Im Zentrum dieser in französischer Sprache erfolgten Veröffentlichung stehen 10 Uhrenmacherschulen, die durch ihre dominante Stellung in der Ausbildung für diesen Bereich wohl dazu beitrugen, dass die Schweiz im Uhrenbereich bis heute weltweit führend in dieser Branche geblieben ist. In der Bildungslandschaft Schweiz sind jene insofern eine Besonderheit, als dass sie nicht auf dem dualen Berufsprinzip beruhen, sondern eine vollzeitschulische Ausbildung gewährleisten und gemäss dem auch in Frankreich entwickelten Modell der Produktionsschule als öffentlich zugängliche Bildungseinrichtungen Theorie und Praxis unter einem Dach vermitteln. Die Frage warum gerade die beinahe ausschliesslich im französischsprachigen Jura der Schweiz angesiedelte Industrie, von Genf bis Solothurn, eine solche internationale Bedeutung und Ausstrahlungskraft entwickeln konnte, beschäftigte bereits den Wirtschaftshistoriker David Landes, der hierbei ganz im Weberschen Sinne vorwiegend protestantisch-ethische Motivlagen im Vordergrund sah [1]. Bei der jüngst erschienenen Geschichte der Schweizer Uhrenindustrie hingegen ist es vor allem die technische Organisation, das Marketing und die Art der Arbeitsbeziehungen, die den Schweizern gegenüber den französischen und englischen, insbesondere aber amerikanischen und japanischen Konkurrenten, über einen längeren Zeitraum bis heute immer wieder erlaubte, Rückschläge aufzufangen und sich wieder eine Spitzenposition zu erarbeiten [2]. Die hier besprochene Publikation vermittelt hingegen, ohne auf jene Debatte direkt Bezug zu nehmen, ein Bild der Uhrenmachertradition, die sich aus lokalen Initiativen heraus in ihrer Vielfalt und in ihrem Innovationspotenzial entfalten konnte.
Die von den Herausgebern - einer spezialisierten Historikerin und einem ausgebildeten Uhrenmacher und Lehrer - versammelten Beiträge verschiedener Autoren, portraitieren in der Reihenfolge ihrer Gründung die jeweiligen wechselhaften Schulgeschichten von den Anfängen bis in die jüngste Zeit und schließen daran eine reich illustrierte Präsentation von an den jeweiligen Schulen produzierten und erhaltenen „pièces-écoles“, verfertigte Abschlussarbeiten von Schülern, das heißt Wanduhren, Taschenuhren, Armbanduhren, Chronometer usw. an. Die 1824 gegründete „École d’horlogerie“ in Genf war die erste Institution in der Schweiz, die die Tradition der seit dem 16. Jahrhundert in Zünften organisierten Lehrlingsausbildung im Uhrengewerbe aufgriff und mit Fächern wie Schreiben und Lesen, Rechnen und fachbezogenem Zeichnen verknüpfte. Es war die „Societé des Arts“, die darauf bedacht war, Wissen und Erfahrung aus der näheren und weiteren Umgebung Genfs gleichsam in einer Bildungseinrichtung zu zentralisieren, um die Exzellenz der Genfer Uhrenmacher gegenüber ihren Konkurrenten weiterhin zu gewährleisten. In den folgenden Jahrzehnten entstanden – wiederum häufig aufgrund lokaler Initiativen von gemeinnützigen Verbänden, aber auch den Arbeitgebern selbst – ähnliche Einrichtungen in La Chaux-de-Fonds (1865), Saint-Imier (1866), Le Locle (1868), Neuchâtel (1871), Biel (1872), Fleurier (1875), Porrentruy (1884), Solothurn (1884) und Le Sentier (1901). Während vier dieser Schulen (La Chaux-de-Fonds, St. Imier, Neuchâtel und Fleurier) nicht mehr bestehen bzw. in größeren regionalen Bildungszentren aufgegangen sind, teilweise auch einem „academic drift“ ausgesetzt waren und zu einem lediglich Theorie vermittelnden Technikum mutierten, sind die weiteren bis heute in Betrieb. Neben der Herausgeberin, die zwei Schulportraits (Genf und Le Sentier) beisteuert, sind drei vom Wirtschaftshistoriker Pierre-Yves Donzé (Biel, St-Imier, Porrentruy) verfasst. Als weitere Autoren figurieren für La Chaux-de-Fonds, Claude-Alain Künzi, für Le Locle, Helène Pasquier, für Neuchâtel, Maurice Evard, für Fleurier, Anne-Marie Cruchaud und für Solothurn, Vuk Djurinovi, während die Dokumentation der in den Schulen verfertigten Abschlussarbeiten von Antoine Simonin zusammengestellt wurde.
