EWR 15 (2016), Nr. 4 (Juli/August)

Andreas Gelhard
Kritik der Kompetenz
Zürich: diaphanes 2011
(166 S.; ISBN 978-3-03734-143-8; 14,95 EUR)
Kritik der Kompetenz „Kompetenz (Subst.), die – das ist praktisch alles. Wenn du die hast, bist du fast unsterblich.“ [1] Wer seine Kompetenzen regelmäßig trainiert und erweitert, ist für die Widrigkeiten, die das Leben mit sich bringt, gerüstet. Dieses Versprechen, das den Diskurs um Kompetenz trägt, hat zugleich einen drohenden Unterton: Wer sich nicht richtig um seine Kompetenzen kümmert, sie nicht dauernd zu steigern und zu verbessern sucht, sie sogar brachliegen oder verkümmern lässt, muss damit rechnen, „ein unbefriedigendes Leben am Rande der Gesellschaft [zu] fristen“. [2] Das zumindest ist der Punkt, an dem Andreas Gelhardts bereits 2011 erschienene „Kritik der Kompetenz“ einsetzt. Der Kompetenzdiskurs verspreche Erfolg im Beruf wie im Privatleben – und drohe diejenigen, die das Angebot von „ein wenig Anleitung“ (8) ausschlagen. Gelhards Genealogie der Kompetenz stellt den Versuch dar, „die Geschichte jener Geste zu schreiben, mit der uns die Psychologie seit 100 Jahren ‚ein wenig Anleitung‘ anbietet.“ (ebd.) Kompetenz ist ein Angebot, das man nicht ablehnen kann.

Damit ist bereits angedeutet, was das Buch nicht zu leisten vermag: Es widmet sich nicht den in der schulpädagogischen sowie fachdidaktischen Diskussion kursierenden Kompetenzbegriffen, eine differenzierte Betrachtung verschiedener Konzepte von Kompetenz und deren Operationalisierung ist also nicht zu erwarten; es argumentiert auch nicht bildungstheoretisch und versucht, den Begriff der Bildung gegenüber dem der Kompetenz zu stärken. Gleichwohl dürfte Gelhards philosophische Kritik auch für diejenigen eine bereichernde Lektüre darstellen, die an schulpädagogischen, fachdidaktischen, bildungstheoretischen oder bildungspolitischen Debatten um den Kompetenzbegriff interessiert sind. Gelhard gräbt tief, er spürt den Anfängen und Herkünften nicht nur der Kompetenz, sondern den humanwissenschaftlichen Beobachtungs- und Prüfungsverfahren nach, skizziert ihre Transformationen, analysiert ihre subjektivierenden Effekten, um zugleich angesichts eines Kompetenzbegriffs, der behauptet, für alle gesellschaftlichen Krisen wie für die Wechselfälle des Lebens als Problemlösungsformel zu fungieren und welcher „Anspruch auf Leitung in allen Lebensbereichen“ (9) erhebt, nach Möglichkeiten zu suchen, sich dem Angebot von „ein wenig Anleitung“ zu entziehen.

