Die Geschichte der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in Heimen der Jugendfürsorge ist in der Schweiz wie auch in zahlreichen weiteren westlichen Staaten Gegenstand intensiver politischer Debatten und historischer Forschung geworden. Das Wort „Nobelhotel“ wäre vermutlich den wenigsten Betroffenen der Schweizer Heimerziehung als treffende Beschreibung für die Einrichtungen in den Sinn gekommen, in denen sie nach 1945 untergebracht wurden. Das legen zumindest die Forschungsergebnisse zur Schweizer Heimerziehung nahe.[1]
Dass Daniel Deplazes dennoch diesen Titel für seine 2022 an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich [2] angenommene Dissertation gewählt hat, deutet zum einen auf die Außenwirkung des Heims hin, das Hauptgegenstand der Untersuchung ist. Das im Kanton Zürich gelegene Landerziehungsheim Albisbrunn war eine Einrichtung, in die „schwer erziehbare“, ausschließlich männliche Jugendliche eingewiesen wurden. Seit der Gründung 1924 eilte ihr der Ruf, eine „‚pädagogische[] Vorzeigeeinrichtung‘“ (17) zu sein, voraus. Das lag auch am dortigen Wirken bekannter Schweizer Heilpädagogen wie Heinrich Hanselmann und Paul Moor. Als zeitlichen Schwerpunkt seiner Abhandlung bearbeitet Deplazes die Zeit von den 1960ern bis Ende der 1980er Jahre – ein Zeitraum in der Geschichte der stationären Jugendfürsorge der Schweiz, der bisher weniger genau untersucht wurde.
Zum anderen steht der Buchtitel mit dem zentralen theoretisch-methodischen Zugriff der Arbeit in Verbindung. Deplazes wählt den Ansatz der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), geprägt durch den französischen Soziologen Bruno Latour. Kernpunkt des Ansatzes ist die Annahme, dass Akteur:innen selbst den Dingen in „fluiden Herstellungsprozesse[n]“ (22) Bedeutung zuweisen. Die Forschenden müssten, gemäß dem Leitspruch der ANT, „den Akteuren folgen“, um deren Bedeutungskonstruktionen gleichsam ohne „von außen“ herangetragene Interpretationsmuster zu entschlüsseln. Durch den Blick auf die Eigenlogiken der damaligen Akteur:innen, so Deplazes, lasse sich zudem ein „beim Rückblick auf die Heimerziehung oft ins Feld geführte[r] Dualismus von ‚Opfern‘ und ‚Tätern‘“ (22) vermeiden.
Die Darstellung gliedert sich in drei Hauptkapitel: Nach einer ausführlichen Einleitung werden insgesamt fünf „Bruchstücke von Akteur-Netzwerken“ im Untersuchungszeitraum dargestellt. Die bearbeiteten thematischen Schwerpunkte „Buchhaltung“, „Drogen“, „Heimforschung“, Heimkritik“ und „Pädagogisch-therapeutische Intensivabteilung (PTI)“ werden in alphabetischer, nicht chronologischer Reihenfolge präsentiert. Im sich anschließenden Kapitel systematisiert Deplazes seine empirischen Ergebnisse und fragt nach dem Mehrwert der Akteur-Netzwerk-Theorie für die Historiografie der Schweizer Heimerziehung.
Deplazes bearbeitet ein Quellenkorpus von beachtlichem Umfang und großer Diversität: Neben Quellen, die durch die Heimleitung und die Heimträger entstanden sind, werden u. a. Publikationen von Fachverbänden, aber auch Filme, die im Kontext der Heimkritik produziert worden sind, ein Theaterstück und Architekturpläne analysiert. Der Schwerpunkt der Quellenperspektive liegt aufgrund der bekannten Problematik der Überlieferung von Schriftmaterial aus der damaligen Heimerziehung auf dem Blick der erwachsenen „Verantwortlichen“. Die Arbeit bemüht sich jedoch, über die Auswertung einer Stichprobe von „Zöglingsdossiers“ (52–54) und die Bezugnahme auf autobiografische Darstellungen zweier ehemaliger Albisbrunner „Zöglinge“ die Perspektive der Jugendlichen in die Arbeit einzubeziehen.
Das erste Hauptkapitel verfolgt die Entwicklung Albisbrunns zu einem „Finanz-Hybriden“ (90). Zwar verstand sich das Heim Anfang der 1960er hauptsächlich als privat finanziert, doch habe auch zu dieser Zeit schon eine Verschränkung von privaten und öffentlichen Mittel bestanden. Diese Finanzierungsform habe sich auf Grund einer finanziellen Schieflage bereits ab Anfang der 1970er Jahre, wie in anderen Schweizer Heimen auch, deutlich zugunsten einer stärkeren Finanzierungsleistung von Bund und Kanton verschoben (92–93). In der Folge erhöhte sich auch der Einfluss staatlicher und kantonaler Akteur:innen auf die Einrichtung: So mussten vom Jugendamt als „dringend eingestufte Fälle“ (97) bevorzugt aufgenommen werden, und auch bei der Bezahlung des Erzieher:innenpersonals intervenierte der Bund (97–98).
