
In das kritische Programm haben folgende Zugänge Eingang gefunden: Die funktionale Analyse und Ideologiekritik (Kapitel 2), die Soziologie sozialer Probleme nach Robert K. Merton, die weltgesellschaftlich ansetzende Strukturtheorie der Verteilung materieller und immaterieller Güter des Zürcher Soziologen Peter Heintz (Kapitel 3), die Anomietheorie von Robert K. Merton (Kapitel 4) sowie ethnopsychoanalytische und sozialisationstheoretische Zugänge zur Gegenwart und Geschichte der Generationen-, Identitäts- und Geschlechterverhältnisse im Anschluss an Mario Erdheim und Norbert Elias (Kapitel 5 und 6). Die Autoren kommentieren die Auswahl wie folgt: „Die in diesem Buch verwendeten Modelle zum Verständnis und zur Erklärung der Bildungsinstitution sind in sich heterogen. Wir haben jene Modelle beigezogen, die uns unter einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive instruktiv für bestimmte Frage- und Problemstellungen zu sein scheinen. Die damit verbundene Heterogenität haben wir in Kauf genommen, zugunsten eines einfacheren Zugangs. Die Zusammensetzung ist nicht beliebig, sondern selektiv“ (206).
Diese Konzeption ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Einerseits versammelt sie ausgewählte analytische Zugänge, die eine Fokussierung soziologischer Wissensbestände auf die Analyse und Behandlung öffentlicher Probleme der Bildungsinstitution erlauben ohne dass die Wissensbestände selbst aus ihrem historischen Kontext gerissen würden. Andererseits wird dadurch eine Verdichtung in der Problemformulierung selbst erreicht, d.h. ein Distanzgewinn durch gesellschaftstheoretische Analyse. Beispielhaft wird das deutlich an der Theorie des Schuleintritts. Der empirische Moment des Schuleintritts wird als „Stunde Null“ (66) beschrieben, worunter der Vorgang verstanden wird, dass die Bildungsinstitution als Einrichtung demokratischer Nationalstaaten zugleich Gleichheit und Ungleichheit dadurch erzeugt, dass sie durch eine arbiträre Maßnahme einen Parcours eröffnet, der für alle gleich eingerichtet ist mit dem Ziel, Differenz herzustellen. Der Universalismus der Institution und der Partikularismus seiner realen Performanz erzeugen einen Spannungsgehalt, der sich mit pädagogischem Wissen anfüllt und dieses zugleich mehrfach spaltet – in Sonder-, Sozial-, Schul- und andere Pädagogiken. Was hier als Strukturierung sichtbar wird, lässt sich auf andere empirische Momente übertragen und durch das Einbeziehen gegenstandsadäquater Methoden und Begrifflichkeiten anreichern.
Im Unterschied zu einem klassischen Lehrbuch, in welchem Theorien und Positionen referiert werden, wird bei Graf und Graf deutlich, dass es auf die Leistungsfähigkeit von Theorien und Positionen ankommt, was Kreativität impliziert. Es impliziert bisweilen auch Widerspruch, etwa dort, wo der Leser und die Leserin dem Kurs des Kursbuches nicht folgen mag, weil die Einschätzung empirischer Sachverhalte als überzogen und durch die Analyse nicht gedeckt erscheinen (etwa bezogen auf den Unterschied von Interesse und Motivation 83ff). Widerspruch aber ist in dieser Form des Bücherschreibens Anlass zur eigenständigen Problemformulierung bei den Lesenden und im Effekt intendiert – also eine Didaktik für den Igel, nicht für den Hasen. In diesem Sinne ist auch die methodologische Unruhe, welche bisweilen zwischen den eher objektivistischen Instrumentarien, der Evokation von Rationalität durch die Fokussierung auf Kritik und der wissenssoziologischen Sensibilität entsteht, auf der Seite der Leistungsfähigkeit für das Weiterdenken mit dem vorgelegten Buch zu verbuchen.