Wie der gesellschaftliche Bedarf an kompetenten und qualifizierten Arbeitskräften gedeckt und wie mit dem Ausschluss von Lernenden, Akteuren oder Themen aus dem Berufsbildungsdiskurs umgegangen wird, sind zentrale Fragen der Berufsbildungsforschung. Fragen wie diese werden seit vielen Jahren unter dem Dach der Governance-Forschung diskutiert. Der Blick ist im Wesentlichen darauf gerichtet, zu erfassen, warum bestimmte öffentliche und/oder private Akteure, auf welche Weise, mit welchen Instrumenten und mit welchem Resultat – miteinander – agieren, um Herausforderungen an den Schnittstellen von Bildung und Arbeit zu begegnen.
Dass es sich dabei um ein komplexes Thema handelt, wird in dem von Bürgi und Gonon editierten englischsprachigen Band mit dem Titel „Governance Revisited“ deutlich. Wie Bürgi und Gonon im einleitenden Beitrag anmerken, beinhaltet der Begriff Governance unterschiedliche Konnotationen und führt zu unterschiedlichen Verwendungsweisen. Zum Beispiel dient er zur Bezeichnung einer normativen Form der Steuerung („New Governance“) oder als spezifische Forschungsperspektive zur Beobachtung von Akteuren in Mehrebenensystemen. In diesem Band wird Governance in erster Linie als „umbrella term“, also als Überbegriff zur Bezeichnung jeglicher Form der Steuerung von beruflicher Bildung, verwendet (9).
Vor dem Hintergrund der Veränderungen von Arbeit und den daraus hervorgehenden Anforderungen an Akteure der Berufsbildung, wie auch an jene aus Politik und Wirtschaft konstatieren die Herausgeber:innen den Bedarf einer Rekalibrierung der Governance-Forschung in der Berufsbildung. Beispielsweise seien Typologien von Bildungssystemen, wie jene des Skill Formation System Ansatzes, die auf nationalstaatlichen Klassifikationen basieren, nur bedingt aussagekräftig, um die Komplexität im Zusammenspiel von Akteuren auf der internationalen, nationalen und regionalen Ebene zu erfassen (10).
Der Band stellt daher den Anspruch, den Blick auf bislang unbeachtete Dimensionen der Governance zu richten und dahingehend theoretische und empirische Evidenzen zu liefern (10). Dazu werden Beiträge versammelt, welche die Heterogenität der Governance innerhalb und über die Grenzen einiger europäischer Länder hinweg diskutieren.
Der Band umfasst insgesamt vierzehn Beiträge. Diese sind in vier Kapitel unterteilt: A. New Governance, B. Governance by Professional Associations, C. Interplay between Governance and Learning Arrangements sowie D. Methodologies, Concepts, and Typologies of Governance. Länderstudien und vergleichende Studien wechseln sich ab, wobei einige Beiträge eine stärkere Gewichtung konzeptuell theoretischer Überlegungen gegenüber empirischen Analysen aufweisen. Bei den stärker konzeptuell ausgerichteten Beiträgen scheint mir jener von Pilz erwähnenswert. Es wird eine Typologie vorgestellt, die vier Aspekte integriert: die gesellschaftliche Stratifizierung als Auswirkung von Bildung und die System-Steuerung auf der Makro-Ebene, die Standardisierung von Curricula, Prüfungsformen oder Qualitätssicherung auf der Meso-Ebene und die tatsächliche Lehr-Lern-Praxis auf der Mikro-Ebene. Damit wird der Anspruch verfolgt, Analysen von Verflechtungen auf und zwischen Makro-, Meso- und Mikro-Ebene der Berufsbildung anzuleiten, ohne eine zu starke Strukturdetermination anzunehmen.
Bei den Länderstudien fällt auf, dass jene Länder überwiegen, die tendenziell unter dem Typ des „collective skill formation systems“ zusammengefasst werden können (Schweiz, Deutschland, Österreich bzw. Dänemark und Norwegen), wobei hier wiederum die deutschsprachigen Länder am häufigsten untersucht werden. Insgesamt ist zu sagen, dass jeder einzelne Beitrag theoretisch wie empirisch äußerst verdichtet ist, was zur sehr hohen Qualität des Bandes beiträgt. Zudem zieht sich durch die meisten Beiträge hindurch ein politikwissenschaftlicher Unterton. Dieser ist in der Governance-Forschung notwendig, um die Gegenstandsangemessenheit der theoretischen Zugriffe sicherzustellen. Der Band ist daher interdisziplinär ausgerichtet und die Beiträge erfordern durchwegs vertiefte politikwissenschaftliche Vorkenntnisse.
