EWR 6 (2007), Nr. 6 (November/Dezember 2007)

Werner Hürlimann
Für die Schule nicht mehr zumutbar
Der Schulausschluss als behördliche Reaktion auf abweichendes Schülerverhalten im 20. Jahrhundert in Schweizer Volksschulen
Bern u.a.: Lang 2007
(397 S.; ISBN 978-3-03911-292-0; 67,00 EUR)
Für die Schule nicht mehr zumutbar Dass Schulausschlüsse den schulischen Alltag seit der Institutionalisierung der Schule begleiten, ließ sich im deutschsprachigen Raum bisher nur vermuten. In Ermangelung öffentlich zugänglicher Daten zu Ursachen, Formen und Umfang von Schulausschlüssen, zu Charakteristika der betroffenen SchülerInnen sowie zu behördlichen Verfahrensabläufen bei einem Ausschluss, fiel eine wissenschaftlich fundierte Einschätzung des Phänomens sichtlich schwer. Mit Ausnahme einzelner deutschsprachiger (erziehungs-)wissenschaftlicher Veröffentlichungen, die sich mit dem erschwerten Zugang zu den o.g. Daten sowie dem bildungspolitischen Umgang mit der allgemeinen Schulpflicht und damit auch mit Schulausschlüssen beschäftigen, lassen sich Randbemerkungen zu schulischen Ausschlussmaßnahmen bisher lediglich aus Untersuchungen zu Schulversäumnissen und Schulpflichtverletzungen aus der Kriminologie, der Sozial- und Sonderpädagogik finden. Weit aufschlussreicher und empirisch fundierter sind Studien aus dem englischsprachigen Raum. Nicht nur die Datenlage gestaltet sich beispielsweise in Großbritannien und den USA transparenter, sondern auch der erziehungswissenschaftliche Diskurs über Schulausschlüsse erweitert sich seit den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stetig. Besonders der punitive Charakter der schulischen Ausschlussmaßnahmen und die Debatte um damit verbundene soziale Exklusionsprozesse bilden die Schwerpunkte erziehungswissenschaftlicher Forschung in England und den USA.

Einen der ersten systematischen Beiträge zur Erforschung von schulischen Ausschlussmaßnahmen im deutschsprachigen Raum leistet nun Werner Hürlimann mit seiner Dissertationsschrift „Für die Schule nicht mehr zumutbar“, welche im Kontext des Nationalen Forschungsprogramms 51 „Integration und Ausschluss“ entstand. Hürlimann widmet sich in seiner 397-seitigen Monographie, die sich in fünf thematische Teile mit jeweils weiteren Unterteilungen in mehrere Kapitel gliedert, der Aufarbeitung des disziplinarischen Schulausschlusses in Schweizer Volksschulen aus historischer Perspektive.

Der einleitenden Darstellung der Forschungslage zu Schulausschlüssen folgt eine knappe Beschreibung des Untersuchungsverlaufs, des Datensatzes, des methodischen Vorgehens und der Fragestellung. Der Autor versteht seine Untersuchung als Basis für eine deskriptive Darstellung von Schulausschlüssen und verspricht sich davon nicht nur Aufschlüsse in Bezug auf personenbezogene Kennwerte wie Alter, Geschlecht und besuchter Schultyp der Ausgeschlossenen sowie Gründe und Wirkungen von Schulausschlüssen, sondern versucht besonders die den Ausschlüssen zugrunde liegenden Rahmenbedingungen sowie die Handlungsmodi der involvierten Akteure zu rekonstruieren (25ff.). Als Untersuchungsgebiet wurden einige ausgewählte Schulgemeinden des Kantons Zürich und Zug festgelegt (16), wobei die benötigten Informationen den Protokollen der jeweiligen Schulpflegebehörden und Schulkommissionen entnommen wurden. Den Zeitraum der Untersuchung weitet Hürlimann bewusst auf das gesamte 20. Jahrhundert aus, um durch den diachronischen Charakter seiner Studie Aussagen zu potenziellen Transformationen der Ausschlusspraktiken treffen zu können. In die Untersuchung wurden insgesamt 687 Fälle von Schulausschlüssen einbezogen (21).

