„Soziologie kann in einer ungleichen Gesellschaft nicht populär werden, weil sie laufend Ungleichheiten aufdeckt“ (15) schreiben die Gebrüder Martin Albert und Erich Otto Graf in ihrem Buch über die Schule. Das Popularitätsdefizit erweist sich im Kern als Rationalitätsdefizit im öffentlichen (und teilweise auch im fachlichen) Diskurs über Schule und Schulreform (8), und es bildet für Graf und Graf den Anlass und den Rahmen für die vorliegende Zusammenstellung soziologischer Analysemöglichkeiten der Bildungsinstitution. Die Absicht formulieren sie so: „Wir wollen an unterschiedliche theoretische Bestände einer Disziplin erinnern, welche es ermöglichen, das aktuelle Geschehen in und um Bildungssysteme, die widersprüchlichen Anforderungen an Teile dieser Bildungssysteme und die Reaktionsweisen innerhalb derselben etwas anders, vor allem im Zusammenhang mit anderem betrachten zu können“ (55). In diesem Sinne hat das Buch ein didaktisches Format, es zielt auf die soziologische Bildung von Bildungsakteuren – und es ist doch kein klassisches Lehrbuch zur Bildungssoziologie, sondern eher so etwas wie ein kritisches Kursbuch, das zur Analyse aktuell bestehender Denk- und Handlungsmuster beiträgt und anleitet.
In das kritische Programm haben folgende Zugänge Eingang gefunden: Die funktionale Analyse und Ideologiekritik (Kapitel 2), die Soziologie sozialer Probleme nach Robert K. Merton, die weltgesellschaftlich ansetzende Strukturtheorie der Verteilung materieller und immaterieller Güter des Zürcher Soziologen Peter Heintz (Kapitel 3), die Anomietheorie von Robert K. Merton (Kapitel 4) sowie ethnopsychoanalytische und sozialisationstheoretische Zugänge zur Gegenwart und Geschichte der Generationen-, Identitäts- und Geschlechterverhältnisse im Anschluss an Mario Erdheim und Norbert Elias (Kapitel 5 und 6). Die Autoren kommentieren die Auswahl wie folgt: „Die in diesem Buch verwendeten Modelle zum Verständnis und zur Erklärung der Bildungsinstitution sind in sich heterogen. Wir haben jene Modelle beigezogen, die uns unter einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive instruktiv für bestimmte Frage- und Problemstellungen zu sein scheinen. Die damit verbundene Heterogenität haben wir in Kauf genommen, zugunsten eines einfacheren Zugangs. Die Zusammensetzung ist nicht beliebig, sondern selektiv“ (206).
Diese Konzeption ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Einerseits versammelt sie ausgewählte analytische Zugänge, die eine Fokussierung soziologischer Wissensbestände auf die Analyse und Behandlung öffentlicher Probleme der Bildungsinstitution erlauben ohne dass die Wissensbestände selbst aus ihrem historischen Kontext gerissen würden. Andererseits wird dadurch eine Verdichtung in der Problemformulierung selbst erreicht, d.h. ein Distanzgewinn durch gesellschaftstheoretische Analyse. Beispielhaft wird das deutlich an der Theorie des Schuleintritts. Der empirische Moment des Schuleintritts wird als „Stunde Null“ (66) beschrieben, worunter der Vorgang verstanden wird, dass die Bildungsinstitution als Einrichtung demokratischer Nationalstaaten zugleich Gleichheit und Ungleichheit dadurch erzeugt, dass sie durch eine arbiträre Maßnahme einen Parcours eröffnet, der für alle gleich eingerichtet ist mit dem Ziel, Differenz herzustellen. Der Universalismus der Institution und der Partikularismus seiner realen Performanz erzeugen einen Spannungsgehalt, der sich mit pädagogischem Wissen anfüllt und dieses zugleich mehrfach spaltet – in Sonder-, Sozial-, Schul- und andere Pädagogiken. Was hier als Strukturierung sichtbar wird, lässt sich auf andere empirische Momente übertragen und durch das Einbeziehen gegenstandsadäquater Methoden und Begrifflichkeiten anreichern.
Im Unterschied zu einem klassischen Lehrbuch, in welchem Theorien und Positionen referiert werden, wird bei Graf und Graf deutlich, dass es auf die Leistungsfähigkeit von Theorien und Positionen ankommt, was Kreativität impliziert. Es impliziert bisweilen auch Widerspruch, etwa dort, wo der Leser und die Leserin dem Kurs des Kursbuches nicht folgen mag, weil die Einschätzung empirischer Sachverhalte als überzogen und durch die Analyse nicht gedeckt erscheinen (etwa bezogen auf den Unterschied von Interesse und Motivation 83ff). Widerspruch aber ist in dieser Form des Bücherschreibens Anlass zur eigenständigen Problemformulierung bei den Lesenden und im Effekt intendiert – also eine Didaktik für den Igel, nicht für den Hasen. In diesem Sinne ist auch die methodologische Unruhe, welche bisweilen zwischen den eher objektivistischen Instrumentarien, der Evokation von Rationalität durch die Fokussierung auf Kritik und der wissenssoziologischen Sensibilität entsteht, auf der Seite der Leistungsfähigkeit für das Weiterdenken mit dem vorgelegten Buch zu verbuchen.
EWR 8 (2009), Nr. 3 (Mai/Juni)
Schulreform als Wiederholungszwang
Zur Analyse der Bildungsinstitution
ZĂĽrich: Seismo Verlag 2008
(228 S.; ISBN 978-3-03777-061-0; 28,00 EUR)
Jan Weisser (Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jan Weisser: Rezension von: Graf, Martin Albert / Graf, Erich Otto: Schulreform als Wiederholungszwang, Zur Analyse der Bildungsinstitution. ZĂĽrich: Seismo Verlag 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303777061.html
Jan Weisser: Rezension von: Graf, Martin Albert / Graf, Erich Otto: Schulreform als Wiederholungszwang, Zur Analyse der Bildungsinstitution. ZĂĽrich: Seismo Verlag 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303777061.html