Die einzelnen reich illustrierten Schulportraits sind - naturgemäß je nach Quellenlage - von unterschiedlicher Ausführlichkeit und fokussieren im Wesentlichen die Geschichte dieser Bildungseinrichtungen aus der Perspektive der lokalen Akteure und der Schulleitungen, weniger im Blick sind die Schüler und die didaktisch-methodischen und curricularen Entwicklungen.
Begrüßenswert wäre gewesen, wenn diese Darstellung – vielleicht auch im Sinne einer Kontrastierung - um ein zusätzliches Kapitel zu Schaffhausen, einer weiteren wichtigen Produktions- und Ausbildungsstätte ergänzt worden wäre.
Die Uhrenmacherschulen gewähren vor allem dem „horologer rhabilleur“ eine fundierte vierjährige Ausbildung, also demjenigen Uhrenmacher, der selbst in seiner Ausbildung seine eigenen Werkzeuge verfertigt und in Handarbeit eine Uhr von A bis Z verfertigen und reparieren kann. Aus diesem Grunde ist auch das „piéce-école“ von höchster Bedeutung, da es die Kunst des jeweiligen Uhrenmachers augenfällig dokumentiert.
Gerade das Ausdünnen dieser Tradition, am Schluss der Ausbildung solche Kunstwerke zu verfertigen, veranlasste den Mitherausgeber Simonin, wie er in seinem Beitrag schreibt, zu der vorliegenden reflexiven Bestandesaufnahme, die auch etwas über die Zukunft der Ausbildung und der Branche aussage. Im „chef-d’oeuvre“ offenbare sich das Selbstvertrauen, das Ausnahme-Können, die Disziplin und das Auge des ehemaligen, abwechslungsweise als „apprenti horologer“ oder „elève“ bezeichneten, Lehrlings. Die Differenzierung der Tätigkeiten und die technologischen Umwälzungen haben andere Ausbildungsformen, sowohl duale, daneben auch weniger hoch qualifizierte, wie auch fachtechnische berufliche Bildungsmöglichkeiten entstehen lassen, wie aus den anderen Beiträgen in diesem Band deutlich wird.
Das abschließende und (zu) knappe Kapitel widmet sich denn auch der weiteren Zukunft dieser schulbasierten Ausbildung. Viele Betriebe seien seit den 80er und 90er Jahren zu hausinternen Trainingszentren und Aus- und Weiterbildung vor Ort übergegangen, was die Uhrenmacherschulen wiederum unter Druck bringe, sie allerdings auch zu mehr Kooperation und engeren Verzahnung mit dualen Ausbildungsformen gebracht habe. In der Renaissance der mechanischen Uhr, wie sie sich heutzutage wiederum erfolgreich auf dem Markt behaupte, sehen allerdings die Herausgeber erneut die Chance, dass diese Bildungseinrichtung und das mit ihm verbundene „chef-d’ouevre“ eine Zukunft hat.
Diese – im wahrsten Sinne des Wortes – gewichtige und großformatige Veröffentlichung, ursprünglich in der Absicht entstanden, eine Ausstellung zu dokumentieren, ist nicht nur eine Augenweide bezüglich der Abbildungen und Illustrationen, sondern auch bezüglich der bis anhin so noch kaum erreichten Informationsfülle und spezifischen Problembearbeitung.
[1] Landes, David S. (2000): Revolution in Time. Clocks and the Making of the Modern World. Revised and Enlarged Edition. Harvard University Press.
[2] Donzé, Pierre-Yves (2009): Histoire de l’Industrie Horologère Suisse. De Jacques David à Nicolas Hayek (1850-2000). Neuchâtel: Edition Alphil.
EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)
Dix Ecoles D’Horlogerie Suisses
Chefs D’Oeuvre de Savoir-Faire
Neuchâtel: Editions Simonin 2010
(565 S.; ISBN 978-2-9700-5733-8; 180,00 SFR)
Philipp Gonon (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Philipp Gonon: Rezension von: Fallet, Estelle / Simonin, Antoine (Hg.): Dix Ecoles D’Horlogerie Suisses, Chefs D’Oeuvre de Savoir-Faire. Neuchâtel: Editions Simonin 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978297005733.html
Philipp Gonon: Rezension von: Fallet, Estelle / Simonin, Antoine (Hg.): Dix Ecoles D’Horlogerie Suisses, Chefs D’Oeuvre de Savoir-Faire. Neuchâtel: Editions Simonin 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978297005733.html