In Deutschland ist die „Organisation for Economic Co-operation and Development“ (OECD) insbesondere durch die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse im Jahre 2000 bekannt geworden. Die OECD, die zuletzt 1973 mit ihrem Gutachten für das deutsche Bildungssystem Aufmerksamkeit geweckt hatte [1], geriet nun erneut in den Focus der pädagogischen Öffentlichkeit. Dass die Initiativen der OECD jedoch viel mehr umfassen als die Entwicklung und Umsetzung von Large-Skale-Assessments auf nationaler Ebene, zeigt der vorliegende Sammelband. Dieser vereinigt die Ergebnisse historischer und international vergleichender Forschungsarbeiten, die im Rahmen des internationalen Projekts „The Global History of the OECD’s Role in Education“ (2017-2020) entstanden sind. Ein Ziel des Projektes war es, WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Disziplinen und Nationen, die sich mit der bildungspolitischen Rolle der OECD beschäftigen, über Symposien und Tagungen zu vernetzen. Das erkenntnisleitende Interesse dieser Zusammenarbeit zielt zum einen auf das Aufzeigen von Verbindungen von sowohl einzelnen AkteurInnen als auch Organisationen, Institutionen, staatlichen Regierungen und den entsprechenden Finanzierungsströmen, welche die Empfehlungen der OECD beeinflussten. Zum anderen interessieren die Wirkungen eben dieser Bildungsempfehlungen und Initiativen auf Mitgliedsstaaten und Nicht-Mitgliedsstaaten [2]. Der Sammelband ist ein Ergebnis dieser wissenschaftlichen Kooperation unter der Leitung von Christian Ydesen.
Eingeleitet wird der Band im ersten Kapitel durch den Herausgeber. Gemäss Yvedsen sollen sowohl das Projekt als auch der Band zu einem besseren Verständnis der Entwicklung der OECD seit den 1960er Jahren beitragen. Im Sinne eines „human emancipation project“ (8) verfolgt der Herausgeber mit diesem Band den hohen Anspruch, die gegenwärtig erfolgreiche Position einer transnational einflussreichen, wenn nicht sogar der einflussreichsten Mitgestalterin internationaler und nationaler Bildungspolitiken besser verständlich zu machen. Die 13 Beiträge schaffen dies nur teilweise, jeder Betrag für sich liefert jedoch einzelne Elemente zum großen Ganzen.
Die Kapitel verteilen sich auf drei Abschnitte bzw. Perspektiven – die historische, die nationale und die globale Perspektive. Das analysierte Material umfasst Dokumente sowohl aus Archiven der OECD als auch aus nationalen Archiven der Bildungsministerien und von Bildungsforschungsinstituten und wurde durch Interviews mit zentralen wissenschaftlichen und ministeriellen AkteurInnen ergänzt. Der Aufbau ist nachvollziehbar, auch wenn das weitere Ziel, nämlich die politikwissenschaftliche Sichtweise auf internationale Organisationen durch eine historische zu erweitern, in den Beiträgen des zweiten und dritten Teils kaum eingelöst wird. Beispielhaft lassen sich aber einige historische Analysen zur OECD und Beiträge zum konstitutiven Wechselverhältnis von Nichtmitgliedsstaaten und OECD-Initiativen herausheben, die den Wissensstand zu transnational und global agierenden Institutionen bedeutend erweitert [3].
