„This book critically examines the context, origins, development and implementation of successive primary school curricula in Ireland between 1897 and 1990“ (1). Mit diesem ersten Satz der Einleitung wird der Fokus des Buches ausgerichtet. Im Zentrum steht eine akribische Quellenrecherche und Textanalyse, mit der es dem Verfasser gelingt, einen in seinem Umfang sowie in der Vielfalt und Zusammenschau seiner Fakten neuen Zugang zu historischen und aktuelleren Prozessen der Schulentwicklung in Irland zu ermöglichen. Aufgrund ihrer engen Verflechtung mit politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen richtet sich das Interesse in der retrospektiv angelegten Analyse auf die für alle Kinder verpflichtend zu besuchende primary school, ihre Lehrpläne, Unterrichtsmethoden und Bildungsziele. Als Zäsuren des chronologisch nachgezeichneten bildungspolitischen Wandels werden das Revised Programme of Instruction (1900), seine Modifikationen (1922/26) sowie das Primary School Curriculum (1971) bestimmt, deren Entstehungs- und Implementationsphasen zugleich der Strukturierung des Buches dienen: Teil 1 umfasst die Jahre 1897 bis 1921, in denen das Revised Programme of Instruction eingeführt und umgesetzt wird, Teil 2 beinhaltet die nach der Schaffung des Irischen Freistaates 1922 bis 1971 durchgeführten Modifikationen und Teil 3 dokumentiert die Curriculumentwicklungen, die durch das Primary School Curriculum in der Zeit 1971 bis 1990 vollzogen wurden.
Das jeweils erste Kapitel in jedem der drei Thementeile thematisiert den sozialen und gesellschaftlichen Kontext sowie das Erziehungsmilieu als Bedingungsrahmen der Curriculumentwicklung, während das zweite Kapitel die Bildungsphilosophie und inhalte dokumentiert und das dritte Kapitel vorwiegend den Umsetzungsprozess beleuchtet. Damit wird eine Gliederung vorgenommen, die eine vergleichende Prozessanalyse ermöglicht, ohne zeitspezifische Ambivalenzen oder kritische Haltungen zu vernachlässigen. Sie lassen sich für die einzelnen Phasen wie folgt charakterisieren.
Die erste Phase (1897-1921) ist durch die Wirkung der Commission on Manual and Practical Instruction auf die Lehrplangestaltung gekennzeichnet. Beeinflusst durch die Reformpädagogik setzt sie sich für die Aufnahme praktischer und handwerklicher Tätigkeiten in den Lehrplan ein, um so einerseits eine Anregung der intellektuellen Fähigkeiten zu erreichen, gleichzeitig aber auch auf die Anforderungen des Alltags und Berufslebens vorzubereiten und damit der wachsenden Armut in der Bevölkerung entgegen zu wirken. Zugleich resultiert die Einsicht in eine Erneuerung des Bildungssystems aus der Überzeugung, auf diese Weise die nationale Industrie stärken zu können. Der neue Inhaltskanon (u.a. Werken, Zeichnen, Handarbeit, Naturkunde, Kochen und Singen) stellt einen radikalen Wandel war, der nur mit einer gründlichen Vorbereitung gelingen kann. Der Schulentwicklungsprozess folgt dem in Europa gängigen Stadt-Land-Gefälle und ist in seinem Gelingen wesentlich von der Reform der Lehrerbildung abhängig. Ein essentielle Herausforderung der Bildungsreform wird daher in einer inhaltlichen Neuordnung der Aus- und Fortbildung der zukünftigen und bereits praktizierenden Lehrer gesehen.
Eine Großzahl der Kommissionsvorschläge geht in das Revised Programme of Instruction (1900) ein. Ihm liegt eine ganzheitliche Auffassung vom Kind zugrunde. Geschlechtsspezifisch ausgerichtete Stundenpläne für Jungen und Mädchen, aber auch die Forderung nach einem stärkeren Einsatz von Frauen im Primarbereich sind den revidierten pädagogischen Sichtweisen geschuldet: „In schools without a female teacher, a special Workmistress or Manual Instructress was to be employed to ‚combine the functions of teachers of Needlework, Kindergarten, and Manual Instructions’“ (52). Die in Vorschlag gebrachte Einrichtung von Schulgärten sowie die Durchführung von Exkursionen gemahnen an reformpädagogische Einflüsse.