Um seinen Forschungsgegenstand präziser zu konturieren, nimmt Hürlimann in Teil I seines Buches theoretische und definitorische Eingrenzungen vor. Unter Schulausschlussmaßnahmen versteht er die schwerste Form staatlicher Reaktionen auf ordnungswidriges Verhalten von SchülerInnen. Damit eng verbunden ist auch der gesetzlich definierte Anspruch des Staates, seine ihm verfassungsmäßig zugewiesene Pflicht der allgemeinen Beschulung umzusetzen bzw. zu gewährleisten (31). Davon ausgehend, dass der Staat im Kontext von Schulausschlüssen disziplinarisch in den Schulalltag eingreift, diskutiert Hürlimann unterschiedliche theoretische Konzepte, die diese disziplinierende Rationalität des Behördenhandelns erklären könnten (32f.). Erklärungsansätze, die den Aspekt der Sozialdisziplinierung und der sozialen Kontrolle fokussieren, hält Hürlimann für unzulänglich, um Aufschlüsse über die Logik behördlicher Ausschlussmechanismen zu gewinnen (35ff.). Fruchtbarer erscheint es ihm, sich auf die erkenntnistheoretischen Konzepte des Pragmatismus und der Politikfeldanalyse zu beziehen, da die Kombination der beiden Ansätze die Möglichkeit eröffnet, Handlungen der direkt Betroffenen zu rekonstruieren und damit offizielle Politik gegenüber tatsächlichen Handlungslinien abzugrenzen (37). Der Schwerpunkt der Untersuchung widmet sich folglich dem Schulausschluss als Produkt eines Aushandlungs- und Problemlösungsprozesses zwischen Behörden, Eltern und SchülerInnen. Das Vergleichsmoment bilden bei Hürlimann die beiden Kantone Zug und Zürich, die sich in Bezug auf die schulbehördliche Organisation graduell unterscheiden. Anschließend an die theoretische Eingrenzung definiert Hürlimann Begriffe, die wesentlich für sein Untersuchungsfeld sind: darunter den Begriff des Schulausschlusses, des abweichenden Verhaltens, der Disziplinschwierigkeit und der Volksschule (45-65).

Den zweiten Teil seines Buches widmet der Autor den Einflussfeldern auf Ausschlussentscheidungen. Zunächst zeichnet er gesellschaftliche, ökonomische und (bildungs-)politische und schulhistorische Entwicklungen in den beiden zu untersuchenden Kantonen im Verlauf des 20. Jahrhunderts auf (69-125). Hürlimann arbeitet auf diese Weise Rahmenbedingungen heraus, die wichtige Implikationen für die Entwicklung und Transformation schulbehördlicher Disziplinarpraktiken mit sich brachten. Dabei betont der Autor, dass in beiden Kantonen gesetzlich zunächst überhaupt keine disziplinarischen Schulausschlüsse vorgesehen waren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand vielmehr die Durchsetzung der Schulpflicht im Vordergrund. Schulausschlüsse wurden nur in Ausnahmefällen und bei nachweislicher Verwahrlosung und sittlicher Gefährdung von SchülerInnen vorgenommen (115). Mehrere Revisionen der Schulgesetzgebungen führten dazu, dass undiszipliniertes Verhalten zunehmend als Grund für einen Schulausschluss in den Mittelpunkt rückte, auch wenn sich diese Transformationen in den beiden Kantonen asynchron vollzogen. Gegenwärtig ist für beide Kantone charakteristisch, dass keine einheitlichen gesetzlichen Regelungen für die Betreuungsverantwortung nach einem Schulausschluss existieren (118). Wie Hürlimann annimmt, haben nicht nur rechtliche und schulorganisatorische Bedingungen Auswirkungen auf Entscheidungen zum Schulausschluss. Vielmehr beeinflussen auch die fachdisziplinären pädagogischen Diskurse die Debatte um Schulausschlüsse. Daher arbeitet Hürlimann zum Abschluss seines zweiten Teils den pädagogischen Diskurs zur Strafthematik im Allgemeinen und zum Schulausschluss im Besonderen heraus (126-142).

Im Kapitel III entfaltet Hürlimann die empirischen Ergebnisse seiner Studie. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass schon immer mehr Jungen als Mädchen von Schulausschlüssen betroffen waren und dass das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt des Schulausschlusses historisch betrachtet von rund zehn Jahren kontinuierlich auf über 15 Jahre anstieg (146ff.). Auch in Bezug auf die Verteilung der Schulausschlüsse auf die unterschiedlichen Schultypen bzw. -zweige lassen sich zeitliche Veränderungen beobachten. Seit der Ausdifferenzierung des Schulwesens der Schweizer Volksschule zählt die Versetzung von SchülerInnen aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten in leistungsmäßig schwächere Klassen zu den am häufigsten praktizierten Maßnahmen. Ausschlüsse hingegen erfolgen in den meisten Fällen aus der Realschule oder aus den Sonderklassen der Sekundarstufe I (155), da diese Schulstufen das unterste Schulniveau darstellen und eine Versetzung von SchülerInnen nach unten nicht mehr möglich ist. Als eine weitere Vergleichskategorie im Kontext von Schulausschlüssen kann die nationale Herkunft fungieren. Hier greift Hürlimann aber vor allem auf andere Studien im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 51 zurück, da die Quellen seiner Untersuchung in den seltensten Fällen die Nationalität der Ausgeschlossenen erfassten (157). Dennoch bestätigt sich der Trend, dass ein erheblicher Anteil an ausgeschlossenen SchülerInnen ausländischen Nationalitäten angehört. An dieser Stelle wird auch die außerordentliche Relevanz des Phänomens Schulausschluss für die Interkulturelle Pädagogik evident, da Hürlimann implizit die Handlungsrationalitäten der Organisation Schule gegenüber Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund aufdeckt.

