Mit âJacques Rancière: Education, Truth, Emancipationâ legen Charles Bingham und Gert Biesta eine Sammlung von Aufsätzen vor, die sich mit der erziehungsphilosophischen Bedeutung des politischen Denkers Jacques Rancière befassen. Das Buch lässt sich als Problematisierung soziologischer und psychologischer Theoretisierungen des pädagogischen Verhältnisses lesen. In der politischen Bestimmung der Emanzipation liegt ein verändertes pädagogisches Verhältnis begrĂźndet und damit auch ein verändertes Verständnis der âLernendenâ und von âSchuleâ. Das Buch enthält neben sechs Aufsatzbeiträgen (die zum Teil bereits in Zeitschriften publiziert worden sind) einen Essay von Rancière in der englischen Ăbersetzung von Bingham sowie ein kurzes Schlusskapitel.
Das Buch wird erĂśffnet mit dem Essay von Rancière: Hier werden verschiedene Motive des provokativen wie anregenden Buches âDer unwissende Lehrmeisterâ aufgegriffen und vertieft. Rancière stellt im âunwissenden Lehrmeisterâ den historischen Fall des J. Jacotot vor, der das lehrte, worin er selbst unwissend war. Im Zentrum des vorliegenden Essays steht ebenfalls die âEmanzipationâ â in kritischer Entgegensetzung zur Verdummung der Lernenden durch Erklärungen, da diese implizierten, dass die Lernenden nicht selbst in der Lage seien zu verstehen. Als soziale Logik betrifft die Verdummung nach Rancière nicht nur pädagogische Praxen im engeren Sinn. Sie betrifft beispielsweise auch die Sozialtheorie und -forschung, die uns zu erklären beabsichtigt, was der Fall ist â wie Rancière kritisch unter Rekurs auf Bourdieus âReproduktionslogik sozialer Ungleichheitâ erläutert. Diese erkläre mit dem Reproduktionsmechanismus sich selbst im Verhältnis zu dieser Reproduktion und weist den HĂśrenden ihren Ort zu, z.B. den entsprechend ausgebildeten Lehrern ihren Platz als Sozialforscher, Lehrer und aufgeklärte BĂźrger. Der unwissende Lehrmeister beginnt â so Rancière â das Lehren nicht aus der Ăberlegenheit der Erklärung des Stoffes oder der pädagogischen Situation, sondern mit dem Postulat der Gleichheit aller Intelligenzen. Die folgenden Beiträge von Bingham und Biesta machen es sich nun zur Aufgabe, diese These zu erschlieĂen und ihre pädagogische Reichweite zu prĂźfen.
Der Beitrag âA New Logic of Emancipationâ (Kap. 2) befasst sich mit eben jenem Abhängigkeitsverhältnis, das Emanzipationspraxen inhärent ist. Ausgehend von einer Rekonstruktion des pädagogischen Emanzipationsdenkens der abendländischen Tradition arbeiten die Autoren historisch-systematisch deren âLogikâ heraus: Die Emanzipation stelle eine Intervention von auĂen dar, die dem zu Emanzipierenden widerfahre und die daher zuletzt auf seiner Unfähigkeit bzw. Ungleichheit beruhe. Mit Rancière entwickeln die Autoren eine demokratietheoretische Alternative. Diese bestimme Emanzipation als einen ereignishaften Prozess, in dem Ordnungszusammenhänge im Sozialen (die âAufteilung des Sinnlichenâ) Ăźberschritten wĂźrden, etwas sichtbar wĂźrde, was zuvor nicht gesehen oder gehĂśrt werden konnte.
Im Beitrag âThe Figure of the Child in Jacques Rancière and Paulo Freireâ (Kap. 3) wird das Lernen der Muttersprache als zentrale Referenz fĂźr diese andere Logik der Emanzipation eingefĂźhrt. Den Autoren geht es dabei nicht um eine Naturalisierung bzw. Psychologisierung des Lernens. Vielmehr zielen die AusfĂźhrungen darauf ab, den Spracherwerb als einen âpolitischen Prozessâ zu deuten, da das Kind in diesem âseine Stimme gewinneâ. Dieser Gesichtspunkt wird durch eine vergleichende Bezugnahme auf die âPädagogik der UnterdrĂźcktenâ nach Paulo Freire, deren Ziel die Befreiung der Subjekte in einem psychologischen Sinne ist, weiter ausgefĂźhrt. Entscheidend sei im Befreiungsmodell Freires, dass die Räume des Sprechens â Befreiung oder UnterdrĂźckung â bereits vermessen seien. Dem Sprechen des Kindes eigne eine Beliebigkeit und UnverfĂźgbarkeit, die eine Differenz zur gelebten Ordnung impliziere.