Gelhard unternimmt diese Suche in drei Kapiteln. Das erste trägt den Titel „Von der Gewissensprüfung zum Persönlichkeitstest“: Mit Kant, Hegel und Foucault werden drei Komplizen einer philosophischen „Kritik der Kompetenz“ vorgestellt. Kant bindet das Selbstdenken an eine Prüfung, die gerade nicht mit einer standardisierten Überprüfung zu verwechseln ist, sondern das Wagnis meint, sich dem Urteil anderer auszusetzen. Der öffentliche Gebrauch der Vernunft ist nur „auf Augenhöhe und ohne festgelegte Positionen“ (24) möglich, während im Rahmen der Gewissensprüfung die Beobachtenden und Prüfenden für die Geprüften unsichtbar bleiben. Mit Hegel wiederum weist Gelhard auf Gefahren hin, die nicht bloß von der Zensur, sondern auch von reglementierten Prüfungsverfahren ausgehen. Gerade diese sind es nämlich, die die Selbstprüfung der Vernunft im Medium der öffentlichen Auseinandersetzung am stärksten bedrohen, weil ihre Machteffekte im Gegensatz zur Zensur nicht offen liegen. Hegels in seinem frühen Text über „Die Positivität der christlichen Religion“ entfaltete Kritik der Gewissensprüfung hebt gerade die Subtilität hervor, mit der Fragen, die andere bestimmen, zu den eigenen werden – zu Fragen, die es mir erlauben, nicht nur mein Handeln, sondern auch meine Empfindungen daraufhin zu überprüfen, ob sie gottgefällig sind oder nicht. Das ist das für Gelhard entscheidende Moment: Es geht eben nicht nur um die Taten, sondern auch um Gefühle. Richtig zu empfinden, ist aber kaum ein ein für alle Mal zu erreichendes Ziel, sondern setzt eine andauernde, nicht zu einem Ende kommende Übung und Selbstprüfung voraus. „Diese Bearbeitung der Seele durch Exerzitien folgt aber nicht mehr der Logik von Gesetz und Übertretung, sondern der Logik einer letztlich unabschließbaren Steigerung.“ (30) Damit nimmt Hegel vorweg, was Michel Foucault immer wieder beschäftigt hat: die Frage, wie Geständnis- und Prüfungstechniken bei den Geprüften das Gesollte ins selbst Gewollte überführen und das Begehren zu einer andauernden Selbstbeobachtung und Selbststeigerung stiften.

Die folgenden, eher schlaglichtartigen Betrachtungen Gelhards der angewandten Psychologie und ihrer Bestrebung „einer umfassenden Psychologisierung des Alltagslebens“ (48) werden unter dieser Perspektive unternommen. Auch wenn die Passagen zu William Stern und Hugo Münsterberg – zu dem Problem der Selektion nach Leistung und nicht Herkunft (Stern) sowie der Frage, wie Passungen von Persönlichkeit und Beruf ermittelt werden können (Münsterberg) – knapp gehalten sind, zeigen sie doch, wie die Ausweitung von Prüfungstechniken das Versprechen transportiert, Probleme des sozialen Wandels, der wirtschaftlichen Entwicklung oder gar der Gerechtigkeit angemessen bearbeiten zu können – und auf diese Weise die Bedingungen ihrer Akzeptanz schafft. Während der Begriff der Intelligenz, der zunächst als einheitliches Maß für alles im Zentrum dieses Versprechens steht, zugleich eng mit eugenischen Bestrebungen verknüpft ist, wendet sich das Plädoyer David McClellands aus dem Jahr 1973 – „Testing for competence rather than for „intelligence““ – gegen dieses Erbe des Intelligenzbegriffs: Das Testen von Kompetenzen soll Passungen und Eignungen nicht nur genauer ermitteln, sondern zudem die Übungs- und mithin Steigerungsfähigkeit von jeglichen Fähigkeiten hervorheben. Diese „Emphase des Erzieherischen“ (61) ist dem Kompetenzbegriff also von Anfang an eingeschrieben – und sie hat in den Augen Gelhards einen hohen Preis: „Die These, dass schlechterdings alles trainierbar ist, funktioniert dabei so gut, wie es Foucault für die Pädagogik am Beispiel der Übung gezeigt hat: Sie erlaubt es, Prüfungstechniken in jeden Winkel des Arbeitsalltags einzubauen und die Ergebnisse der Prüfungen als Anlässe für Trainingsangebote zu verwerten.“ (61f)

