David Phillips, Professor Emeritus für Comparative Education am Department of Education der University of Oxford und Fellow of St. Edmunds Hall ebendort, legt mit diesem Buch eine Summe der Arbeiten zu seinem Forschungsschwerpunkt vor: die wechselvolle Geschichte des britischen Interesses an dem Bildungssystem und der Bildungspolitik in Deutschland während der letzten zwei Jahrhunderte. Das Literaturverzeichnis dokumentiert die lange Liste seiner Beiträge zu diesem Themenkomplex; einige frühere Aufsätze waren ausdrücklich als Prolegomena zu diesem Buch angelegt.
Die Formulierungen des Titels präzisieren das Thema: Es geht um Deutschland als example, d.h. nicht als Vorbild, sondern als ausländischer Fall, der für die britischen Diskussionen in verschiedenen historischen Epochen aus unterschiedlichen Gründen als relevant eingeschätzt wurde. Und es geht nicht um den gegenseitigen Austausch britischer und deutscher Philosophen und Erziehungswissenschaftler über Theorien und Programme der Erziehung, sondern um „Educational Provision in Germany“, also um die institutionalisierten Bildungsangebote.
Die Anlage und Gliederung des Buches ergeben sich aus einem zentralen Forschungsbefund aller Experten, die in den letzten Jahrzehnten zur Wissenschaftsgeschichte der Vergleichenden Erziehungswissenschaft gearbeitet haben und der auch in diesem Buch bestätigt wird, nämlich dass es schon seit Ende des 18. Jahrhunderts (und nicht erst neuerdings!) zur – wie selbstverständlichen – politischen Kultur aller europäischen Länder wurde, im Kontext der Vorbereitung und Diskussion nationaler Reformgesetze die Strukturen und Reformanstrebungen anderer als relevant eingeschätzter Staaten in Erfahrung zu bringen, dazu Expertisen in Auftrag zu geben und sie als Argumente in den nationalen Reformdiskurs einzubringen. Das galt gerade auch für Schul- und Hochschulgesetze. Vor diesem Hintergrund ist es gut begründet, dass – nach einem knappen Einführungskapitel zu den „historischen und theoretischen Perspektiven“ des Buches (1.) – die sechs umfangreichen darstellenden Kapitel weitgehend den großen Reformphasen der englischen Schulgeschichte folgen: Phillips beginnt mit einer Frühphase, d.h. den Jahrzehnten Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, in der englische (wie auch andere) Intellektuelle und Politiker in ihren z.T. berühmten Reiseberichten die kulturelle Dynamik sowie die programmatischen und gesetzlichen Reforminitiativen dieser Jahrzehnte in den deutschen Ländern schilderten (2. The Beginnings of British Interest in Education in Germany). Ein Schlüsselkapitel des Buches ist den Jahrzehnten zwischen 1833 und 1870 gewidmet, in denen kontroverse politische Debatten darüber ausgetragen wurden, ob auch in England, wie in den deutschen Staaten, der Staat sich bei der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht engagieren oder dies privaten Trägern und Initiativen überlassen sollte (3. Establishing State Involvement in Education: The German Example in England). Hier und in dem nächsten Kapitel (4.) stehen die Diskussionen über die berühmten Royal Commissions und ihre umfangreichen Berichte im Zentrum der Darstellung. Mit den nachfolgenden Schulgesetzen wurden in den Jahrzehnten vom Ende des 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg die Grundlagen für ein von den lokalen Behörden sicherzustellendes Pflichtschulangebot gelegt sowie Eckpunkte für die Struktur und staatliche Förderung eines Sekundarschulwesens und damit die Umrisse eines nationalen Schulsystems abgesteckt (4. Towards a National System of Education in England). Während in den anderen Kapiteln fast ausschließlich die Schulpolitik Gegenstand der Dokumentation und Darstellung ist, widmet David Phillips der Hochschulpolitik im 5. Kapitel einen Exkurs, der aspekthaft den ganzen langen historischen Zeitraum behandelt (5. Excursus: Aspects of the German University). Die Kapitel zu den Reformdebatten und -initiativen der Zwischenkriegszeit (6. Developments in England and Germany 1918 – 1939) und der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg (7. From the Second World War to Post War Reconstruction, Radical Reform and Beyond in England: Lessons from Germany Since 1939) haben nicht mehr die thematische Dichte und Materialfülle der Kapitel über das 19. Jahrhundert.
