Persistenz der militärisch-faschistischen Erziehung verstanden werden“ kann (337). Wenn auch zu bezweifeln ist, dass die Collegi tatsächlich neue Menschen schmiedeten, so lässt sich doch konstatieren, dass sie dazu beitrugen, dass der Faschismus in den Augen vieler ehemaliger Schüler durchaus positive Eigenschaften besaß, was sie auch heute nicht müde werden zu betonen. Auf diese Tatsache weist Wolf in ihrer Zusammenfassung genauso nachdrücklich hin wie auf eine andere, durchaus überraschende Wirkung der Collegi, die sich trotz aller Propaganda keineswegs für den „Abbau von Standesschranken zur Schaffung einer faschistischen Gemeinschaft“ (344) engagierten. Vielmehr sorgten diese Internatsschulen durch hohe Schulgebühren bei gleichzeitiger Vernachlässigung eines Stipendiensystems dafür, dass die soziale Schichtung Italiens reproduziert wurde.
Insgesamt hat Jana Wolf eine sehr lesenswerte und mit 27 Abbildungen versehene Studie vorgelegt, die durch ihre Intensität zwar ein konzentriertes Lesen erfordert, die aber trotz der Quellenproblematik einen tiefen Einblick in das System der Collegi ermöglicht. Dabei berührt die Verfasserin zahlreiche Forschungsfragen und weist auf Desiderate hin, wie z.B. die Klärung der Frage, wie Institutionen, die aus dem Umfeld der Collegi hervorgingen und zum Teil heute noch existieren, mit ihrem faschistischen Erbe umgegangen sind bzw. umgehen. Ob die etwas reißerisch klingende Metaphorik von der „Schmiede des ‚neuen‘ Menschen“ im Titel und den Überschriften der Kapitel wirklich angemessen ist, darf abschließend gefragt werden, denn, das macht die Lektüre des Buches deutlich, weder gab es ein reibungslos funktionierendes Schulsystem noch wurden wirklich ‚neue‘ Menschen in einem Umfang, wie es der faschistischen Führung vorschwebte, hervorgebracht.
[1] Vgl. die Anmerkungen von Gerhard Kluchert in seiner Rezension zur Publikation von Helen Roche zu den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (https://www.klinkhardt.de/ewr/978019872612.html).
EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)
In der Schmiede des „neuen Menschen“
Ausleseschulen im italienischen Faschismus
Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2022
(399 S.; ISBN 978-3-11-077463-4; 59,95 EUR)
Rüdiger Loeffelmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rüdiger Loeffelmeier: Rezension von: Wolf, Jana: In der Schmiede des „neuen Menschen“, Ausleseschulen im italienischen Faschismus. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978311077463.html
Rüdiger Loeffelmeier: Rezension von: Wolf, Jana: In der Schmiede des „neuen Menschen“, Ausleseschulen im italienischen Faschismus. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978311077463.html