Was damit auf dem Spiel steht, ist das Anfangenkönnen als entscheidendes Moment von Freiheit – und eben dieser Gedanke steht am Beginn des zweiten Kapitels mit dem Titel „Kommunikation und Kontakt“. Mit Hannah Arendt, die hier zusammen mit Bernhard Waldenfels als Stichwortgeberin fungiert, hebt Gelhard die dem (politischen, also im Miteinander) Handeln verknüpfte Möglichkeit hervor, Neues in eine bestehende Ordnung einzuführen. Demgegenüber kennzeichnet die im ersten Kapitel skizzierten Prüfungstechniken, dass sie Handeln schon vorab auf bestimmte Alternativen festlegen und auf diese Weise „vorstrukturieren, „als wer“ man überhaupt „im Miteinander“ erscheinen kann.“ (75) Was damit in Bahnen gelenkt wird, ist die Möglichkeit des Miteinanderhandelns und Aufeinanderantwortens. Mehr noch: Im Rahmen der von Gelhard in diesem Zusammenhang analysierten human relations-Doktrin sind es gerade „Kontakt und Kommunikation“, die optimiert werden sollen. Gelhards kleine Genealogie der empfindungsoptimierenden Techniken schließt dabei Schillers Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, die Lehre der human relations Elton Mayos, den exakt zweihundert Jahre nach Schillers Briefen erschienene Bestseller „Emotionale Intelligenz“ von Daniel Goleman sowie die anhand von Luc Boltanskis und Ève Chiapellos „Der neue Geist des Kapitalismus“ diskutierte „Aufmerksamkeit für das Informelle“ (111) ein.

Dass diese sehr heterogenen Theorien und Texte immer nur in einer bestimmten Hinsicht von Relevanz sind, kann man auf der einen Seite sicherlich monieren, denn Gelhards Genealogie unterschlägt andere mögliche Lesarten und lässt auch die zuweilen reichhaltige Forschung (beispielsweise zu Schillers Briefen, die man nicht nur mit Blick auf das in ihnen artikulierten Versöhnungsversprechen lesen kann) außen vor; auf der anderen Seite ermöglicht es diese Herangehensweise, neue und unerwartete Verbindungslinien aufscheinen zu lassen, die auch die gegenwärtige Diskussion um den Begriff der Kompetenz in ein anderes Licht tauchen. Das Versprechen der Kompetenz hat – und darauf läuft das abschließende, die Fäden zusammenziehende, schlicht „Kritik der Kompetenz“ überschriebene dritte Kapitel letztlich hinaus – weitreichende politische Konsequenzen: Die Allzuständigkeit der pädagogischen und psychologischen Prüfungstechniken beschneidet politisches Handeln, indem sie die Möglichkeit des Neuen in die Entscheidung zwischen vorgegeben Alternativen transformiert und zugleich politische Konflikte und soziale Antagonismen in das Problem des richtigen Trainings von individuellen sozialen und emotionalen Fähigkeiten überführt.

Das Versprechen der Kompetenz als politische Verheißung sichtbar zu machen, ist aus meiner Sicht der entscheidende Gewinn der vorliegenden Analyse. Dass sie dabei eher schlaglichtartig verfährt und Zuspitzungen nicht scheut, wurde schon angemerkt. Aber gerade diese Zuspitzungen vermögen es, bisher kaum in den Blick genommene Konsequenzen eines Versprechens auszuleuchten, das im Lichte von Gelhards Genealogie seine politische Unschuld verliert.

[1] Alfred Schirlbauer: Ultimatives Wörterbuch der Pädagogik. Diabolische Betrachtungen. 2., erweiterte Auflage. Wien: Sonderzahl 2015, 61.
[2] OECD: OECD Skills Strategy. Bessere Kompetenzen, bessere Arbeitsplätze, ein besseres Leben: ein strategisches Konzept für die Kompetenzpolitik. Schwerpunkte der OECD Skills Strategy. Paris: OECD Publishing, 2.
Christian Grabau (Tübingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Grabau: Rezension von: Gelhard, Andreas: Kritik der Kompetenz. Zürich: diaphanes 2011. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303734143.html