EWR 6 (2007), Nr. 4 (Juli/August 2007)

S. Maxwell Hines (Hrsg.)
Multicultural Science Education
Theory, Practice, and Promise (Second Printing)
(Counterpoits, Studies in the Postmodern Theory of Education, Bd. 120)
New York u.a.: Lang 2007
(217 S.; ISBN 978-0-8204-4540-3; 33,70 EUR)
Multicultural Science Education “Science educators value the contributions and uniqueness of children from all backgrounds. Members of the National Science Teachers Association (NSTA) are aware that a country’s welfare is ultimately dependent upon the productivity of all of its people. Many institutions and organizations in our global, multicultural society play major roles in establishing environments in which unity in diversity flourishes. Members of the NSTA believe science literacy must be a major goal of science education institutions and agencies. We believe that ALL children can learn and be successful in science and our nation must cultivate and harvest the minds of all children and provide the resources to do so.“

Mit dieser offiziellen Positionsbekundung der amerikanischen National Science Teachers Association von 2000 sowie mit dem Verweis auf den demographischen Zuwachs an SchĂŒlerInnen mit multikulturellem Hintergrund bei gleichzeitigem statistischen Befund, dass es eine große DisparitĂ€t in den SchĂŒlerleistungen gibt, die sich nach Hautfarbe, Geschlecht, sozio-ökonomischer Herkunft, aber auch Sprachkompetenz und besonderem Förderbedarf unterscheiden lassen (IX), ist der Kontext des vorliegenden Sammelbandes umrissen.

Vor diesem Hintergrund weist S. Maxwell Hines darauf hin, dass die Zahl der LehrkrĂ€fte naturwissenschaftlicher FĂ€cher aus den oben genannten Gruppierungen im RĂŒckgang begriffen ist, die meisten Lehrpersonen seien mĂ€nnlich und um die vierzig Jahre alt. Noch problematischer sei jedoch, dass viele von ihnen gewisse Vor-Urteile ĂŒber gruppenspezifische Begabungsverteilung fĂŒr diese FĂ€cher hegen wĂŒrden (ebd.). Aus der politisch-normativen Forderung, durch ‚multicultural science education‘ (MSE) Chancengleichheit in der Schule herzustellen, entstand eine Forschungsrichtung, die sich mit komplexen pĂ€dagogisch-didaktischen Fragen und mit den ihnen zugrunde liegenden epistemologischen Fragestellungen beschĂ€ftigt.
In Deutschland zĂ€hlt diese Forschungsrichtung – MSE – bislang nicht zum interkulturellen Mainstream. Sie setzt auf die BerĂŒcksichtigung der gesamten Bandbreite der ethnischen und soziokulturellen Perspektiven der SchĂŒlerschaft, um den SchĂŒlerInnen damit das Lernen naturwissenschaftlicher FĂ€cher wie Physik, Chemie oder Biologie zu ermöglichen.

ErklÀrtes Ziel des herausgegebenen Bandes ist eine differenzierte Betrachtungsweise der MSE zu prÀsentieren, die bisherige Forschungsliteratur zu synthetisieren und die allgemeine Diskussion zu systematisieren.
Das Buch umfasst in 217 Seiten zehn Kapitel, die sich mit grundlegenden theoretischen Fragen, mit der Kompetenz der angehenden Lehrpersonen hinsichtlich multikultureller Unterschiede und mit den Implikationen und Effekten dieses Programms beschÀftigen.

Ausgehend vom Multikulturalismus als gesellschaftlicher Beschreibung der USA fordern die Autoren des ersten Kapitels – Multicultural Science Education: Moving beyond Traditions (Carter, Larke, Singleton-Taylor und Santos) – eine demographische Ausgewogenheit in der Zusammensetzung der Wissenschaftsgemeinschaft. DarĂŒber hinaus weisen sie u.a. auf das Problem der UnterreprĂ€sentanz von SchĂŒlerInnen schwarzer Hautfarbe in allen naturwissenschaftlichen und technologischen akademischen Bereichen hin (4f.) und fĂŒhren diesen Missstand auf ungeeignete Lehrmethoden bereits seit der Grundschule zurĂŒck, welche sich an – zumeist an Ă€tiologisch begrĂŒndeten – Defiziten und nicht an die vorhandenen unterschiedlichen kulturellen Kapitalien im Klassenzimmer orientieren (8). Die Orientierung am ‚deficit model‘, d.h. beispielsweise an postulierten unterschiedlichen Begabungsgraden fĂŒr wissenschaftliche FĂ€cher, impliziert eine niedrigere Erwartungshaltung der LehrerInnen in Bezug auf bestimmte SchĂŒlerpopulationen, die mit dem Terminus „culturally diverse learner“ („kulturell vielfĂ€ltige/unterschiedliche SchĂŒlerInnen, 5) belegt werden. Diese Defizitorientierung sollte daher zugunsten „models of resilience that build on the strenghts of students and focus on high expectations for all learners“ aufgegeben werden (9), wobei die Unterschiede zur deutschsprachigen Resilienzforschung beachtet werden sollten. Der Beitrag bietet darĂŒber hinaus einen Überblick ĂŒber die verschiedenen AnsĂ€tze der MSE (10-15) und schließt mit einem entschiedenen PlĂ€doyer fĂŒr diesen Zugang als Mittel der Herstellung von Chancengleichheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit.

