Hybridqualifikationen ermöglichen – wie klassischerweise die Abschlüsse der Berufsbildung – den direkten Übertritt in den Arbeitsmarkt, erlauben jedoch auch die Aufnahme einer weiterführenden Ausbildung. Von besonderem Interesse sind dabei berufsbildende Abschlüsse der oberen Sekundarstufe, die nicht nur berufsqualifizierend sind, sondern auch zu einem Studium an Hochschulen berechtigen. Solche Abschlüsse sind im aktuellen bildungspolitischen Diskurs Europas enorm relevant, besteht doch einerseits der Anspruch, die Hochschulquote zu erhöhen und andererseits der Druck, dass Absolvierende der oberen Sekundarstufe den direkten Eintritt in den Arbeitsmarkt schaffen.
Der vorliegende Sammelband diskutiert nun die Erfahrungen mit Hybridqualifikationen in unterschiedlichen, meist europäischen Ländern. In einem ersten Teil werden Ergebnisse zu jenen vier Ländern (Österreich, Dänemark, England, Deutschland) erörtert, die im Zentrum eines von den Herausgebern durchgeführten Projekts zum gleichen Thema stehen. In einem zweiten Teil werden sechs weitere Fälle betrachtet, wobei mit Australien und Kanada auch zwei außereuropäische Länder in den Blick kommen. Das Buch schließt mit einer Synthese und Empfehlungen für die Bildungspolitik ab.
Die Länderkapitel in den beiden ersten Teilen des Buches zielen auf eine stark kontextualisierte Analyse der Erfahrungen mit Hybridqualifikationen, gehen sie doch jeweils von einer umfassenden Darstellung der entsprechenden Bildungssysteme aus – wobei die Thematik es erfordert, allgemein- und berufsbildenden Wegen gleichermaßen Gewicht zu geben. Jene vier Länder, die im Zentrum des erwähnten Projekts standen, werden dabei relativ systematisch unter gleichen Gesichtspunkten und mit ähnlichen empirischen Methoden (v. a. Dokumentenanalyse und Experteninterviews) untersucht.
Besonderes Gewicht erhält im Band der Fall Österreich, der – so wird gegen Ende des Buches immer deutlicher – vor allem aus deutscher Perspektive funktionierende Hybridqualifikationen aufweist. Der Blick der Autoren richtet sich dabei vor allem auf schulische Formen der Berufsbildung der oberen Sekundarstufe (z. B. auf berufsbildende höhere Schulen), deren Curricula starke allgemeinbildende Elemente aufweisen, sich jedoch auch deutlich an spezifischen Berufsfeldern (z. B. Wirtschaft oder Ingenieurwesen) orientieren. Diese schulischen Formen der Berufsbildung sind für Österreich insofern bemerkenswert, als sie nicht nach dem dualen System funktionieren, also im Vergleich zur Berufslehre – die in Österreich weiterhin ein großes Gewicht hat – kaum Ausbildungsanteile in Betrieben umfassen. Ähnliche Versuche gibt es, dies wird in einem späteren Kapitel deutlich, insbesondere auch in Deutschland, doch dort werden schulische Formen der Berufsbildung von Arbeitgebern aufgrund der mangelnden Praxiserfahrung der Ausgebildeten im Vergleich zu Österreich wenig geschätzt.
Insgesamt überzeugt der Band durch den Überblick über unterschiedliche, vor allem europäische Berufsbildungssysteme, dargestellt vor dem Hintergrund eines klar definierten Erkenntnisinteresses. Das gewählte Thema bezieht sich dabei nicht nur auf einen zentralen Kern aktueller europäischer Bildungspolitik, sondern ermöglicht einen Blick auf die institutional foundations unterschiedlicher Bildungssysteme und somit auch auf die Möglichkeiten und Grenzen gegenwärtiger Reformen.
Das Buch überlässt dem Leser jedoch einige offene Fragen, vor allem mit Blick auf das als best-practice dargestellte österreichische Modell. Zunächst erscheint unklar, welches die Zukunft betrieblicher organisierter Berufsbildung sein kann, wenn funktionierende Hybridqualifikationen – so letztlich die These des Buches – vor allem über den Weg schulisch organisierter Berufsbildung erworben werden können. Tatsächlich legt die Darstellung im Buch nahe, dass in Österreich der Weg der Berufslehre nur noch für jene jungen Menschen eine attraktive Möglichkeit darstellt, denen zu Beginn ihrer Ausbildung der spätere Übertritt an eine Hochschule nicht wünschbar oder nicht möglich erscheint – und somit längerfristig zur Marginalie werden könnte. Dies könnte für Österreich den Beginn eines umfassenden Systemwechsels darstellen, weg von einem kollektiv organisierten, stark auch von der Privatwirtschaft getragenen, hin zu einem stärker staatszentrierten Berufsbildungssystem.