Mit der Frage nach der Inklusion und ihrer Bedeutung fĂźr demokratische Prozesse werfen die Autoren im Folgebeitrag âInclusion in questionâ (Kap. 4) eine wichtige Frage auf, da der Anspruch der âInklusionâ seit einigen Jahren im Zusammenhang einer Anerkennung der Pluralität bzw. Vielfalt breit in der Erziehungswissenschaft diskutiert wird. In ihrem Beitrag analysieren die Autoren, auf welche Weise Inklusion als etwas Realisierbares gedacht wird. Die beiden hier diskutierten Antwortoptionen â zum einen der Rang der Interessen bzw. BedĂźrfnisse und zum anderen die Nachvollziehbarkeit und VerhältnismäĂigkeit der AnsprĂźche (nach Young) â fĂźhren die Autoren zu der Feststellung, dass der Anspruch der Inklusion in der demokratischen Erziehung von Voraussetzungen abhängig ist, die einen ausschlieĂenden Charakter entfalten. Die Forderung der Inklusion bedarf daher einer kritischen Reflexion dieses Ausschlusses ebenso wie der Reflexion der Unterscheidung von âInnenâ und âAuĂenâ, die im Sprechen Ăźber Inklusion wie selbstverständlich gefĂźhrt wird. Mit Rancière wird hier ein Denken erprobt, das die Demokratie nicht als âNormalsituationâ inauguriert, sondern als ein Projekt begreift, das die Differenz in die existierende Ordnung einträgt: âFor a child to vote, it will not suffice to simply add the childâs name to the number of those who can vote. The political predicates âchildâ and âvoterâ must themselves become open to dispute. The point of politics, after all, is about the reconfiguration of the spaceâ where parties, parts, or lack of parts have been identifiedâ (83, Hervorh. i.O.).
Dass im darauffolgenden Beitrag âRecognitionâs Pedagogyâ (Kap. 5) gegenwärtige Theorien der Anerkennung (Fraser vs. Honneth) eine kritische Sichtung erfahren, lässt sich als konsequente FortfĂźhrung des vierten Kapitels begreifen. Die in beide Richtungen (Fraser und Honneth) formulierte Kritik bezieht sich auf das Verständnis der Anerkennung mit ihren normativen AnsprĂźchen. Gegen diese suchen die Autoren Bezug nehmend auf das politische Denken Rancières geltend zu machen, dass sie auf einer theoretischen SchlieĂung beruhen â durch die Art und Weise, wie die AnsprĂźche der Anerkennung durch eine Moralpsychologie oder durch den Verweis auf gegebene soziale Konflikte als einholbar erscheinen. Die Anerkennung erhält, so argumentieren Bingham / Biesta, einen definiten Ort bezogen auf den sozialen Raum. Das sei auch daran erkennbar, dass die genannten Theorien selbst als politische Einsätze gedacht werden mĂźssen, da mit ihnen eine âLehreâ der Anerkennung verbunden sei: âPolitical philosophy in the form of the debate over recognition is itself a form of pedagogy, a part of the project of education and the intervention of the sciences of the individual and collective soulâ (101). Diese grundsätzlichen Ăberlegungen zur âPädagogisierung der Gesellschaftâ mĂźnden zum einen in ein verändertes Selbstverständnis sozialer bzw. politischer Theorie und zum anderen in die (auch fĂźr die eigene Unternehmung paradoxe) Frage, ob und wie eine âAnerkennungâ ohne eine âLehreâ mĂśglich ist.
Der Beitrag âTruth in Education, Truth in Emancipationâ (Kap. 6) analysiert die verschiedenen Wahrheitsbegriffe pädagogischer Ansätze. Traditionsbezogene Ansätze (âtraditional educationâ) stellten die Wahrheit als etwas Gemeinsames dar, das die Lernenden erreichen mĂźssten, während die Wahrheit in der progressiven Erziehung (âprogressive educationâ) als etwas von allen zu Teilendes gelte, das der Erfahrung der Einzelnen entsprechen kĂśnnen mĂźsse (111). Im kritischen Modell sei demgegenĂźber die Wahrheit im Auffinden der gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse verortet. Bingham / Biesta wollen mit ihrer Bezugnahme auf Rancière den Zusammenhang von Wahrheitsbegriff und Lehr-/Lernpraktiken weiter verfolgen. Auch hier läuft die Argumentation darauf zu, âSprechenâ bzw. âSpracheâ in ihrem Differenzverhältnis zur Wahrheit zu entwickeln: âThis quintessential sentense, âDo you understandâ?, is altogether common in educational situations, that is, in explanatory situations. Yet, it is altogether mistaken as it presents truth as given to us, as something that needs only to be understood throught explanationâ (123). Ausgehend von diesen Ăberlegungen entwickeln Bingham / Biesta zum Ende des Kapitels Rancières Kritik an den soziologischen Beschreibungen der Schule von Bourdieu / Passeron, deren Wahrheitsanspruch ein totaler ist.