Das Buch von David Phillips zeigt eindrücklich, wie schwer es ist, ein von nationalen Reformdiskursen ausgehendes Interesse an den Strukturen und Initiativen auch nur eines anderen Landes über einen längeren historischen Zeitraum zu verfolgen und dafür eine angemessene Darstellungsform zu finden. In jedem der Kapitel wird aspekthaft der Reformkontext in England, aber auch in den deutschen Staaten (meistens Preußen und die Bundesrepublik) skizziert. Das geht nur sehr selektiv, notwendigerweise kurz und damit problematisch verkürzend. Für den englischen Leser müssen deshalb oft die deutschen Zusammenhänge unverständlich bleiben, ebenso für den deutschen Leser die englischen Kontexte, z.B. woraus der breite Widerstand in der englischen Gesellschaft gegen ein staatliches Engagement in der Schulpolitik resultiert, welche Gruppen in England aus welchen Gründen dafür und dagegen argumentierten. Breiten Raum nimmt dagegen in allen Kapiteln die ausführliche Dokumentation von Textstellen mit Urteilen und Einschätzungen englischer Autoren über die deutschen Verhältnisse ein. In allen historischen Kapiteln besteht die Hälfte der Seiten aus langen wörtlichen Zitaten (allerdings sehr oft schönen Zitaten, die der historisch interessierte Leser mit Genuss zur Kenntnis nimmt!). Dagegen sind die interpretierenden Passagen leider durchgängig sehr kurz. Die knappe Rechtfertigung dieses „methodischen“ Vorgehens in der Einleitung (3f) und das daraus resultierende Übergewicht der Dokumentation gegenüber der Interpretation wird nicht jeden überzeugen.
Was ist der systematische Ertrag dieses Buches für die grundlegenden Fragen zum educational borrowing und die Wissenschaftsgeschichte der Vergleichenden Erziehungswissenschaft? Im Schlusskapitel (8. Evaluating the German Example) wiederholt David Phillips noch einmal wichtige Ergebnisse aus den einzelnen Kapiteln. Die Übernahme (echtes borrowing) von deutschen Strukturen findet im englisch-deutschen Fall nicht statt; aber Phillips konstatiert resümierend ein konstantes englisches Interesse an Deutschland und einen „Einfluss“ der Beschäftigung mit dem deutschen Beispiel auf die englischen Diskussionen. In dem Schlusskapitel wiederholt er noch einmal die vorsichtigen und abwägenden Einschätzungen von Matthew Arnold (… the foreign example as informing discussion in England …) und Michael Sandler (… a proper study of education in other countries will result in better fitness to unterstand the ‚home’ system ...) zum Stellenwert des internationalen Vergleichs in nationalen Schulreformprozessen. Diese Zurückhaltung des Autors bei der „Evaluation“ seiner historischen Dokumentation und Analyse ist zu bedauern, denn aus der umfassenden Dokumentation und knappen Analyse von akademischen und politischen Beiträgen zu dem Thema des Buchs hätten bei einer etwas anderen Akzentsetzung weiter gehende Einsichten für die Vergleichende Erziehungswissenschaft gewonnen werden können.
Eine Andeutung muss in diesem Kontext genügen: Die (für historisch nicht so interessierte) Leserinnen und Leser vielleicht spannendste Passage des Buches behandelt das englische Interesse an Deutschland im Vorfeld der Diskussionen über die sogenannte Baker-Reform Ende der 1980er Jahre und die Einführung eines National Curriculum (154ff). Da man Deutschland seit dem 19. Jahrhundert als ein Land kannte, in dem einheitliche Curricula in den verschiedenen Ländern galten, wurden dazu Expertisen eingeholt und Deutschland auch von dem Minister als Argument für ein stärker standardisiertes Schulsystem in die Debatten eingebracht. Sowohl Kenneth Baker als auch Margaret Thatcher dachten allerdings, dass die Standards von einigen erfahrenen Lehrkräften auf wenigen Seiten festgehalten werden könnten, hatten keine Vorstellung davon, was es bedeutet, wenn die Umsetzung einer Schulreform mit einer solchen Stoßrichtung in die Hände von englischen Experten der Formulierung, Testung und Evaluation von Schülerleistungen gerät, die selbst in ihrer Arbeit auf der Höhe internationaler wissenschaftlicher Standards sein wollten (und mussten). Die englische Schulreform wurde zum internationalen Vorbild einer neuartigen Standardisierung im Bildungswesen und in diesem Prozess wurde schließlich Deutschland vom zunächst vorbildhaften example zum Nachahmer einer englischen Schulreform, die von ihren Initiatoren gar nicht so geplant war. Dieser Fall demonstriert, dass der Zusammenhang von nationalen Schulreformprozessen und dem Interesse an Strukturen im Ausland, wenn er an historischen Beispielen ausführlicher und differenzierter analysiert wird, eine komplexe Dialektik der gegenseitigen Beeinflussung zu erkennen gibt. Das Buch von David Phillips bietet eine Fülle von Zitaten und Argumenten des englisch-deutschen Falls für die Arbeit der Vergleichenden Erziehungswissenschaft an einem differenzierteren Modell der Dynamik und der Widersprüche des internationalen Kulturtransfers und der Kulturtransformation.
EWR 12 (2013), Nr. 4 (Juli/August)
The German Example
English Interest in Educational Provision in Germany Since 1800
London / New York: Continuum 2011
(230 S.; ISBN 978-1-44114-130-9; 70,00 EUR)
Bernd Zymek (MĂĽnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Bernd Zymek: Rezension von: Phillips, David: The German Example, English Interest in Educational Provision in Germany Since 1800. London / New York: Continuum 2011. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978144114130.html
Bernd Zymek: Rezension von: Phillips, David: The German Example, English Interest in Educational Provision in Germany Since 1800. London / New York: Continuum 2011. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978144114130.html