Auf administrativer Ebene wird der Wandel durch eine neue, an Ausbildungsmerkmalen – und nicht länger am Erfolg – orientierte Lehrerbesoldung sowie ein verändertes Inspektionsverfahren flankiert. Die prozessbegleitende Evaluation zeigt, dass die Fächer “reading, writing, spelling and arithmetic” (60) in allen, Musik und Handarbeit in drei Viertel der Schulen eingeführt werden; die Statistiken zeigen insgesamt ein positives Bild der Implementierung. Eine sichtbar werdende Differenz erwächst aber offensichtlich aus standortspezifisch ungleichen Umsetzungen sowie den in der Inspektion unterschiedlich herangezogenen quantitativen und qualitativen Bewertungsmaßstäben. Ihnen wird mit den im Jahre 1904 einsetzenden Revisionen des Schulentwicklungsprogramms Rechnung getragen, die einerseits die Lehrkräfte stärker in den Innovationsprozess einbinden, andererseits mit dem Bilingual Programme der irischen Sprache als Identifikationsfaktor gegenüber dem Englischen wieder stärkeres Gewicht beimessen. Trotz der benannten Schwierigkeiten wird die Umsetzung des Revised Programme insgesamt als ein bildungspolitischer Fortschritt gewertet.
Mit der Gründung des Irischen Freistaates (1922) erfolgt in der zweiten Phase eine Neuorientierung des Bildungswesens, das mit seiner Konzentration auf die irische Kultur und Sprache vorrangig die Ausprägung einer nationalen Identität zum Ziel hat. Auf administrativer Ebene ist die Konstituierung des Department of Education zu nennen. Zu seinen Aufgaben gehört zunächst die Regelung und Überwachung der Schulbesuchspflicht, die sich erstaunlicherweise bis in die 1960er Jahre nicht uneingeschränkt umsetzen lässt. Auf der Grundlage der UN-Deklaration die Rechte des Kindes betreffend (1959) wird die Beschulung kognitiv oder körperlich beeinträchtigter Kinder ein neues Thema der Bildungspolitik, die das Anrecht des Kindes auf eine förderliche Beschulung mit der Schaffung eines Sonderschulwesens beantwortet. Allerdings bleibt der Schulsektor aufgrund wirtschaftlicher Rezessionen noch lange Zeit unter dem Einfluss der katholischen Kirche und damit in seinen Innovationen begrenzt.
Die Entwicklung neuer Curricula erweist sich gegenüber der vorangegangenen Phase als eine deutliche Verengung. Die dem zugrundeliegende Ideologie schlägt sich in den Resolutionen der ersten und zweiten National Programme Conference nieder, die die Fächer der primary school beschränken und Irisch als Unterrichtssprache befürworten. Die im Revised Programme geforderte Kindorientierung sowie das erfahrungsbezogene Lernen finden keinen Niederschlag mehr. Als Gelingensbedingungen für eine Implementierung des neuen Programms werden die Verbesserung der materiellen Schulausstattungen, die Einführung der Schulspeisung und die Lehrbuchkontrolle durch eine staatliche Kommission benannt.
Die Hoffnung, durch die Reduktion der Lehrplaninhalte und ihre nationalpatriotische Ausrichtung eine Veränderung der gesellschaftlichen Haltung herbeizuführen, bleibt jedoch unerfüllt, so dass der Autor von einer „stagnation in Irish education“ (103) spricht. Dieses ändert sich erst in den 1960er Jahren, als mit Blick auf den europäischen Wettbewerb sowie einer zunehmenden Pluralisierung der Lebens- und Arbeitsformen das Interesse an Bildung und Erziehung in Irland einen deutlichen Aufschwung nimmt. Auslösendes Moment ist die Rezeption der Theorie des Humankapitals. Dennoch bleibt die Philosophie, eine staatstragende patriotische Pädagogik in die Schulen zu implementieren, bis in den Beginn der 1970er Jahre erhalten.