Tatsächlich konnten staatszentrierte Berufsbildungssysteme schon wesentlich länger Erfahrungen mit Hybridqualifikationen sammeln. Dies gilt etwa für den Fall Frankreich, der im Buch analytisch außerordentlich scharf von Philippe Méhaut dargestellt wird, in der abschließenden Synthese jedoch nicht mehr erscheint. Deutlich wird im Beitrag insbesondere, dass die auch zum Hochschulzugang berechtigenden Abschlüsse der Berufsbildung kaum mehr als berufsqualifizierend gelten und primär als Zubringer zu Angeboten des Hochschulsystems dienen. Die für die Schaffung dieser Abschlüsse zunächst entscheidende Hybridität entspricht der Realität im Bildungssystem somit nicht mehr. Ähnliche – wenn auch nicht ganz so drastische – Entwicklungen sind aus im Buch nicht dargestellten nordischen Ländern (insbesondere Finnland und Schweden) bekannt, in denen berufsbildende Gymnasien schon einige Jahrzehnte ein großes Gewicht einnehmen.
Vor diesem Hintergrund mag erstaunen, dass der Fall Schweiz – im Band beschrieben von Philipp Gonon – im Schlusskapitel nicht diskutiert wird. Die Vorbereitung auf die Berufsmaturität (Fachhochschulreife) kann dort nämlich mit der regulären Berufsbildung auf der oberen Sekundarstufe kombiniert werden, die von der Mehrheit in Form einer Betriebslehre absolviert wird. Wie Gonon darstellt, ist dieses System mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, insbesondere mit jener, dass viele Unternehmer vor allem aus kleineren Betrieben es ihren Lernenden nicht erlauben, den zusätzlichen Berufsmaturitätsunterricht zu besuchen, weshalb sich viele Ausgebildete erst nach der Berufsbildung auf die Berufsmaturität vorzubereiten beginnen. Instruktiv wäre der Fall Schweiz auch mit Blick auf die Ausgestaltung des Hochschulzugangs, dem im Buch etwas zu wenig Beachtung geschenkt wird: In diesem Land steht den Absolvierenden der Berufsmaturität nämlich primär der Zugang zu den Fachhochschulen offen, während die allgemeinbildende Matura weiterhin fast exklusiv für den Zutritt zu einem Universitätsstudium berechtigt. Diese elitäre Aufnahmepolitik schweizerischer Universitäten mag zwar aus einer Optik, die für die Förderung von Hybridqualifikationen einsteht, bedauerlich erscheinen. Sie wird jedoch dann eher verständlich, wenn international wettbewerbsfähige Forschung und Lehre als Kernaufgabe von Universitäten verstanden wird, die auf umfassende Allgemeinbildung, z.B. in Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften, aufbauen muss.
Vor diesem Hintergrund stellt sich durchaus auch die Frage, ob im Buch die trade-offs von Hybridqualifikationen nicht stärker auch der Beleuchtung bedurft hätten, dies vor allem dann, wenn die Hybridität so verstanden wird, dass entsprechende Qualifikationen berufsqualifizierend sind und zum vollen Zugang zum Hochschulsystem berechtigen. In diesen Fällen wird Hybridität nämlich oft nur dann möglich, wenn curriculare, meist berufsfeldspezifische Ziele und Inhalte in bestehenden Berufsbildungsangeboten weggelassen oder weniger stark betont werden, und wenn die Hochschulstufe gewisse Inhalte nicht mehr als Voraussetzung definiert. Wenn solche Angebotsanpassungen vor allem mit dem Ziel verfolgt werden, aus primär egalitätspolitischen Gründen den Hochschulzugang zu verbreitern, wird die Thematik hybrider Qualifikationen wohl auf immer höheren Bildungsstufen à fond diskutiert werden müssen.
EWR 13 (2014), Nr. 4 (Juli/August)
Hybrid Qualifications: Structures and Problems in the Context of European VET Policy
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien: Peter Lang 2013
(280 S.; ISBN 978-3-0343-1059-8; 67,70 EUR)
Markus Maurer (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Markus Maurer: Rezension von: Deissinger, Thomas / Aff, Josef / Fuller, Alison / Jørgensen, Christian Helms (Hg.): Hybrid Qualifications: Structures and Problems in the Context of European VET Policy. Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien: Peter Lang 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 4 (Veröffentlicht am 25.07.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303431059.html
Markus Maurer: Rezension von: Deissinger, Thomas / Aff, Josef / Fuller, Alison / Jørgensen, Christian Helms (Hg.): Hybrid Qualifications: Structures and Problems in the Context of European VET Policy. Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien: Peter Lang 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 4 (Veröffentlicht am 25.07.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303431059.html