In den Sozialwissenschaften sind seit den 1970er Jahren unterschiedliche theoretische Ansätze zu finden, die Institutionen als zentral zum Verständnis gesellschaftlicher Prozesse betrachten. Kennzeichnend für diesen „neuen“ Institutionalismus ist die Kritik von Modellen sozialer und organisationaler Handlung, in denen relativ autonome Akteure mit ‚unbounded rationality’ ihre Präferenzen und Interessen verfolgen (1). Diese Akteure versuchen ihre ‚Gewinne’ zu maximieren, sie tun es allerdings im Rahmen kognitiver Grenzen; ihrer Rationalität sind durch Institutionen Grenzen gesetzt. Zwei ‚Wellen’ des sog. Neoinstitutionalismus können ausgemacht werden. Sie sind in den USA entstanden und wurden wenig später in Europa breit rezipiert: Die erste Welle entstand Ende der 1970er mit Arbeiten aus der Organisationssoziologie und die zweite in den 1990er Jahren mit Arbeiten aus verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, u.a. der Ökonomie, der Organisationstheorie, der Politikwissenschaft, der Soziologie und der Geschichte.
In der Erziehungswissenschaft wurde der Neoinstitutionalismus ab den 1970er Jahren maßgeblich durch die Analyse der Entstehung nationalstaatlicher Massenerziehungssysteme durch die Arbeiten einiger Wissenschaftler um John W. Meyer aus der Stanford University bekannt. Meyer und seine Kollegen sahen in dem Aufkommen eines einheitlichen Musters von staatlich finanzierten Bildungssystemen den Hinweis darauf, dass Bildung eine Institution in der Gesellschaft ist. Dieses Modell hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zuerst in Europa institutionalisiert, um anschließend einen weltweiten Siegeszug anzutreten. Die Entstehung nationalstaatlicher Bildungssysteme wird demnach nicht als Antwort auf funktionale Anforderungen der sich industrialisierenden Gesellschaften für mehr und besser ausgebildete Arbeitskräfte oder als bewährtes Mittel verstanden, soziale Ordnung zu erreichen und sie dauerhaft zu sichern. Dieses „Weltmodell“ für das Schulsystem – mit seinem Fokus auf das Individuum mit Bezug auf Vervollkommnungsfähigkeit und auf Staatsbürgerschaft in Hinblick auf Rechte und Pflichten – wird als Mittel der gesellschaftlichen Mobilisierung angesehen und fungiert dadurch als Schlüsselinstitution in der Legitimation moderner Nationalstaaten. Schulen als institutionalisierte Organisationen sichern ihr Überleben nicht indem sie effizient/effektiv arbeiten, sondern indem sie institutionalisierte Regeln befolgen (205). Arbeiten im neoinstitutionalistischen Ansatz haben nicht nur die Entstehung von Schulsystemen untersucht, sie haben darüber hinaus – und in Hinblick auf institutionellen Wandel – anhand statistischer Modelle deren Diffusionsprozesse analysiert und dabei die bekannte Isomorphie-These aufgestellt; danach findet durch die Diffusion des höchst legitimierten Modells des nationalstaatlichen Schulsystems ein Angleichungsprozess in der organisationalen Struktur statt. Ein weiterer Befund ist die Einsicht, dass Bildungsorganisationen durch lose Kopplung und staatliche und professionelle Kontrolle gekennzeichnet sind.
Der vorliegende Sammelband diskutiert die Analyse von Bildungsinstitutionen und Bildungsorganisationen in Auseinandersetzung mit dem oben beschriebenen neoinstitutionalistischen Ansatz der Stanford-Gruppe – er wird von den Herausgebern als ‚cognitive institutionalism’ bezeichnet und stellt eine Perspektive unter anderen dar. Das 234-seitige Buch besteht aus dreizehn Kapiteln, wobei das erste und die zwei letzten als Rahmung des Bandes fungieren. Die zehn übrigen Beiträge werden in thematische Teile untergliedert. Die Herausgeber argumentieren, dass sich im Kontext jüngerer Entwicklungen die institutionelle Umwelt und das organisationale Feld des Schulsystems maßgeblich verändert haben. Anhand dreier thematischer Bereiche überprüfen und hinterfragen die Kapitel des Bandes die ‚älteren’ Institutionen-Analysen: (1.) ‚Cognition and the Social Construction of Institutions’, (2.) ‚Institutions, States, and Markets’ und (3.) ‚History, Power, and Change’. Zur Veranschaulichung unterschiedlicher Trends/Phänomene werden zahlreiche Tabellen und Figuren benutzt.
Fokussierten die ‚älteren’ Analysen formale und legale Strukturen in deren geschichtlichen Formationen, welche dann als ‚taken-for-granted classifications, scripts, and schemata’ die Basis für Institutionen bildeten, so sehen die ‚neueren’ Arbeiten ‚man-made rules and procedures as the building blocks of institutions’ und betonen die Analyse von ‚how people actively construct meaning within institutionalized settings through language and other symbolic representations’ (6). Aus unterschiedlichen Positionen fokussieren drei Kapitel ‚the role that shared beliefs and cognitions play in institution building’ (ebd.). Ramirez geht den Wechselbeziehungen in der Hochschulbildung zwischen ‚global models and national legacies’ in einem weltweiten Angleichungsprozess einerseits und hinsichtlich fortdauernder Unterschiede andererseits nach (124). Levy benutzt die Literatur zum privaten Hochschulsektor, um die Frage der Konvergenz von organisationalen Formen und Praktiken neu zu stellen, und präsentiert Hinweise auf Diversifizierungstendenzen (154). Schließlich setzt sich Meyer mit dem Mythos der ‚common school’ in der Institutionalisierung des amerikanischen Bildungswesens auseinander. Er führt gegenwärtige Probleme der öffentlichen Schulen in den USA auf den Niedergang/Rückgang ihres konstitutiven Mythos der ‚common school’ zurück (65).