Die Reflexionen des Wahrheitsproblems im sechsten Kapitel stoĂen die Leser und Leserinnen auf die unvermeidlichen Fragen, auf welche Weise die pädagogische Wirklichkeit gefasst werden kann und wer die Beteiligten in dieser sind. Im Beitrag âLearner, Student, Speakerâ (Kap. 7) wird diese Frage reflexiv gewendet, erneut ohne die dahinter stehende Problematik aufzulĂśsen, wie explanatorisch dargelegt werden kĂśnne, was der Fall ist. Der Einsatzpunkt dieses Beitrages ist die Frage, wie die âSubjekteâ der Erziehung genannt werden sollen. Von einem Lerner zu sprechen, impliziere ein Defizit (âlackâ, 134), an dessen Stelle in Jacotots Lehrexperiment ein âStudierenderâ trete, der sich keiner anderen Intelligenz, sondern nur dem Willen des Lehrmeisters unterwerfe (137ff). Bingham / Biesta gehen noch einen Schritt weiter zum âSprechendenâ, an dem nochmals die Figur der Subjektivierung als Deidentifizierung entwickelt wird.
Im Schlusskapitel werfen Bingham / Biesta die Bedeutung Rancières fĂźr das Erziehungsdenken auf und pointieren die Kritik der Methodisierung und Instrumentalisierung, wie sie Rancière in âDer unwissende Lehrmeisterâ entwickelt hat. âThe point here is quite simply that Rancièreâs educational work is not a recipe for any kind of pedagogyâ (152). An Rancière sei weder mit einem neuen Ansatz kritischer Pädagogik noch mit einer dezidierten Schulkritik anzuschlieĂen, da es ihm um eine allgemeine soziale Logik gehe (153). Der Grundsätzlichkeit der Argumentation entspricht mithin keine Lehre bzw. starke Position bezĂźglich der Erziehungstheorie, der Schule oder dem pädagogischen Verhältnis. Am Ende steht nach Bingham / Biesta vielmehr eine kritisch-reflexive Ăffnung dessen, was âSchuleâ heiĂen kann.
Das Buch von Charles Bingham und Gert Biesta macht Rancières Emanzipationsdenken einer breiteren (englischsprachigen) Leserschaft zugänglich. Der Vorzug des Buches liegt darin, eine verständliche erziehungsphilosophische Argumentation zu entwickeln, die in ihrem âErklärenâ zugleich verbindlich und reflexiv ist. Gerade dadurch gelingt es den beiden Autoren, nicht nur den anderen Zugang zum pädagogischen Gegenstand, sondern auch zu dessen Theoretisierung einzuholen. In dieser doppelten Bedeutung der Reflexion pädagogischer Gegenstandskonstitution dĂźrfte das Buch fĂźr den deutschsprachigen Diskurs der Erziehungs- und Bildungsphilosophie von besonderem Interesse sein.
Es gibt auch Kritisches anzumerken. Da sind erstens die Polarisierungen und Generalisierungen, welche die Autoren einsetzen, um ihr Projekt zur Geltung zu bringen. So lässt sich das weite Feld der Emanzipationsdiskurse sicherlich nicht mit der GegenĂźberstellung von traditioneller und neuer Logik der Emanzipation fassen. In diesem Sinne ist auch zu fragen: Warum wird gerade auf Freire Bezug genommen, um die Differenz zu Rancières Emanzipationsdenken heraus zu arbeiten? Und: Wie wird Freires Ansatz als emanzipatorischer Ansatz von den Autoren dargelegt? Zweitens: Dass sich das Buch in der Beschreibung des Einsatzes von Rancière durchgängig der Semantik des Neuen, Anderen, Anregenden etc. bedient, ist vor allem dort hinderlich bzw. befremdlich, wo es bereits mannigfache DiskussionsbezĂźge zum Besprochenen gibt. Beispielsweise liefert Foucault mit der âDesubjektivierungâ eine ähnliche Kategorie der Reflexion der Differenz von Subjekt und Macht. Oder: Wieso werden nicht Theorien der Anerkennung berĂźcksichtigt, welche die MachtfĂśrmigkeit dieses Prozesses herausstellen? Die andere Seite dieses Kritikpunktes ist, dass die Kritik an Autoren wie Honneth und Bourdieu nicht hinreichend durch eine LektĂźre dieser Autoren gestĂźtzt wird, was gemessen an der Bedeutung dieser Autoren (zumindest fĂźr die deutschsprachige Pädagogik und Erziehungswissenschaft) erforderlich wäre.
Bingham und Biesta sind sich der Reichweite ihrer Ăberlegungen durchaus bewusst. Dass sie am Ende den eigenen theoretischen Einsatz reflexiv ausweisen und die Leser auffordern zu sprechen, befĂśrdert das Interesse, eben dieses zu tun.
EWR 10 (2011), Nr. 3 (Mai/Juni)
Jacques Rancière: Education, Truth, Emancipation
With a New Essay by Jacques Rancière
London: Continuum 2010
(170 S.; ISBN 978-1-4411-9095-6; 29,99 EUR)
Christiane Thompson (Halle / Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Bingham, Charles / Biesta, Gert: Jacques Rancière: Education, Truth, Emancipation, With a New Essay by Jacques Rancière. London: Continuum 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978144119095.html
Christiane Thompson: Rezension von: Bingham, Charles / Biesta, Gert: Jacques Rancière: Education, Truth, Emancipation, With a New Essay by Jacques Rancière. London: Continuum 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978144119095.html