EWR 19 (2020), Nr. 1 (Januar / Februar)

Fabian Goppelsröder
Aisthetik der Müdigkeit
Zürich: Diaphanes 2018
(144 S.; ISBN 978-3-0358-0083-8; 20,00 EUR)
Aisthetik der Müdigkeit Fabian Goppelsröder geht in seinem Buch von der Beobachtung aus, dass dem Phänomen der Müdigkeit in aktuellen Auseinandersetzungen zu wenig bzw. auf unterkomplexe Weise Raum geschenkt werde.

Der Autor, der Philosophie und Geschichte studierte, und schwerpunktmäßig im Bereich der Ästhetik, Poetik und Medienphilosophie forscht, verschreibt sich daher, auch mit Blick auf philosophische und teilweise soziologische Referenzen, der Erkundung des eigentümlichen Zwischenstatus der Müdigkeit. Es ist dies ein Status, „der weder Wachheit ist noch Wachheit indirekt befördert“ (35).

Das Buch schließt an Diagnosen neoliberaler Entwicklungen an und führt über verschiedene Beispiele das Ideal einer wachen Gesellschaft vor, in der die Müdigkeit zum „Skandalon“ (141) geworden sei, das es zu beseitigen gelte.

Mit diesen Ausgangspunkten operiert das Buch über die Differenz zwischen linearer und verzögerter Zeit [1] und kritisiert dabei gegenwärtige Linearitätsannahmen, die mit dem Phantasma der Kontrolle und Quantifizierbarkeit auf die Nutzbarmachung und Funktionalisierung von Zeit abzielen. Demgegenüber macht Goppelsröder das Motiv einer zweckfreien Verzögerung durch Müdigkeit stark, und plädiert schließlich für eine Sensibilisierung und „Erziehung zur Müdigkeit, um ihre besondere Aisthetik wiederzuentdecken“ (102).

Zunächst wird gezeigt, dass in einer „Zeit, in welcher der Imperativ des 24/7 universell geworden ist, die kapitalistische Optimierung alle Lebensbereiche ergriffen hat“ (12) und der Schlaf selbst zum Gegenstand der Optimierung, zu einer „anpassbaren Körpertechnik“ (33) werden kann. Daher ist die Ausgangsthese des Autors, dass es die Müdigkeit ist, die zum problematischen Moment einer sich aktivierenden Gesellschaft wird, weil diese sich „dem Optimierungsdenken konsequent verschließt“ (35).

Dieser Ausgangspunkt macht die Beschäftigung mit dem Phänomen der Müdigkeit zu einer aktuellen Aufgabe. Anknüpfungspunkte dafür findet der Autor u.a. bei Alain Ehrenberg und Byung-Chul Han, deren Blickweisen auf die Müdigkeit und Erschöpfung jedoch problematisiert werden.

Kritik wird an Ehrenbergs Beschreibung der Depression etwa dahingehend geübt, dass sie „indirekt dem Ideal des homo activus verpflichtet“ (39) bliebe und Müdigkeit zum „Zustand des Mangels“ (ebd.) deklariert werde. Und auch Han wird problematisiert (obwohl Goppelsröder diesem in mehreren Hinsichten, Literaturreferenzen und auch Argumenten folgt [2]), respektive dessen Inkonsequenz in Bezug auf seine Ausführungen zur „negativen Potenz“ der Müdigkeit, die nur vage angedeutet und dessen Essay daher auf der Ebene einer „Polemik“ (42) verbliebe. Beide Autoren bieten Goppelsröder zufolge „keine das Denken wirklich öffnende neue Perspektive, eine Vision der Müdigkeit aus eigenem Recht“ (40).

Weiterhin problematisch erscheint dem Autor die Verortung der Müdigkeit in der Bipolarität von Schlafen und Wachen, denn auch hier tauche die Müdigkeit nur im Sinne einer Störung auf (58). Durch das Träumen wird auf eine Grenzüberschreitung verwiesen, die die klare Trennung von Wachen und Schlafen aufweicht. Selbst im Wachzustand kommen diese Grenzüberschreitungen in den Blick, bspw. durch pausenlose Verschiebungen der Aufmerksamkeit, in denen das Bewusstsein in einen „Dämmerzustand“ (56) gerate – „beinahe die Hälfte jener Zeit, die wir als Wachzustand verstehen, sind wir nicht voll präsent“ (ebd.).

Es ist jedoch gerade die Wirkmächtigkeit dieser Bipolarität, die der Funktionalisierung der Müdigkeit Vorschub leistet. Goppelsröder beschreibt, wie in Kunst und Literatur, v.a. von der Aufklärung bis ins frühe 20. Jahrhundert, eben jenes Interim zwischen Wachen und Schlafen als Inspirationsquelle galt (59ff.). Dies bspw., um über sie einen Zustand des Kontrollverlusts hervorzurufen und dadurch anderes sichtbar werden zu lassen als im Stadium der Wachheit: „Schlaflosigkeit wird auf paradoxe Weise zu einer Art Hyperreflexion“ (61). Und ähnlich der Kunst wird auch die Psychoanalyse Freuds und die methodische Bearbeitung des Träumens als Hyperreflexion vorgestellt, eben als „Möglichkeit, der dem verstandeskritischen Zugriff unzulänglichen Dimensionen unseres psychischen Lebens doch noch beizukommen“ (67).