Die Veränderungen des Verhältnisses zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft bilden den Ausgangspunkt für die Überlegungen der zweiten thematischen Gruppe. Die Beiträge von Levy über den privaten Sektor der Hochschulbildung, von Davies, Quirke und Aurin zum Privatschulsektor in Kanada, und schließlich von Bernasconi über die Reform des Hochschulsektors in Chile fragen, ob der entstehende Bildungsmarkt den Grundsatz der strukturellen Isomorphie ad acta legt oder nicht. Die ersten zwei Beiträge stellen fest, dass ‚under certain conditions, markets do indeed appear to produce more diverse forms of education’ (8). Bernasconi zeichnet die Veränderungen im Hochschulsektor aufgrund der Einführung von Marktelementen als neue institutionelle Umwelt (195f.) nach. Die Universitäten in Chile haben die Elemente dieser neuen Umwelt nicht nur formell übernommen, sondern scheinen auch die Praktiken, die mit ‚task-performing organizations’ assoziiert werden, in den Vordergrund ihrer Interessen gestellt zu haben (199). Dies stelle außerdem die Sicht von Schule als lose gekoppelte Organisation in Frage, so die Herausgeber. In ihrem Beitrag gehen Spillane und Burch Fragen in diesem Kontext nach und legen nahe, das Thema ‚lose/strikte Kopplung’ wieder aufzugreifen. Sie postulieren, dass Kopplungsmuster im Schulbereich in Abhängigkeit von Dimension und Unterrichtsfach variieren können (99). Rowan (Kapitel 2) diskutiert den tief greifenden sowie ineffizienten Charakter von Schulreform vor dem Hintergrund der ‚organizational ecology of the school improvement industry' (77) in den USA.
Die Frage von Macht und Konflikt in Prozessen von Institutionalisierung und institutionellem Wandel (3.) wird in den Beiträgen von Bidwell und Meyer behandelt. Bidwell zeigt den politischen Charakter von Institutionalisierungsprozessen anhand zweier Beispiele auf: der Gründung der Universität von Paris (36f.) und der Arbeiten von Phillip Selznick zur Institutionalisierung von Organisationen (38f.). Meyer belegt in seiner historischen Rekonstruktion der Mythenbildung der ‚common school’ in den USA ebenfalls die Rolle von Machtverhältnissen für Institutionalisierungsprozesse. Auch das Kapitel von Baker behandelt die Frage des Wandels; er führt allerdings den institutionellen Wandel auf die Intensivierung von Institutionalisierung selbst zurück (182).
Der Sammelband diskutiert überzeugend und ausgewogen die zentralen Themen des Neoinstitutionalismus: Schule als formale wie institutionalisierte Organisationen, Isomorphie, lose Kopplung und Wandel vor dem Hintergrund der gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungen und ihre Implikationen für Schulsysteme. Die Beiträge führen darüber hinaus in wichtige Erweiterungen des theoretischen Rahmens hinsichtlich der Analyse von Bildungsinstitutionen und -organisationen ein, die durch den Beitrag von Rowan (Kapitel 12) weiter systematisiert werden. Die Platzierung dieser Diskussion am Anfang des Bandes wäre für die Lektüre von Vorteil gewesen.
Das neoinstitutionalistische Paradigma erhält mit diesen ‚Neuerungen’ wichtige Impulse für die Analyse gegenwärtiger Prozesse. Die Beiträge sind sprachlich leicht zugänglich und im Sammelband gut strukturiert. Sie bieten gleichzeitig eine hilfreiche Einführung in die US-amerikanische Diskussion. Der Band setzt jedoch einige Vorkenntnisse voraus – insbesondere die Arbeiten der Stanford-Gruppe, mit denen sie sich auseinandersetzen und messen lassen müssen. Wird die Einführung von Marktelementen in das Schulsystem dem Neoinstitutionalismus die Erklärungskraft nehmen oder ist in der Divergenz nicht auch Konvergenz zu sehen? Handelt es sich hier um institutionellen Wandel oder um organisationale Anpassung? Nur großräumige empirische Untersuchungen wie die von John W. Meyer und seine Stanforder Kollegen werden es zeigen können. Der Sammelband stellt in jedem Fall wichtige und zeitgemäße Fragen.
EWR 6 (2007), Nr. 3 (Mai/Juni 2007)
The New Institutionalism in Education
New York: State University of New York Press 2006
(234 S.; ISBN 978-0-7914-6905-7; 65,00 USD)
Marcelo Parreira do Amaral (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marcelo Parreira do Amaral: Rezension von: Meyer, Heinz-Dieter / Rowan, Brian (Hg.): The New Institutionalism in Education. New York: State University of New York Press 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978079146905.html
Marcelo Parreira do Amaral: Rezension von: Meyer, Heinz-Dieter / Rowan, Brian (Hg.): The New Institutionalism in Education. New York: State University of New York Press 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978079146905.html