
Mit dieser offiziellen Positionsbekundung der amerikanischen National Science Teachers Association von 2000 sowie mit dem Verweis auf den demographischen Zuwachs an SchülerInnen mit multikulturellem Hintergrund bei gleichzeitigem statistischen Befund, dass es eine große Disparität in den Schülerleistungen gibt, die sich nach Hautfarbe, Geschlecht, sozio-ökonomischer Herkunft, aber auch Sprachkompetenz und besonderem Förderbedarf unterscheiden lassen (IX), ist der Kontext des vorliegenden Sammelbandes umrissen.
Vor diesem Hintergrund weist S. Maxwell Hines darauf hin, dass die Zahl der Lehrkräfte naturwissenschaftlicher Fächer aus den oben genannten Gruppierungen im Rückgang begriffen ist, die meisten Lehrpersonen seien männlich und um die vierzig Jahre alt. Noch problematischer sei jedoch, dass viele von ihnen gewisse Vor-Urteile über gruppenspezifische Begabungsverteilung für diese Fächer hegen würden (ebd.). Aus der politisch-normativen Forderung, durch ‚multicultural science education‘ (MSE) Chancengleichheit in der Schule herzustellen, entstand eine Forschungsrichtung, die sich mit komplexen pädagogisch-didaktischen Fragen und mit den ihnen zugrunde liegenden epistemologischen Fragestellungen beschäftigt.
In Deutschland zählt diese Forschungsrichtung – MSE – bislang nicht zum interkulturellen Mainstream. Sie setzt auf die Berücksichtigung der gesamten Bandbreite der ethnischen und soziokulturellen Perspektiven der Schülerschaft, um den SchülerInnen damit das Lernen naturwissenschaftlicher Fächer wie Physik, Chemie oder Biologie zu ermöglichen.
Erklärtes Ziel des herausgegebenen Bandes ist eine differenzierte Betrachtungsweise der MSE zu präsentieren, die bisherige Forschungsliteratur zu synthetisieren und die allgemeine Diskussion zu systematisieren.
Das Buch umfasst in 217 Seiten zehn Kapitel, die sich mit grundlegenden theoretischen Fragen, mit der Kompetenz der angehenden Lehrpersonen hinsichtlich multikultureller Unterschiede und mit den Implikationen und Effekten dieses Programms beschäftigen.
Ausgehend vom Multikulturalismus als gesellschaftlicher Beschreibung der USA fordern die Autoren des ersten Kapitels – Multicultural Science Education: Moving beyond Traditions (Carter, Larke, Singleton-Taylor und Santos) – eine demographische Ausgewogenheit in der Zusammensetzung der Wissenschaftsgemeinschaft. Darüber hinaus weisen sie u.a. auf das Problem der Unterrepräsentanz von SchülerInnen schwarzer Hautfarbe in allen naturwissenschaftlichen und technologischen akademischen Bereichen hin (4f.) und führen diesen Missstand auf ungeeignete Lehrmethoden bereits seit der Grundschule zurück, welche sich an – zumeist an ätiologisch begründeten – Defiziten und nicht an die vorhandenen unterschiedlichen kulturellen Kapitalien im Klassenzimmer orientieren (8). Die Orientierung am ‚deficit model‘, d.h. beispielsweise an postulierten unterschiedlichen Begabungsgraden für wissenschaftliche Fächer, impliziert eine niedrigere Erwartungshaltung der LehrerInnen in Bezug auf bestimmte Schülerpopulationen, die mit dem Terminus „culturally diverse learner“ („kulturell vielfältige/unterschiedliche SchülerInnen, 5) belegt werden. Diese Defizitorientierung sollte daher zugunsten „models of resilience that build on the strenghts of students and focus on high expectations for all learners“ aufgegeben werden (9), wobei die Unterschiede zur deutschsprachigen Resilienzforschung beachtet werden sollten. Der Beitrag bietet darüber hinaus einen Überblick über die verschiedenen Ansätze der MSE (10-15) und schließt mit einem entschiedenen Plädoyer für diesen Zugang als Mittel der Herstellung von Chancengleichheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit.
