In jüngerer Zeit wurden im Berufsbildungssystem der Schweiz tiefgreifende Reformen eingeleitet, was diesem auch eine bedeutend grössere internationale Beachtung brachte. Die moderne Berufsbildung, die unter anderem den Lehrvertrag und den Besuch der Berufsschule zwingend vorschreibt, wurde 1933 erstmals auf eidgenössischer Ebene gesetzlich geregelt. Aus Anlass dieser wichtigen Zäsur in der Geschichte der schweizerischen Berufsbildung will der vorliegende Sammelband die aktuellen Diskussionen um die Berufsbildung mit Beiträgen aus unterschiedlichen Perspektiven bereichern. Die insgesamt 13 Beiträge lösen dieses Versprechen jedoch nur zum Teil ein: Neben der Darstellung der Entstehung des Gesetzes dominieren die (bildungs)politische und die ökonomische Perspektive, die im Untertitel aufgeführte pädagogische Perspektive ist jedoch kaum auszumachen.
Im ersten Teil beschreiben drei Beiträge die Entstehungszusammenhänge des Berufsbildungsgesetzes von 1933. Tibor Bauder bettet seine Ausführungen in die Geschichte des Schweizer Bundesstaates, der 1848 nach dem Sieg der Liberalen gegründet wurde. Weit ausgreifend stellt er dabei die politischen Debatten der wichtigen Akteure ins Zentrum seiner Darstellung. Die lange Vorgeschichte des Berufsbildungsgesetzes, verfasst von Fritz Osterwalder, fokussiert die Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts, die einen entscheidenden Schritt weg von den zünftigen Ausbildung im Betrieb hin zur modernen Berufsbildung brachten. So ausführlich die Darstellung der politischen Geschichte in diesen beiden Beträgen ist, so eng ist der historische Fokus. Die grösseren Zusammenhänge werden praktisch gänzlich ausgeblendet. Zu nennen wären hier: in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, die wirtschaftliche Entwicklung vor dem Hintergrund der durchgreifenden Industrialisierung und des modernen Fremdenverkehrs sowie die Herausbildung des Sonderfallverständnisses; der Erste Weltkrieg als Bruch und die Akzentuierung der kulturellen und sozialen Gräben in dessen Folge; die Krise und die Annäherung zwischen dem Bürgertum und der Linken im Kontext der geistigen Landesverteidigung in den 30er-Jahren.
Philipp Gonons Beitrag zeichnet die Vorgeschichte des ersten schweizerischen Berufsbildungsgesetzes aus transnationaler Optik nach. Er zeigt, dass sich im Zeitraum von 1870 bis 1914 in verschiedenen Ländern neue Systeme der Berufsbildung entwickelten. Dabei spielten in ideellem Sinne die Welt- und Landesausstellungen eine wichtige Rolle, während der Aufbau von beruflichen Bildungsinstitutionen hauptsächlich die Förderung der nationalen Wirtschaft zum Zwecke hatte.
Teil 2, mit Ordnung und System überschrieben, beinhaltet vier Texte. Diese beschäftigen sich mit den Auswirkungen des Strukturwandels auf die Beschäftigung und die Berufsbildung (Beat Hotz-Hart), mit dem Recht auf Berufsbildung, das in der schweizerischen Rechtsordnung zwar nicht verankert ist, aber mit dem Bildungsartikel in der Bundesverfassung und mit dem neuen Berufsbildungsgesetz besonders die Bildungschancengleichheit verbessert (Paul Richli), mit den Kosten und Nutzen der Lehrlingsausbildung in internen und externen Ausbildungszentren (Stefan C. Wolter), sowie mit dem Zusammenspiel von Bildung und Beschäftigung in der Schweiz (Karl Weber). Der letztgenannte Beitrag analysiert zunächst die Beziehung zwischen Berufsbildung und Beschäftigung. Dabei wird festgestellt, dass das Feld von zahlreichen Akteuren besetzt ist und das Funktionieren der Berufsbildung wohl am besten systemtheoretisch als strukturelle Koppelung zwischen Wirtschafts- und Erziehungssystem begriffen werden kann. Die Berufsbildung in der Schweiz kann bis anhin als Ergebnis des erfolgreichen Zusammenwirkens zwischen Ermöglichungs- und Nutzungsstruktur betrachtet werden. Dieses System, so der Autor, wird in Zukunft allerdings durch sinkende Lehrlingsquoten in der Folge des Strukturwandels, durch veränderte Arbeitsorganisation, durch zunehmende Statusallokation und durch verstärkte alternative Qualifizierungsverfahren gefährdet. Eine Pluralisierung der Berufsbildung und eine grössere Durchlässigkeit zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung werden die Folgen sein.