Hürlimann betont zum Abschluss dieses Kapitels, dass seine Ergebnisse auf rein deskriptiven Aussagen mit beschränkter Repräsentativität beruhen und damit lediglich Tendenzen aufzeigen, wobei die Aussagen zum Alter, Geschlecht und der Verteilung auf die Schultypen zu den verlässlichsten zählen (159ff.). Dieser Umstand sowie die Dynamik der politischen und schulgesetzlichen Veränderungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts erschweren auch eine Aussage über einen allgemeinen Anstieg bzw. Rückgang von Schulausschlüssen im historischen Vergleich.

Nach der Analyse eines groben Profils der Ausgeschlossenen, widmet sich der Autor den Auslösern von Schulausschlüssen. Auch hierbei lassen sich historische Veränderungen beobachten. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Durchsetzung eines pünktlichen und ununterbrochenen Schulbesuchs das Hauptproblem des Schulalltags darstellte, verschob sich dieses mit der gesellschaftlichen Akzeptanz der allgemeinen Schulpflicht hin zu der Aufrechterhaltung der schulischen Disziplin. Nicht mehr die Einhaltung von erwünschtem Verhalten, sondern die Unterbindung von unerwünschtem Verhalten im Sinne von Störung rückte in den Vordergrund gesetzlicher Regelungen (227). Zu den häufigsten Gründen von Schulausschluss zählt Hürlimann die aktive und passive Schulverweigerung, Disziplin- und Verhaltensprobleme innerhalb und außerhalb der Schule, Konflikte mit MitschülerInnen, Verstöße gegen die Sittlichkeit und sexuelle Übergriffe, Anzeichen körperlicher Verwahrlosung, psychische Probleme, schwierige familiäre Situationen sowie Drogenprobleme (164). Der Autor weist allerdings darauf hin, dass häufig nicht einzelne Vorfälle zum Schulausschluss geführt haben, sondern die Kumulation unterschiedlichster Faktoren schließlich ausschlaggebend war.

Das Problem eines fehlenden Konsenses darüber, was ein Schulausschluss ist, charakterisiert den fünften Teil von Hürlimanns Publikation. Hier nimmt er eine differenzierte Aufarbeitung der verschiedensten Formen von schulischen Ausschlusspraktiken vor, die sich in einem Spektrum von Androhung eines Schulausschlusses über die Durchsetzung von befristeten Unterrichts- und Schulausschlüssen, Wegweisungen und Versetzungen bis hin zu definitiven Ausschlüssen bewegt. In diesem Zusammenhang geht der Autor auch auf Verfahrensunsicherheiten, Kompetenzüberschreitungen, Rekurse durch die Eltern und Revisionen von Schulausschlüssen durch die Schulbehörden selbst ein. Seine Ausführungen laufen schließlich auf die eingangs formulierte These hinaus, dass Schulausschlüsse mehr als Aushandlungsprozesse denn als einseitige Behördenentscheidungen im Sinne einer gezielten Sozialdisziplinierung betrachtet werden müssen (339) und runden damit den Bezug zum theoretischen Rahmenmodell ab. Den Abschluss dieses Teils bildet eine Übersicht über den unmittelbaren Verbleib der Ausgeschlossenen und die längerfristigen Auswirkungen eines Ausschlusses.

Um die gewonnenen Erkenntnisse zusammenzufassen, wählt Hürlimann in Teil V seiner Monographie zwei Fallbeispiele der Untersuchung aus und expliziert noch einmal die einzelnen Facetten der Studie.

Mit seiner Studie leistet Werner Hürlimann einen wichtigen Beitrag zur deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Forschung zu Schulausschlüssen. Seine Darstellung kann sowohl als Einführung in den theoretischen Diskurs um Schulausschlüsse als auch als ausführliche und differenzierte Analyse der schulbehördlichen und -pädagogischen Ausschlusspraktiken betrachtet werden.
Kristina Mattern (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kristina Mattern: Rezension von: Hürlimann, Werner: Für die Schule nicht mehr zumutbar, Der Schulausschluss als behördliche Reaktion auf abreichendes Schülerverhalten im 20. Jahrhundert in Schweizer Volksschulen. Bern u.a.: Lang 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303911292.html