Alberto J. Rodriguez – ein Professor aus New Mexico, der sich mit den Schnittmengen von Multikulturalismus und Sozialkonstruktivismus in Lehr-Lern-Prozessen beschĂ€ftigt – diskutiert in Kapitel 2 den ‚Unsichtbarkeitsdiskurs‘ des (Bildungs-) Standards-Programm (22f.) in seinem Widerspruch, einerseits das Lernen naturwissenschaftlicher FĂ€cher ‚fĂŒr alle‘ ermöglichen zu wollen und andererseits die sich aus ethnischen, geschlechtsspezifischen oder sozioökonomischen Unterschieden ergebenden pĂ€dagogischen Herausforderungen auszublenden. Die subjektiven Theorien der etablierten LehrkrĂ€fte ĂŒber „good teaching“ und ĂŒber „what works“ und die Strategien der angehenden LehrerInnen, ihre Praxiserfahrung zu â€žĂŒberleben“, (26) kontextualisieren ihre Resistenz gegen ein multikulturell orientiertes Arrangement:

„[
] teachers engage in strategic compliance when they feel they must follow given directives and expectations despite their strong reservations on the usefulness or benefits of such directives.” (27) Anhand eines empirischen Beispiels (29ff.) zeigt Rodriguez darĂŒber hinaus die Diskrepanz zwischen den offiziellen Anforderungen – Standards, akademische Lehrerbildung – und der Praxis in den Schulen besonders deutlich und weist auf eine der grĂ¶ĂŸten Herausforderungen fĂŒr effektive MSE im Besonderen, aber auch fĂŒr ein multikulturelles Arrangement im Allgemeinen hin. Abschließend fordert Rodriguez, dass die Standards gestĂ€rkt werden, indem weitere Argumente und Nachweise sichtbar gemacht werden und zur UnterstĂŒtzung von Gleichheit und Exzellenz als Sache der Allgemeinheit (32) genutzt werden. „Exzellenz in der Bildung/Erziehung kann erst gemessen werden, wenn Gleichheit etabliert ist“ (ebd.).

Der breitere soziale und politische Kontext von wissenschaftlicher und technologischer Entwicklung wird im Kapitel 3 thematisiert. FĂŒr Ahlquist und Kailin geht die MSE nicht weit genug, indem sie die strukturelle Basis des globalen Corporate Kapitalismus, in dem die Wissenschaft weitestgehend eingebettet ist, nicht hinterfrage. Die Vorstellung von Wissenschaft als wertneutral halte den „Mythos der wissenschaftlichen Überlegenheit des Westens“ (38) aufrecht, und unterschlage systematisch die BeitrĂ€ge anderer Gruppen, so die Autorinnen. „Critical science education“ hat ferner als Aufgabe, die Sicht der SchĂŒlerInnen fĂŒr die gesellschaftliche Wirkung von Wissenschaft zu schĂ€rfen (41), z.B. soziale und ökologische Folgen. Die Diskussion ĂŒber Wissenschaft und Fortschritt darf die Frage der sozialen Verantwortung nicht ausklammern (43). Nebst der Bereitstellung von theoretischem Wissen sollte „science education“ die FĂ€higkeiten entwickeln helfen, mit denen sozioökonomische Implikationen der Rolle von Wissenschaft im Kapitalismus abgewogen und ermessen werden können (43). Aus dieser Perspektive heraus diskutieren sie Fragen der Forschungsfinanzierung, Probleme wie ‘brain drain’ sowie die Rolle der LehrerInnen in diesem Kontext. Nicht nur multiple Perspektiven, sondern auch wissenschaftsbasierte Lösungen (50) fĂŒr Weltprobleme soll die Leistung der MSE aus kritischer Sicht sein.

Mary M. Atwater, einer der prominentesten Figuren der MSE-Forschung, von der University of Georgia und Denise Crockett von der Furman University in North Carolina diskutieren in ihrem Beitrag (Kapitel 4) die entlang der Kategorien Kultur, Ethnie, Klasse und Gender sozial konstruierten unterschiedlichen Weltbilder (57ff.) und ihre Implikationen fĂŒr den Unterricht wissenschaftlicher FĂ€cher. Ihr Beitrag prĂ€sentiert die Ergebnisse einer Untersuchung ĂŒber die „worldview“ und „self-identity“ von Studierenden im Fach ‚science education‘. Sie stellen fest, dass kulturelle Identifikation als ein wirkungsvoller Filter im Leben der Beteiligten und in deren „educational world views“ (78) fungiert. Die Implikationen von „cultural diversity“ fĂŒr die Lehrerbildung werden im Anschluss diskutiert.

