„Gleiche Startchancen schaffen!“, wie es bereits der Imperativ im Titel des Buches ankündigt, nimmt diese Überlegung zum Ausgangspunkt. Das Personal wird dabei als „zentraler Qualitätsfaktor elementarpädagogischer Einrichtungen“ gesehen (9), der mit darüber bestimmt ob und inwiefern die (politisch zugewiesene) Funktion der Kompensation von Bildungsbenachteiligungen in den Kindertageseinrichtungen in der pädagogischen Arbeit umgesetzt wird.
Das Buch, das auf der von den AutorInnen durchgeführten Studie „Potenziale von Kindertageseinrichtungen zur Kompensation von Bildungsbenachteiligungen“ basiert, fokussiert die gegenwärtigen Bedingungen in Kindertageseinrichtungen in Sachsen und greift die Frage auf, wie das pädagogische Personal in Kindertageseinrichtungen die Problematik der Bildungsbenachteiligung wahrnimmt, welche Maßnahmen zur Kompensation verfolgt werden und ob die hierfür erforderlichen Rahmenbedingungen gegeben sind (9ff). Die Studie lässt Fachkräfte zu Wort kommen, die mit Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren arbeiten. Die durchgeführte, für Sachsen als repräsentativ ausgewiesene, quantitative Befragung umfasst mehr als 1600 pädagogische Fachkräfte aus über 430 Kindertageseinrichtungen; ihr wurde eine qualitative Befragung vorgeschaltet.
Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt. Einführend wird knapp das „Potenziale-Projekt“ vorgestellt. Es folgt ein Überblick über den Forschungsstand zur Bildungsbenachteiligung. Hier wird der Risikobegriff eingeführt, der der Studie zugrunde liegt: Das Autorenteam spricht von einem hohen „sozialen Risiko für eine prekäre Bildungslaufbahn“, wenn „Migrationshintergrund“, „niedriger sozio-ökonomischer Status“ und „Bildungsferne der Eltern“ zusammenkommen (16).
Es folgen zwei Kapitel zur Ergebnisdarstellung, in der auch die eingesetzten Erhebungsverfahren dargestellt werden: Leitfadengestützte, explorative ExpertInneninterviews kommen ebenso zur Anwendung wie Gruppendiskussionen und ein quantitativer Fragebogen mit offenen und geschlossenen Fragen. Den Abschluss bilden die Diskussion und der Abdruck des eingesetzten Fragebogens, der – was positiv zu erwähnen ist – transparent macht, auf welchen Fragen die im Buch dargestellten quantitativen Befunde fußen.
Aufgrund der Tatsache, dass es bislang wenige Studien gibt, die das pädagogische Personal zu Bildungsbenachteiligung befragen, sind insbesondere die Ergebniskapitel aufschlussreich. Sie vermitteln einen Einblick in das, was für Fachkräfte „bildungsbenachteiligte Kinder“ sind und wie sie diese in ihren Einrichtungen wahrnehmen. Auch erfährt man etwas darüber, welche Funktion der Kindergarten aus Sicht der Fachkräfte bei der Kompensation von Benachteiligung hat, haben soll und – unter den gegebenen Bedingungen – haben kann.
Die AutorInnen halten fest, dass das Problem der Bildungsbenachteiligung von Kindern mit sozialen Risikohintergründen von den Fachkräften und ExpertInnen wahrgenommen und reflektiert werde (59ff). In den Gruppendiskussionen werde ein „hohes Niveau […] differenzierter fachlicher Einschätzung des Entwicklungsstandes“ und der „notwendigen Form der Lernbegleitung sichtbar“ (60). Als größtes Hindernis mit Blick auf eine (unzureichende) Kompensation von Benachteiligung werden strukturelle Rahmenbedingungen wie personelle Ausstattung und Gruppengröße gesehen.
Die quantitative Teilstudie greift die Ergebnisse der qualitativen Teilstudie auf (wie genau wird nicht dargelegt); die Auswertungen sind überwiegend deskriptiv. Die Fragen an die Fachkräfte (63) zielen u. a. auf folgende Bereiche:
- Welche Zuschreibungen bezüglich bildungsfördernder Umwelt und Erziehungshaltungen nehmen sie hinsichtlich bildungsferner Familien vor?
- Sehen sie bezüglich der Kinder aus diesen Familien einen besonderen Bedarf an pädagogischer Zuwendung und Methodik und auf welche Entwicklungsbereiche der Kinder beziehen sie diesen?
- Wie schätzen sie die Kompensationsmöglichkeiten ihrer Einrichtungen hinsichtlich sozialer Bildungsbenachteiligung ein?
- Inwieweit ist die Arbeit mit bildungsbenachteiligten Kindern in Einrichtungskonzeptionen verankert?
- Liefert der sächsische Bildungsplan hinreichende Orientierungen und Hilfestellungen zur Entwicklung solcher Ansätze?
- Lässt sich ein spezifischer Fortbildungsbedarf ausmachen?
- Werden fördernde oder hemmende Rahmenbedingungen benannt?
Die deutlichsten Entwicklungsrisiken sehen die Fachkräfte im Bereich der kognitiven Anregung und Förderung der Kinder (69). Darüber hinaus gehen die Erzieherinnen bei Kindern aus sozial schwachen, bildungsfernen Familien häufig von Auffälligkeiten in kognitiven Entwicklungsbereichen wie z. B. der Sprachentwicklung aus (75). In diesem Zusammenhang sehen die Fachkräfte zu zwei Dritteln besonderen Bedarf an Unterstützung und Förderung für bildungsbenachteiligte Kinder, insbesondere im Bereich Lernbegleitung und Sprache (78). Zugleich geben sie an, dass sie gerade in der kognitiven Förderung die geringsten Potenziale an Kompensation sehen. Vielmehr sind sie der Auffassung, dass im Kindergarten besser Benachteiligungen im Bereich Gesundheit und soziales Verhalten ausgeglichen werden können (80). Gründe hierfür werden nicht erfragt; Interpretationen dieses Befundes gibt es keine.