Der erste Teil (Background of the OECD’s Rise to the Role as a Global Authority in Education) befasst sich mit den frühen Entwicklungen der OECD. Dieser Teil des Bandes zeichnet sich durch eine Verschränkung von institutionen-, ideen- und diskursgeschichtliche Perspektiven aus. Regula Bürgi beschreibt in Kapitel 2, wie die bisher kaum beachtete Vorläuferorganisation der heutigen OECD, die 1948 entstandene „Organisation for European Economic Co-operation“ (OEEC), 1953 einen halbautonomen operativen Arm gründete, die „Agence européenne de productivité“ (EPA). Implementiert als US-amerikanisch finanziertes dreijähriges Experiment stand die Agentur unter dem konstanten Druck, die eigene Existenz zu legitimieren. Im Kontext des Kalten Krieges hatte diese zum einen zum Ziel, die Idee der Produktivität als industriell-kulturelles Phänomen zu verbreiten und zum anderen selbst zur Produktivitätssteigerung Europas beizutragen. Noch bevor das Wachstumsnarrativ dominant wurde, nutzte EPA die Versprechen des freien, wettbewerbsorientierten Marktes (höherer Lebensstandard und Wohlstand, weniger Klassenkämpfe), um die beteiligten, jedoch skeptischen Mitgliedsstaaten von ihren Programmen zu überzeugen. Dieser Beitrag ist aus bildungstheoretischer Perspektive bedeutend, denn die EPA verwendete Bildung in subtiler Weise zur Verbreitung des Produktivitätsgedankens, und zwar einerseits als Bestandteil der eigenen Programme, andererseits im eigenen Weiterbildungsangebot für change agents aller Zielgruppen (z.B. Farmer, Manager, Berufslehrer). Als Multiplikatoren verbreiteten sie die auf Produktion ausgerichtete Epistemologie und Ideologie in die Mitgliedsstaaten. Diese vielfältigen, ausgeklügelten Aktivitäten und Programme, die die OECD nach der Schließung der EPA weitestgehend übernommen hat, beschreibt Bürgi mit der Metapher des Oktopusses (29). Die Fangarme in verschiedene soziale Sphären ausstreckend, trug die EPA zur Enkulturation einer westlich-kapitalistisch geprägten Produktivitätsidee in Europa bei.
Gerade dieses Bild einer international, multiperspektivisch agierenden Organisation, die ihr weiteres Überleben zu sichern versucht, wird auch im vierten Kapitel von Vera G. Centeno weiter ausgestaltet. Centeno untersucht das unmittelbare Geschehen vor und nach der Gründung des (heute noch bestehenden) „Centre for Educational Research and Innovation“ (1968) innerhalb der 1961 umbenannten OECD. Interessenskonflikte und die Angst vor Statusverlust veränderten die politische, organisatorische und inhaltliche Ausrichtung der OECD fundamental. Durch die Analyse interner, unveröffentlichter Dokumente kann Centeno zeigen, dass CERI in seiner Forschungsausrichtung einen Sonderstatus hatte. CERI konnte – im Gegensatz zu anderen Abteilungen der OECD oder gegenwärtigen Large-Skale-Assessments – selbst gesteuerte qualitative Politikstudien durchführen. Das bildungspolitische Mandat, das durch CERIs Engagement in Bildungsfragen hinzukam, war wesentlich für die weitere Entwicklung der OECD. Interessanterweise standen die Zielvorstellungen von VertreterInnen des humanistischen Bildungsideals (Selbstzweck von Bildung) und des humankapitalistischen Ansatzes (Bildung als zweckvolle Investition) nicht in Konkurrenz. Beide Positionen heben Bildung als bedeutend hervor, was eine Kopplung beider Perspektiven und damit auch den Erhalt eines politischen Auftrags begünstige (Maren Elfert in Kapitel 3).
Der zweite Teil des Sammelbandes („The Impact of OECD Educational Initiatives and Programs in National Contexts“) befasst sich mit Länderstudien einzelner Mitglieds- und Nichtmitgliedsländer der OECD, d.h. mit den Motiven, den Erwartungen, den Interaktionen und den Folgen im Zusammenhang mit der Teilnahme an den Studien, wie PISA, Education at a Glance oder Teaching and Learning International Survey (TALIS). Besonders interessant ist die Frage nach der nationalen Adaption der OECD-Agenda mit Bezug auf China (Kapitel 8 Yihuan Zou) und die Südkegelländer (Kapitel 9 Felicitas Acosta). Nichtmitgliedsstaaten und kommunistische Länder sind ein vernachlässigtes Thema in der OECD-Forschung. Während China seit 1998 an den OECD-Initiativen teilnimmt und dies als Demonstration von Fortschritt, Bildungserfolg, internationaler Ebenbürtigkeit und nachträglicher Legitimation von Reformen nutzt, ergibt sich für die Südkegelländer ein anderes Bild. Argentinien, Uruguay und Chile, die nicht dem „Club der Reichen“ angehören, können ihre Beziehungen zur OECD mittels PISA-Teilnahmen stärken. Die Teilnahmen zielen vordergründig auf die Verbesserung der Bildungsergebnisse. Der Beitrag arbeitet überzeugend heraus, wie trotz Nicht-Erreichen dieses Ziels eine Kooperation aufrechterhalten wird – nämlich durch die inhärente Anbindung an das Narrativ der wirtschaftlichen und politischen Rationalität in der Zusammenarbeit selbst. Zugleich wird dadurch die seit dem 19. Jahrhundert anhaltende Erwartungshaltung an Expansion und Internationalisierung der Schulbildung zufriedengestellt.