Eine systematische Darstellung des Heimalltags findet sich in Deplazes Werk nicht. Vielmehr gelingt es dem Autor anhand der Themenkomplexe, die er im Aktenmaterial ausfindig macht, bekannte Aspekte des Alltäglichen neu mit der Selbstsicht der Akteur:innen zu verknüpfen. So zum Beispiel, wenn das Thema der Anwendung körperlicher Gewalt des langjährigen Heimleiters Hans Häberli gegenüber Jugendlichen im Kontext des Netzwerkes Drogen aufscheint. Häberlis unbedingter „‚Wille zum Wissen‘“ (139) über die Beschaffungs- und Verbreitungswege von im und außerhalb des Heims konsumierten Rauschmitteln habe sich in einer Verhörpraxis niedergeschlagen, die oft stundenlang andauern konnte. Lieferten die Jugendlichen die gewünschten Informationen nicht, schreckte der Heimleiter auch vor Schlägen nicht zurück. Besonders in diesem Kapitel wird deutlich, dass die Perspektive der Jugendlichen selbst – überlieferungsbedingt – doch eine wesentliche Blindstelle ist und die der erwachsenen Verantwortlichen und deren Perzeption jugendlichen Verhaltens dominiert.
Detailliert beschreibt Deplazes die unter den Vorzeichen einer „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) in Albisbrunn und anderen Schweizer Heimen seit Mitte der 1970er Jahren durchgeführte Heimforschung. Der Autor verfolgt zeitgenössische wissenschaftliche Interessen, wie die des Zürcher Professors für Sozialpädagogik Heinrich Tuggener, von dem sich die „Exponenten der Heimpraxis“ und ihre Verbände zunächst wissenschaftliche Schützenhilfe für die stark kritisierte Heimerziehung erhofften (175). Durch eigene Studien versuchten Heime und Verbände aber auch selbst statistisch Problemgruppen zu konstruieren, wodurch die Notwendigkeit des Baus neuer Spezialheime verdeutlicht werden sollte, wie sie seit Mitte der 1970er Jahre im Schweizerischen Jugendstrafrecht verankert waren.
Im Kapitel zur Heimkritik gelingt es Deplazes, Erkenntnisse über den Verlauf der Schweizer Heimkampagne lokal zu präzisieren. Hinweisen aus den untersuchten Fallakten nachgehend, werden sogenannte „‚Progressivgruppen‘“ (239) wie die Basler Lehrlingsorganisation „Hydra“, die Zürcher Auffangstation für aus Heimen entlaufende Jugendliche „Flipp-in“ und eine Rocker-Gruppe mit Blick auf ihre Kontaktpunkte mit Jugendlichen aus Albisbrunn beschrieben. Die Ambivalenz alternativer Betreuungsangebote zeigt sich im Fall des „Flipp-ins“ dadurch, dass dessen Leiter selbst physische und sexualisierte Gewalt gegenüber den Jugendlichen ausübte (250–262).
Der letzte thematische Schwerpunkt befasst sich mit der in Albisbrunn seit Mitte der 1970er Jahre geplanten geschlossenen Abteilung (PTI). Sie wurde trotz anhaltender Kritik an mit Einsperrung verbundener Heimerziehung von der Heimleitung und den Jugendbehörden lange als notwendig dargestellt, aber letztlich nie verwirklicht. Instruktiv ist die Darstellung der internationalen Verflechtung Albisbrunns mit Einrichtungen in Dänemark und der Bundesrepublik Deutschland, die bereits über geschlossene Abteilungen verfügten und den Albisbrunnern konzeptionelle ‚Schützenhilfe‘ leisteten. Auf diese Weise werden Erkenntnisse zur Reformphase der stationären Jugendhilfe präzisiert und im internationalen Kontext verortet.
Deplazesʼ Studie überzeugt durch ihre solide Quellengrundlage. Die ANT erweist sich nützlich als ‚Kompass‘ durch das überlieferte Material. Zahlreiche Bestände, wie etwa verbandsinterne Statistiken wären wohl ohne die Frage nach der Bedeutungszuweisung durch die Akteur:innen gar nicht erst in den Blick geraten. Darüber hinaus vermag Deplazes gut die Fluidität und Verbindungen der Akteur-Netzwerke untereinander zu beschreiben, die eben nicht in einer Chronologie der Ereignisse aufgehen. Wer sich darauf einlässt, diesem oft detailreichen Gang der Beschreibungen Deplazesʼ zu folgen, wird aus der Studie interessante Erkenntnisse gewinnen.
[1] Vgl. z. B. Gabriel, T., Hauss, G. & Lengwiler, M. (2018). Einleitung. In G. Hauss, T. Gabriel & M. Lengwiler (Hrsg.), Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz 1940-1990 (S. 11–25). Chronos.
[2] Deplazes wurde promoviert im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekts „‚Grammatikʼ der stationären Erziehung im Kontext“ am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich.
EWR 23 (2024), Nr. 4 (Oktober)
„Nobelhotel für Versager“
Das Landerziehungsheim Albisbrunn in den Akteur-Netzwerken des Schweizer Heimwesens 1960-1990
Zürich: Chronos Verlag 2023
(430 S.; ISBN 978-3-0340-1708-4; 58,00 EUR)
Anne Kirchberg (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anne Kirchberg: Rezension von: Deplazes, Daniel: „Nobelhotel für Versager“, Das Landerziehungsheim Albisbrunn in den Akteur-Netzwerken des Schweizer Heimwesens 1960-1990. Zürich: Chronos Verlag 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303401708.html
Anne Kirchberg: Rezension von: Deplazes, Daniel: „Nobelhotel für Versager“, Das Landerziehungsheim Albisbrunn in den Akteur-Netzwerken des Schweizer Heimwesens 1960-1990. Zürich: Chronos Verlag 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303401708.html