Die Einschätzungen des Personals werden in der Studie auch mit den Rahmenbedingungen in Beziehung gesetzt. Beispielsweise geben 57% der Erzieherinnen, die bildungsbenachteiligte Kinder in ihrer Gruppe haben, an, dass die Situation von bildungsbenachteiligten Kindern und der Umgang mit ihnen Teil der Konzeption der Einrichtung ist, während dies nur auf 43% der Erzieherinnen zutrifft, die kein solches Kind in der Gruppe haben (89). 55% der Ersteren sagen darüber hinaus aus, dass der Sächsische Bildungsplan ihnen diesbezüglich eine unzureichende Orientierung bietet, während dies auf die zweite Gruppe zu 49% zutrifft.
Insgesamt beurteilen die Fachkräfte v.a. die Zeit für Vor- und Nachbereitung und für Dokumentation und Beobachtung als wenig angemessen um mit bildungsbenachteiligten Kindern zu arbeiten (92). Demzufolge wünschen sie sich mehr Zeit für Beobachtung und Dokumentation, kleinere Gruppen, mehr Vorbereitungszeit und eine schnelle Abklärung bezüglich eines Förderbedarfs.
Fortbildungsbedarfe bezüglich Bildungsbenachteiligung äußern mehr als drei Viertel aller Befragten, noch ein größerer Anteil hat noch nie eine Fortbildung mit diesem Schwerpunkt besucht (99), insbesondere weil es keine passenden Angebote gab und andere Fortbildungen als wichtiger eingeschätzt wurden.
Insgesamt kann die Studie als eine Art Praxisforschung verstanden werden. Sie gibt ein interessantes, repräsentatives Stimmungsbild zu den Einstellungen, subjektiven Orientierungen und den Arbeitsbedingungen von Fachkräften in sächsischen Kindertageseinrichtungen. Dem Ziel der Studie, bedarfsorientierte und damit „passgenaue Unterstützungs- und Fortbildungsangebote“ entwickeln zu können (123), kann so entsprochen werden.
Darüber hinausgehend lassen sich an mehreren Stellen relevante (Forschungs-) Fragen anschließen. In der Studie sind implizite Annahmen enthalten, die es wert wären, genauer bearbeitet zu werden – gerade wenn es um die Perspektive des Fachpersonals auf Bildungsbenachteiligung und Kompensation geht. Dies lässt sich an zwei Beispielen aufzeigen:
Dem Fachpersonal für die Gruppeninterviews wurde als Gesprächsanlass eine Videosequenz aus dem Kindergartenalltag vorgespielt, über die die Fachkräfte diskutieren sollten. Gezeigt wurde ihnen ein sechsjähriger Junge „Kevin“ u.a. in einer Freispielsituation, dessen „Elternhaus […] bildungssoziologischen Risikoparametern (niedriger Bildungsabschluss und geringes Einkommen der Eltern) entspricht“ (49). Wie dem Kind über ein Video „angesehen“ werden kann, aus welchem Elternhaus es stammt, wird nicht dargelegt.
„Kevin“ wird in der Darstellung der Videosequenz u.a. als „gelangweilt“ und „ideenlos“ beschrieben. In der Gruppendiskussion wird u.a. über seine mögliche weitere Entwicklung und Schulkarriere (51) sowie über verschiedene, u.a. familiale Ursachen für das von ihm gezeigte Verhalten diskutiert. Der Rezensentin wurde nicht deutlich, wozu diese, wie das Autorenteam selbst anmerkt, „Spekulationen“ dienen sollten. Was zeigen sie mehr als stereotype Annahmen über „gute“ oder „schlechte“ Elternhäuser und v.a. Annahmen über „richtige“ Entwicklungsverläufe – was nicht Gegenstand der Studie war? Inwiefern sind diese Annahmen der ExpertInnen für den Abbau von Bildungsbenachteiligung hilfreich, inwiefern möglicherweise abträglich?
In der quantitativen Teilstudie wurde die Klassifizierung von „Risikokindern“ vorgegeben. Damit aber werden Kinder aus „bildungsfernen“ Familien per se als „besondere“, als „Problemgruppe“ adressiert und die Wahrnehmung der Fachkräfte bereits auf diese „andere“ Gruppe gelenkt. Inwiefern aber werden durch die „Besonderung“ im Fragebogen „diese“ Kinder nicht genau zu einer besonderen förder- und unterstützungsbedürftigen Gruppe gemacht? Interessant wäre es daher, die Kategorie „Risikokind“ nicht einfach vorzugeben oder als gegeben anzunehmen, sondern zu erforschen wie Kinder zu „Risikokindern“ gemacht werden.
Dies wäre vor allem lohnend, wenn man – wie die AutorInnen schreiben – die Fachkräfte als einen zentralen Qualitätsfaktor elementarpädagogischer Einrichtungen im Sinne der Kompensation von Bildungsbenachteiligungen konzipiert. Denn dann wäre es aufschlussreich sich genauer mit den Vorannahmen von Erzieherinnen auseinander zu setzen und auch zum Thema zu machen in welchen Situationen welche Kinder zu „Risikokindern“ in der Einrichtung werden. Diese Überlegungen ließen sich womöglich bereits auf der Basis des Materials aus den Gruppendiskussionen vertiefen; hier finden sich zumindest Problematisierungen wie Formen möglicher „Stigmatisierung“ durch das pädagogische Handeln (53).