Aus dieser Kritik heraus entwickelt der Autor nun ein anderes Verständnis von Müdigkeit, das sich ihrer „Nutzlosigkeit“ (141) verschreibt, und sie unabhängig von gängigen neoliberalen Diskurslinien verortet. Insbesondere wird mit Bezug auf Peter Handkes „Versuch über die Müdigkeit“ argumentiert: „Handkes Müdigkeiten sind Weltzugänge aus eigenem Recht. Sie sind kein temporärer Ausstieg. Sie zeugen vom Unvermögen als Teil menschlicher Existenz“ (76).

Formen dieses Unvermögens verfolgt Goppelsröder dann mit Bezug auf die Rêverie, also mit den Denkfiguren der Schweiferei und Träumerei bei Rousseau und Bachelard (77-84). Mit Bezug auf Deleuze zu Samuel Becketts „Fernsehstücken“ wendet er auch die Erschöpfung noch einmal anders: Sie sei der „Ort, an dem wir uns aus dem den Alltag dominierenden Nützlichkeitsdenken lösen“ (85). Es sei der Weltzugang eines „aus der Gerichtetheit intentionalen Tuns Herausgefallenen“ (ebd.). Mit Deleuze beschreibt er die Erschöpfung als das Spiel disjunktiver Kombinatorik. Erschöpfung zeige sich „durch Ausschöpfung aller Möglichkeiten“ (87), sie sei ein „Ort der Enthaltsamkeit, des Weder-noch, des Neutrums selbst“ (ebd.).
Im Rückgriff auf Barthes und Blanchot wird die Figur des Neutrums als „nicht zwingbares Widerfahrnis“ (89) mit dem der Müdigkeit vereinigt. In der Müdigkeit werde so der „Raum des Weder-noch erfahrbar“ (90).

In diesem Raum entwickle sich die Sprache zum Bild, welches „nicht mehr Objekt, sondern Prozess“ (93) werde. In Bezug auf Blanchots Auseinandersetzungen zu Leiche, Totenmaske und Traumbild schildert Goppelsröder den „irritierenden Selbstbezug“ (96), den „Bruch“ mit dem „Verweisungszusammenhang“ (ebd.), das Fehlen einer „fixierende[n] Referenz“ (97) und die Unmöglichkeit der Letztbegründung für die Prozessualität des Bildes (vgl. ebd.), die das Selbst (s)eine radikale Passivität erfahren lässt: „Müdigkeit ist hier weder Hemmnis noch einfach Erholung. Sie ist die Bewegung des Übergangs, der Taumel des Zwischenraums, in dem die Faszination herrscht“ (100). Und weil sich das Selbst in solchen Momenten in einer besonderen Weise als präsent erfahre, sei weniger die Müdigkeit, als vielmehr das Wachsein defizitär, so Goppelsröder (vgl. 101).

Es ist genau diese Erfahrung von Müdigkeit, für die der Autor plädiert, wenn er zu einer „Éducation Sentimentale […] als Übung der Resensibilisierung für das Zwischen, das Ungeformte, das Nichtkategorisierbare“ aufruft (101). Es brauche, so die These des Buches, eine „Erziehung zur Müdigkeit, um ihre besondere Aisthetik wiederzuentdecken“ (102).
Die letzten 40 Seiten des Buches ließen sich insofern als eine Illustration dieser Idee der „Erziehung zur Müdigkeit“ lesen, indem Praktiken wie das Warten, Gehen, Verflüssigen, Verfließen, die Langsamkeit, Dehnung und Unschärfe beschrieben werden, die wohl alle als Chiffren für diesen eigentümlichen Zwischenzustand der Müdigkeit dienen. Mit ihnen erfolgen Konkretisierungen für die „Brüche“ und „das Deviante und Nicht-Konforme unseres Wachbewusstseins“ (103). Zur Müdigkeit erziehen hieße dann eine „zweckfreie Einübung in jene Einschnitte und Unterbrechungen“ (ebd.). So wird etwa anhand einer App mit Audioguide, die von der Künstlergruppe LIGNA erstellt worden ist, gezeigt, was es heißen könnte, das „Nichtstun zu affirmieren“ (103): „Es geht um die Erfahrbarkeit des Eigenwerts eines nicht schon auf ein gestecktes Ziel hin vorentschiedenen Moments“ (105).