Der dritte Teil des Buches („OECD’s Education Initiatives and Programs in a Global Perspective“) richtet den Blick auf die globalen Folgeerscheinungen, Diskursverschiebungen und die Technokratisierung, die durch die Aktivitäten der OECD auf pädagogischer, politischer und ökonomischer Ebene angestoßen wurden. Die hier versammelten Beiträge geben Aufschluss darüber, wie die OECD einerseits selbst über Steuerungsmechanismen agiert, und andererseits, wie das Engagement der OECD in der (digitalen) Ausformung von Ideen und Konzepten ihr dazu verhilft, ihre bildungspolitische Relevanz aufrecht zu erhalten. Wenn man bei einer Kapitelüberschrift wie „Historicizing New Spaces of the OECD’s Global Educational Governance: PISA for Schools and PISA4U“ (Kapitel 13 Steven Lewis) eine Historisierung von globalen Phänomenen erwartet, so wird man jedoch schnell enttäuscht. Generell wird dieser Teil dem eigentlichen Anspruch des Buches nicht mehr gerecht. Der Beitrag über die europäische „fear of falling behind“ von John Benedicto (Kapitel 12) vermag auf das Potenzial einer historischen Perspektive für Vergleiche politischer Systeme zu verweisen, ohne es jedoch selber zu nutzen.
Das Bild der OECD als Oktopus prägt sich der Leserin bzw. dem Leser bis zum Schluss ein. Die Komplexität wechselseitiger Inanspruchnahmen in der Verfolgung nationaler Ziele diskutiert der Herausgeber Christian Ydesen im abschließenden Kapitel (14) folgerichtig unter dem Konzept des global governing complex, das den Band durchzieht. Er fügt die heterogenen Puzzleteile zusammen (294ff.) und rundet damit den Band ab. Die Dynamik von Interessenskonflikten und Selbstbehauptungsstrategien, die Modi Operandi von Verhandlungen und Interaktionen zwischen lokalen und globalen Institutionen, AkteurInnen und Politikräumen sind es, die den Band insgesamt interessant machen. Der Sammelband stellt einerseits die Auffassung der OECD-Studien als Folgeerscheinung der geopolitischen Konstellation des Kalten Krieges in Frage und fordert andererseits die einseitige Fokussierung auf PISA als das ermächtigende Wahrheitsregime der OECD heraus. In der Durchsetzung nationaler Interessen kommt der OECD eine wichtige Funktion zu, sei es in der Demonstration der eigenen nationalen Überlegenheit oder des Mithaltenkönnens in internationalen Rankings. Dabei geht es auch – und das zeigt der Band sehr klar – um die überlebenssichernde Legitimation der OECD selbst.
[1] OECD, 1973: Bildungswesen: mangelhaft. BRD-Bildungspolitik im OECD-Länderexamen, Frankfurt
[2] Hier nachzulesen: https://vbn.aau.dk/en/organisations/the-global-history-of-the-oecd-in-education-2 [letzter Zugriff: 28.09.2020]
[3] Tröhler D. & Barbu R. (2011). Education Systems in Historical, Cultural, and Sociological Perspectives. The Future of Education Research, vol 1. Rotterdam: SensePublishers. DOI: 10.1007/978-94-6091-827-8_1
Sellar, S. & Lingard, B. (2013). The OECD and global governance in education, Journal of Education Policy, 28:5, 710-725, DOI: 10.1080/02680939.2013.779791
EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)
The OECD’s Historical Rise in Education
The Formation of a Global Governing Complex
Cham: Palgrave Macmillan 2019
(308 S.; ISBN 978-3-030-33799-5; 124,79 EUR)
Susann Hofbauer (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Susann Hofbauer: Rezension von: Ydesen, Christian (Hg.): The OECD’s Historical Rise in Education, The Formation of a Global Governing Complex. Cham: Palgrave Macmillan 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303033799.html
Susann Hofbauer: Rezension von: Ydesen, Christian (Hg.): The OECD’s Historical Rise in Education, The Formation of a Global Governing Complex. Cham: Palgrave Macmillan 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978303033799.html