Über den Band hinweg gibt es zwei wiederkehrende Themen. Zum einen handelt es sich um die Rolle neo-korporatistischer Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen der Berufsbildung. Bürgi blickt beispielsweise auf Arbeitgebervertretungen (orig.: professional associations), Strebel, Baumeler und Engelage konzentrieren sich auf jene, die Interessen kleiner Berufsgruppen, wie jene der Klavierbauer oder der Seilbahn-Mechaniker:innen, vertreten. Sogenannte Intermediaries auf regionaler Ebene werden im Beitrag von Valiente und Capsada-Munsech beforscht. Mit dem Begriff der Intermediaries werden all jene kollektiven Akteure bezeichnet, die Arbeitnehmer:innen mit Arbeitgeber:innen zusammenbringen, zum Beispiel können das Interessenvertretungen oder Weiterbildungsanbieter sein.
Das zweite wiederkehrende Thema ist das Verhältnis von beruflicher und allgemeiner Bildung. Dieses wird am Beispiel der allgemeinbildenden Oberstufe, wie im Beitrag von Leemann, Esposito und Imdorf oder der hochschulischen Bildung diskutiert. Letztere steht bei Graf und Lohse im Mittelpunkt, während Bernhard die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung beleuchtet. Mazenod untersucht die Zusammenhänge von Politiken und Steuerungsmechanismen in England, Finnland und Frankreich und deren Auswirkungen auf individuelle Bildungswege. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass eine dichotome Struktur von allgemeiner Bildung und beruflicher Bildung reproduziert wird, die Bildungswege im Sinne des lebenslangen Lernens erschwert oder gar verhindert, da wenig Spielraum in der Reaktion auf biografische Abweichungen von der Standard-Lernbiografie besteht.
Argumentativ ist der Band geprägt vom Spannungsverhältnis zwischen einer nationalstaatlichen und einer Akteur-fokussierten Betrachtung. Lassnigg (381) drückt das meines Erachtens sehr treffend aus, wenn er auf eine Tendenz hinweist, kognitiv vollständige Systeme zu konstruieren und damit Teilstrukturen und Abweichungen von System-Klassifikationen zu übersehen. Die Entwicklungen hinsichtlich dieses Spannungsverhältnisses werden bei Michelsen und Høst (44) diskutiert. Sie kommen am Beispiel des Berufsbildungsmonitorings in Norwegen zu dem Schluss, dass es eine Hybride-Ordnung gibt, wobei es sowohl eine Stärkung nationalstaatlicher Bürokratie (orig.: modernized version of the old Weberian state) als auch eine Stärkung von Netzwerken gibt, in denen vor allem Arbeitgeber bedeutend sind.
Der Anspruch, blinde Flecken im Diskurs zu beleuchten, wird mit dem Band erfüllt. Dennoch lässt sich ein blinder Fleck benennen, der trotz der vielfältigen Betrachtungen bestehen bleibt. So erfährt das Verhältnis von Aus- und Weiterbildung wenig Aufmerksamkeit. Die berufliche Weiterbildung wird überraschenderweise gar nicht in einem eigenständigen Beitrag thematisiert. Dies ist aus zumindest zwei Gründen anzumerken. Zum einen steigt mit dem fortschreitenden demografischen Wandel hin zu einem Überschuss der älteren Population die Notwendigkeit beruflicher Weiterbildung, aber auch beruflicher Ausbildung für Erwachsene. Hier wäre beispielsweise interessant zu fragen, wie sich die Politik sowie Akteure der beruflichen Erstausbildung zu jenen der beruflichen Weiterbildung verhalten, wenn es darum geht, veränderte Zielgruppen zu erreichen. Zum anderen wäre lohnend zu prüfen, ob sich vor dem Hintergrund neo-korporatistischer Steuerungsstrukturen Erkenntnisse aus dem Bereich der beruflichen Weiterbildung ableiten oder gar übertragen ließen. In der beruflichen Weiterbildung sind neo-korporatistische Strukturen eher die Regel als die Ausnahme.
Der Band liefert insgesamt wichtige Erkenntnisse, die in vielfacher Hinsicht weiterführende Forschungsvorhaben anregen können. Er ist vor allem jenen Leser:innen sehr zu empfehlen, die an einer Vertiefung berufsbildungspolitischer Betrachtungen interessiert sind.
EWR 23 (2024), Nr. 1 (Januar)
Governance Revisited
Challenges and Opportunities for Vocational Education and Training
Bern, Berlin u.a.: Peter Lang 2022
(428 S.; ISBN 978-3-0343-4287-2; 76,96 EUR)
Philipp Assinger (Graz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Philipp Assinger: Rezension von: BĂĽrgi, Regula / Gonon, Philipp (Hg.): Governance Revisited, Challenges and Opportunities for Vocational Education and Training. Bern, Berlin u.a.: Peter Lang 2022. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303434287.html
Philipp Assinger: Rezension von: BĂĽrgi, Regula / Gonon, Philipp (Hg.): Governance Revisited, Challenges and Opportunities for Vocational Education and Training. Bern, Berlin u.a.: Peter Lang 2022. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303434287.html