Alberto J. Rodriguez – ein Professor aus New Mexico, der sich mit den Schnittmengen von Multikulturalismus und Sozialkonstruktivismus in Lehr-Lern-Prozessen beschäftigt – diskutiert in Kapitel 2 den ‚Unsichtbarkeitsdiskurs‘ des (Bildungs-) Standards-Programm (22f.) in seinem Widerspruch, einerseits das Lernen naturwissenschaftlicher Fächer ‚für alle‘ ermöglichen zu wollen und andererseits die sich aus ethnischen, geschlechtsspezifischen oder sozioökonomischen Unterschieden ergebenden pädagogischen Herausforderungen auszublenden. Die subjektiven Theorien der etablierten Lehrkräfte über „good teaching“ und über „what works“ und die Strategien der angehenden LehrerInnen, ihre Praxiserfahrung zu „überleben“, (26) kontextualisieren ihre Resistenz gegen ein multikulturell orientiertes Arrangement:
„[…] teachers engage in strategic compliance when they feel they must follow given directives and expectations despite their strong reservations on the usefulness or benefits of such directives.” (27) Anhand eines empirischen Beispiels (29ff.) zeigt Rodriguez darüber hinaus die Diskrepanz zwischen den offiziellen Anforderungen – Standards, akademische Lehrerbildung – und der Praxis in den Schulen besonders deutlich und weist auf eine der größten Herausforderungen für effektive MSE im Besonderen, aber auch für ein multikulturelles Arrangement im Allgemeinen hin. Abschließend fordert Rodriguez, dass die Standards gestärkt werden, indem weitere Argumente und Nachweise sichtbar gemacht werden und zur Unterstützung von Gleichheit und Exzellenz als Sache der Allgemeinheit (32) genutzt werden. „Exzellenz in der Bildung/Erziehung kann erst gemessen werden, wenn Gleichheit etabliert ist“ (ebd.).
Der breitere soziale und politische Kontext von wissenschaftlicher und technologischer Entwicklung wird im Kapitel 3 thematisiert. Für Ahlquist und Kailin geht die MSE nicht weit genug, indem sie die strukturelle Basis des globalen Corporate Kapitalismus, in dem die Wissenschaft weitestgehend eingebettet ist, nicht hinterfrage. Die Vorstellung von Wissenschaft als wertneutral halte den „Mythos der wissenschaftlichen Überlegenheit des Westens“ (38) aufrecht, und unterschlage systematisch die Beiträge anderer Gruppen, so die Autorinnen. „Critical science education“ hat ferner als Aufgabe, die Sicht der SchülerInnen für die gesellschaftliche Wirkung von Wissenschaft zu schärfen (41), z.B. soziale und ökologische Folgen. Die Diskussion über Wissenschaft und Fortschritt darf die Frage der sozialen Verantwortung nicht ausklammern (43). Nebst der Bereitstellung von theoretischem Wissen sollte „science education“ die Fähigkeiten entwickeln helfen, mit denen sozioökonomische Implikationen der Rolle von Wissenschaft im Kapitalismus abgewogen und ermessen werden können (43). Aus dieser Perspektive heraus diskutieren sie Fragen der Forschungsfinanzierung, Probleme wie ‘brain drain’ sowie die Rolle der LehrerInnen in diesem Kontext. Nicht nur multiple Perspektiven, sondern auch wissenschaftsbasierte Lösungen (50) für Weltprobleme soll die Leistung der MSE aus kritischer Sicht sein.
Mary M. Atwater, einer der prominentesten Figuren der MSE-Forschung, von der University of Georgia und Denise Crockett von der Furman University in North Carolina diskutieren in ihrem Beitrag (Kapitel 4) die entlang der Kategorien Kultur, Ethnie, Klasse und Gender sozial konstruierten unterschiedlichen Weltbilder (57ff.) und ihre Implikationen für den Unterricht wissenschaftlicher Fächer. Ihr Beitrag präsentiert die Ergebnisse einer Untersuchung über die „worldview“ und „self-identity“ von Studierenden im Fach ‚science education‘. Sie stellen fest, dass kulturelle Identifikation als ein wirkungsvoller Filter im Leben der Beteiligten und in deren „educational world views“ (78) fungiert. Die Implikationen von „cultural diversity“ für die Lehrerbildung werden im Anschluss diskutiert.