Obwohl die dritte Phase (1971-1990) durch unterschiedliche politische Strömungen und personelle Wechsel im Erziehungsministerium gekennzeichnet ist, erweist sich die Bildungspolitik dieser Jahre mit ihrer wiederkehrenden Betonung der Kindorientierung und einer erneuten Erweiterung der Unterrichtsfächer als relativ stabil. Als wichtige Grundlage gilt das Primary School Curriculum (1971), das aus dem unveröffentlichten White Paper on Education (1967) und dem Primary Education New Curriculum – A Working Document (1968) hervorgeht und in Form zweier Handbücher veröffentlicht wird. Sie spiegeln eine Erziehungsphilosophie wider, die im Kontrast zur vorangegangenen Phase der Nationalerziehung wieder das Eigenrecht des Kindes und seine selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in den Mittelpunkt rückt. Gegenüber den traditionellen Programmen der vorangehenden Phase erweist sich das Primary School Curriculum als innovative Wende, auch wenn seine relative Offenheit anfangs zu Verunsicherungen führt. Die neuen Unterrichtsmethoden werden nur sehr zögerlich eingeführt, so dass der Frontalunterricht und das instruktive Lernen weiterhin überwiegen, während das Erfahrungslernen zugunsten der Bucharbeit in den Hintergrund tritt. Deutliche Vorteile zeichnen sich hingegen auf systemischer Ebene ab. Hier sind insbesondere eine Intensivierung der Lehrerausbildung und die Verbesserung von Schulbauten zu benennen.
Als ein zentrales Ergebnis macht Walsh deutlich, dass Schulentwicklungsprozesse niemals isoliert verlaufen, sondern stets von einem politischen und gesellschaftlichen Gesamtkontext gerahmt werden, der einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Bildungsziele, Erziehungsvorstellungen und deren Institutionalisierungen ausübt. Unter wechselnden Vorzeichen stützten die bildungspolitischen Aspirationen der drei Zeitkorridore in jeweils unterschiedlicher Weise den Staat, die Kirche oder das Individuum. Sie herauszuarbeiten ist insofern ein großes Verdienst, als die herangezogenen Dokumente bisher zum großen Teil unveröffentlicht sind und nach Aussage des Verfassers bis in die 1970er-Jahre hinein vorwiegend knappe Darstellungen vorliegen, in denen pädagogische Rahmenkonzepte lediglich eine implizite Erwähnung finden. Eine kritische Analyse weiterer Quellen- und Archivstände war daher notwendig, um die Curriculumentwicklung der primary education in der vorliegenden Tiefe und Breite aufarbeiten zu können. Insofern stellt das Buch mit seiner akribisch detaillierten Aufbereitung, seinem umfangreichen Anmerkungsteil (60 S.) sowie der Übersicht über die herangezogene Literatur einschließlich zahlreicher unveröffentlichter Fundorte (33 S.) eine forschungsrelevante und für weitere Arbeiten wertvolle Bereicherung dar.
Hilfreich für das Kontextverstehen des Buches, erweisen sich die präzisen Zusammenfassungen am Ende eines jeden Hauptkapitels. Auch wenn sich partielle Wiederholungen dabei nicht vermeiden lassen, sind sie für die Verfolgung der argumentativen Linienführung ausgesprochen strukturgebend.
Die Frage, warum es lohnenswert sein kann, das auf nationale Bildungspolitik ausgerichtete Buch auch dann zu lesen, wenn man nicht durch die „Forscherbrille“ sieht, beantwortet sich von selbst. Es ist die Sicht auf ein in der Pädagogik grundgelegtes Prinzip: bildungspolitische Entwicklungen, Argumentationen und Denkfiguren treten zumeist in einem steten Wechsel auf, der in der Regel (sozial-)gesellschaftlichen oder staatspolitischen Impulsen folgt und die Forderung nach mehr / einer anderen Erziehung respektive Bildung als Antwort auf (vermeintliches) Krisenerleben formuliert. In diesem Sinne kann auch die vorliegende Publikation dazu beitragen, Verstehensprozesse zu initiieren und ihnen in ihrer aktuellen Nachhaltigkeit eine argumentative Relevanz beizumessen.
EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)
Primary Education in Ireland, 1897-1990
Curriculum and Context
Oxford, Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Wien: Peter Lang 2012
(466 S.; ISBN 978-3-0343-0751-2; 55,90 EUR)
Renate Hinz (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Renate Hinz: Rezension von: Walsh, Thomas: Primary Education in Ireland, 1897-1990, Curriculum and Context. Oxford, Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Wien: Peter Lang 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303430751.html
Renate Hinz: Rezension von: Walsh, Thomas: Primary Education in Ireland, 1897-1990, Curriculum and Context. Oxford, Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Wien: Peter Lang 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303430751.html