Die folgenden zwei Kapitel fokussieren bestimmte ethnische Gruppen. Kapitel fĂŒnf fokussiert die Gruppe der afroamerikanischen Studierenden und fragt, wie ihr Interesse fĂŒr naturwissenschaftliche FĂ€cher durch die Anwendung inklusiver Methoden erhöht werden kann. Gholston Key erlĂ€utert die unterschiedlichen Dimensionen einer multikulturellen Erziehung und entwickelt daraus ein „kulturinklusives Modell“ (89f.), welches dann in einer empirischen Untersuchung getestet wurde. Die Studie zeigt, dass die untersuchten SchĂŒlerInnen mit afro-amerikanischem Hintergrund positiv auf die naturwissenschaftlichen Themen des kulturinklusiven Modells reagierten und dass sich ein statistisch signifikanter Interessenszuwachs nachweisen lĂ€sst, wenn kulturelle Elemente mitberĂŒcksichtigt werden (99). Rowland und Adkins (Kapitel 6) diskutieren grundlegende Fragen der MSE vor dem Hintergrund der spezifischen Herausforderungen der unterschiedlichen Gruppen der Native Americans. Eine interessante kritische Diskussion der MSE im Allgemeinen und der Native American Science Education (NASE) im Besonderen schließt den Beitrag ab: „The future of MSE and NASE may hinge on providing both clear rationales for their use and evidence of their effectiveness at meeting their stated goals.“ (117)

Kapitel sieben berichtet ĂŒber die Erfahrungen eines langjĂ€hrigen Projekts im Großraum Detroit und wie die Leistung von SchĂŒlerInnen, die sich zum Großteil aus ethnischen Minderheiten und Frauen rekrutieren, in benachteiligten innerstĂ€dtischen Gebieten erhöht sowie ihre Chancen verbessert werden können.

Die Fallstricke der MSE werden im Kapitel 8 von Loving und Ortiz de Montellano am Beispiel der LehrbĂŒcher und anderer Lernmaterialien des Schulbezirks Detroit anhand von QualitĂ€tskriterien erörtert. Sie schlagen eine Reihe von Kriterien vor, mit deren Hilfe LehrerInnen die „pitfalls of blatantly bad science“ (151) umgehen können: „Kulturell relevante naturwissenschaftliche Materialien mĂŒssen nicht nur der kulturellen Einzigartigkeit, Gleichheit und Gerechtigkeit im Blick haben, sondern sich an einer Messlatte orientieren, die allen Beteiligten die Sicherheit gibt, dass das Dargestellte die wissenschaftlichen GĂŒtekriterien erfĂŒllt“ (163, Übersetzung MPA).
Aus der Perspektive der Postkolonialen Theorie (dazu ausfĂŒhrlich 167f.) berichtet Ninnes (Kapitel 9) ĂŒber die Lehrmaterialien fĂŒr MSE in Australien und Kanada im Hinblick auf „die Diskurse und ReprĂ€sentation von Kultur und kultureller Differenz, die unterschiedlichen WissensbestĂ€nde und -formen und IdentitĂ€ten der indigenen Bevölkerung“ (181).

Das Schlusskapitel des Sammelbandes thematisiert die ontologischen und epistemologischen Grundlagen des theoretischen Rahmens der multicultural science education. Dort erlĂ€utert Hadi-Tabassum die Forschungsagenda der MSE im Anschluss an Deborah Pomeroy (193) und diskutiert eine der wichtigsten Fragen fĂŒr die Praxis: die Aneignung von Sachwissen und die Verbesserung der sprachlichen Kompetenz der SchĂŒlerInnen (195ff.).

Der Band ist trotz der lĂ€nderspezifisch evidenten Markierungen auch fĂŒr die hiesige Debatte von systematischem Interesse, da er einerseits grundsĂ€tzliche Fragen von Integrationshemmnissen und kultureller Vielfalt anspricht, andererseits – und vor allem – aber einen Beitrag zu konkreten didaktischen Überlegungen zum Umgang mit DiversitĂ€t und Differenz leistet.
Marcelo Parreira do Amaral (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marcelo Parreira do Amaral: Rezension von: Hines, S. Maxwell (Hg.): Multicultural Science Education, Theory, Practice, and Promise (Second Printing) (Counterpoits, Studies in the Postmodern Theory of Education, Bd. 120). New York u.a.: Lang 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 4 (Veröffentlicht am 26.07.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978082044540.html