Mit den zahlreichen Beispielen zeigt er Möglichkeiten auf, „Schlupflöcher und Luken in andere Welten“ (110) zu finden, „unsere Wahrnehmung zu irritieren und für das Kontingente, Unerwartete, für die Multidirektionalität der Gegenwart zu sensibilisieren“ (112), „unser Verlangen nach Beherrschung und Kontrolle aufzugeben“ (118), einen „spürbaren Machtverlust“ (126) zu erfahren, für die „Unschärfe“ der Wahrnehmung empfänglich zu sein, durch welche eine „Zwischenwelt“ geschaffen wird, „die unser Tagbewusstsein überblendet“ (ebd.), damit Raum entsteht „für den Umgang mit Unerwartetem, mit nicht-Geplantem“ (144).

Eine solche Perspektive einzunehmen heißt dann, Müdigkeit als Erweiterung der Welterfahrung zu begreifen: „Müdigkeit bereichert. Wer nur versucht, sie auszuschalten, beschneidet sich selbst um Dimensionen intensiver Welterfahrung. Um Erfahrungen der Fülle, des Schmerzes, der Faszination“ (141).

Diese spezifische Thematisierung von Müdigkeit verweist auf erziehungswissenschaftlich relevante Aspekte. Eigentümlicherweise – denn es ist die Einübung in die Unterbrechung, die als Aufgabe einer „Erziehung“ formuliert wird – werden keine Anleihen an die Erziehungswissenschaft unternommen und im Verlauf des Buches ist von Erziehung auch keine Rede. Zumindest aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive kann dann wohl auch des Autors Ausgangsthese, dass es nur unzureichende Beschäftigung mit dem Phänomen gäbe, in Frage gestellt werden.

Gerade die Figur der Verzögerung als konstitutives Moment von Bildungsprozessen wäre ein interessanter Anknüpfungspunkt gewesen, um Müdigkeit mit Erziehungs- und Bildungsverhältnissen zu verbinden, und zwar in eben genau dem Sinne, den Goppelsröder anmahnt: nicht „nur“ als Unterbrechung eines sonst verlässlichen Tuns, sondern selbst als responsiver Akt, in welchem sich eine Selbsterfahrung nur im Be-zug auf den Ent-zug formulieren lässt, als ein verzögertes, müdes Selbstverhältnis [1].

Auch in Bezug auf die Müdigkeit-als-Mangel-These hätte sich machtanalytisch für die „Produktivität“ des Mangels argumentieren lassen, statt Mangel mit Defizit gleichzusetzen und damit als Problem auszuweisen. Die Produktivität des Mangels in den Fokus zu rücken könnte dann etwa zeigen, dass die Erfahrung von (kollektiver) Erschöpfung auch zur Praxis der Problematisierung von Lebensverhältnissen werden kann [3].

Durch stärkere systematische Differenziertheit hätten sich Fragen nach dem Verhältnis von Müdigkeit zu Träumerei, Halbschlaf, Langeweile, aber auch zum Aisthetik-Begriff, der lediglich in einer Fußnote angesprochen wird (FN 187; S. 102), oder zum Erziehungsbegriff, der nur genannt wird, aber keine Ausführung erfährt, diskutieren lassen können. So bleiben auch die Bezugnahmen auf Philosoph*innen und deren Argumentationen oftmals oberflächlich. All das sind Schwierigkeiten, die der knappen Seitenzahl geschuldet sein könnten.

Dennoch sind es die Schnittstellen zur Philosophie, Poetik und Kunst und die vielen Beispiele, die einen Assoziationsraum möglicher Anknüpfungspunkte für eine erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung bieten können. Denkbar wäre dies bspw. im Hinblick auf Diskurse zu Leistung und Erschöpfung, oder dem „Zwischen“ im Welt-Selbst-und Anderenverhältnis.

Vielleicht ist das Buch eher als ein künstlerisches Projekt zu verstehen, in dem die Theorie selbst zum Bild wird und im Beispiel inszeniert wird. Mit den Zeichnungen von Martin Goppelsröder deuten sich Übersetzungen zwischen der Schrift und dem „Bild“ an, die dabei selbst Raum für das Verflüssigen der Wahrnehmung schaffen.

[1] Dörpinghaus, Andreas (2005): Bildung als Verzögerung. Über Zeitstrukturen von Bildungs- und Professionalisierungsprozessen. In: Pädagogische Rundschau, 59, 5, S. 563-574
[2] Han, Byung-Chul (2018): Müdigkeitsgesellschaft. Burnoutgesellschaft. Hoch-Zeit. 2. Aufl. Berlin: Matthes & Seitz
[3] Graefe, Stefanie (2010): „Selber auch total überfordert“. Arbeitsbedingte Erschöpfung als performativer Sprechakt. In: Demirović, Alex/ Kaindl, Christina/ Krovoza, Alfred (Hrsg.): Das Subjekt – zwischen Krise und Emanzipation. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 49-64
Sabrina Schröder ((Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabrina Schröder: Rezension von: Goppelsröder, Fabian: Aisthetik der Müdigkeit. Zürich: Diaphanes 2018. In: EWR 19 (2020), Nr. 1 (Veröffentlicht am 18.03.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303580083.html