Im dritten Teil, der der Innovation gewidmet ist, stellt sich Siegfried Hanhart die Frage, wie die ökonomische Rentabilität mit der sozialen Verantwortung in der Berufsbildung (wieder-) versöhnt werden kann. Seine Antwort ist sehr klar: Eine verbesserte schulische Vorbereitung der Jugendlichen auf die berufliche Ausbildung soll gleichzeitig die Rentabilität der Bildung für die ausbildenden Betriebe erhöhen und die Zugangsgerechtigkeit zu den Lehrstellen verstärken. Urs Kiener beklagt in seinem Aufsatz, dass das neue Berufsbildungsgesetz, vor allem aber auch die Politik des Bundes (Bundesamt für Berufsbildung und Technologie, BBT) an der Dichotomie Berufsbildung vs. Allgemeinbildung festhält, obwohl diese Selbstausschliessung quer zur europäischen Entwicklung verläuft.
Wie zutreffend Urs Kieners Kritik am linearen Blockdenken der Akteure in der Berufsbildung ist, zeigen auch die Beiträge des letzten Teils, in dem aus partei- und aus verbandspolitischer Perspektive Bilanz gezogen wird. So unterschiedlich die politischen Forderungen an die künftige Gestaltung der Berufsbildung sind (ordnungs- und wirtschaftspolitische vs. sozial- und gesellschaftspolitische Ansprüche), so einig sind sich Christine Davatz-Höchner und Heinz Ochsenbein (Gewerbeverband), Peter Siegrist (Gewerkschaftsbund), Rudolf H. Strahm (SP-Politiker) und Thomas Daum (Arbeitgeberverband) in der Ablehnung der „Gymnasialisierung“ und „Verakademisierung“ und mithin der Auflösung der nach wie vor recht starren Grenzen zwischen der Berufsbildung und der Allgemeinbildung auf der Sekundarstufe II. Stark aus dem Rahmen fällt in diesem Teil der Beitrag von Strahm, der als äusserst polemische Abrechnung mit politischen Gegnern daher kommt.
Die Herausgeber nennen als Adressaten des Werkes die bildungspolitisch interessierte Öffentlichkeit, das Fachpublikum sowie in der Berufsbildung tätige Lehrkräfte und Ausbilder. Es muss allerdings bezweifelt werden, ob die interessierte Öffentlichkeit und die in der Berufsbildung Tätigen sich in die Lektüre des Buches vertiefen. Der Hauptgrund zu dieser Annahme liegt in der Abfolge der Beiträge: Die Texte des ersten Teils sind in ihrer Perspektive recht eng und es finden sich einige Wiederholungen. Auch die zum Teil sehr ausführlichen chronologischen Darstellungen der Entwicklung der schweizerischen Berufsbildung in den Beiträgen am Ende des Buches wirken ermüdend und bringen wenig neue Erkenntnisse. Zudem sind die Sprache und die Abbildungen eines Beitrags alles andere als leserfreundlich.
Diese Kritik richtet sich weniger an die Autorinnen und Autoren – die einzelnen Beiträge sind (mit einer Ausnahme) als Einzeltexte durchaus interessant und lesenswert – als vielmehr an die Herausgeber: Mit einem einleitenden Kapitel gewänne das Buch viel, stattdessen hätte man auf einen der drei „historischen“ Beiträge ohne grossen Verlust verzichten können. Auch die drei letzten Beiträge wären gut durch Kürzungen auf die Kernaussagen beschränkbar gewesen. Vor allem aber hätten zwei Beiträge aus der Optik der Ausbildungspraktiker (Berufsfachschullehrkräfte, Ausbildner) dem Werk gut getan.
Immerhin verdeutlicht das Buch eindrücklich, welchen (divergierenden) Zugkräften die Berufsbildung in der Schweiz ausgesetzt ist und wie der starke Bildungsföderalismus eine einigermassen konsistente Bildungspolitik auf der Sekundarstufe II nach wie vor verhindert.
EWR 8 (2009), Nr. 2 (März/April)
75 Jahre eidgenössisches Berufsbildungsgesetz
Politische, pädagogische, ökonomische Perspektiven
Bern: hep Verlag 2008
(372 S.; ISBN 978-3-03905-462-6; 29,00 EUR)
Claudio Caduff (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Claudio Caduff: Rezension von: Bauder, Tibor / Osterwalder, Fritz (Hg.): 75 Jahre eidgenössisches Berufsbildungsgesetz, Politische, pädagogische, ökonomische Perspektiven. Bern: hep Verlag 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303905462.html
Claudio Caduff: Rezension von: Bauder, Tibor / Osterwalder, Fritz (Hg.): 75 Jahre eidgenössisches Berufsbildungsgesetz, Politische, pädagogische, ökonomische Perspektiven. Bern: hep Verlag 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303905462.html