Die folgenden zwei Kapitel fokussieren bestimmte ethnische Gruppen. Kapitel fünf fokussiert die Gruppe der afroamerikanischen Studierenden und fragt, wie ihr Interesse für naturwissenschaftliche Fächer durch die Anwendung inklusiver Methoden erhöht werden kann. Gholston Key erläutert die unterschiedlichen Dimensionen einer multikulturellen Erziehung und entwickelt daraus ein „kulturinklusives Modell“ (89f.), welches dann in einer empirischen Untersuchung getestet wurde. Die Studie zeigt, dass die untersuchten SchülerInnen mit afro-amerikanischem Hintergrund positiv auf die naturwissenschaftlichen Themen des kulturinklusiven Modells reagierten und dass sich ein statistisch signifikanter Interessenszuwachs nachweisen lässt, wenn kulturelle Elemente mitberücksichtigt werden (99). Rowland und Adkins (Kapitel 6) diskutieren grundlegende Fragen der MSE vor dem Hintergrund der spezifischen Herausforderungen der unterschiedlichen Gruppen der Native Americans. Eine interessante kritische Diskussion der MSE im Allgemeinen und der Native American Science Education (NASE) im Besonderen schließt den Beitrag ab: „The future of MSE and NASE may hinge on providing both clear rationales for their use and evidence of their effectiveness at meeting their stated goals.“ (117)
Kapitel sieben berichtet über die Erfahrungen eines langjährigen Projekts im Großraum Detroit und wie die Leistung von SchülerInnen, die sich zum Großteil aus ethnischen Minderheiten und Frauen rekrutieren, in benachteiligten innerstädtischen Gebieten erhöht sowie ihre Chancen verbessert werden können.
Die Fallstricke der MSE werden im Kapitel 8 von Loving und Ortiz de Montellano am Beispiel der Lehrbücher und anderer Lernmaterialien des Schulbezirks Detroit anhand von Qualitätskriterien erörtert. Sie schlagen eine Reihe von Kriterien vor, mit deren Hilfe LehrerInnen die „pitfalls of blatantly bad science“ (151) umgehen können: „Kulturell relevante naturwissenschaftliche Materialien müssen nicht nur der kulturellen Einzigartigkeit, Gleichheit und Gerechtigkeit im Blick haben, sondern sich an einer Messlatte orientieren, die allen Beteiligten die Sicherheit gibt, dass das Dargestellte die wissenschaftlichen Gütekriterien erfüllt“ (163, Übersetzung MPA).
Aus der Perspektive der Postkolonialen Theorie (dazu ausführlich 167f.) berichtet Ninnes (Kapitel 9) über die Lehrmaterialien für MSE in Australien und Kanada im Hinblick auf „die Diskurse und Repräsentation von Kultur und kultureller Differenz, die unterschiedlichen Wissensbestände und -formen und Identitäten der indigenen Bevölkerung“ (181).
Das Schlusskapitel des Sammelbandes thematisiert die ontologischen und epistemologischen Grundlagen des theoretischen Rahmens der multicultural science education. Dort erläutert Hadi-Tabassum die Forschungsagenda der MSE im Anschluss an Deborah Pomeroy (193) und diskutiert eine der wichtigsten Fragen für die Praxis: die Aneignung von Sachwissen und die Verbesserung der sprachlichen Kompetenz der SchülerInnen (195ff.).
Der Band ist trotz der länderspezifisch evidenten Markierungen auch für die hiesige Debatte von systematischem Interesse, da er einerseits grundsätzliche Fragen von Integrationshemmnissen und kultureller Vielfalt anspricht, andererseits – und vor allem – aber einen Beitrag zu konkreten didaktischen Überlegungen zum Umgang mit Diversität und Differenz leistet.