Der Titel benennt die beiden Perspektiven dieses kindheitshistorischen Sammelbandes: Mit „fashioning childhood“ wird die Hervorbringung von Kindheit, die Entstehung eines spezifischen Kindheitskonzepts anvisiert. „Kindheit“ wird dabei natürlich nicht als historische Universalie verstanden, sondern als je spezifisch historisch zu untersuchendes kulturelles bzw. soziales Konstrukt, das anhand von Diskursen und Repräsentationen rekonstruiert werden könne. Dass das 18. Jahrhundert sich dafür besonders anbietet, liegt auf der Hand, wurden hier doch bis heute wirksame Zuschreibungen an Kindheit wie z.B. Unschuld als zentrale Eigenschaft oder Spielen als wichtigste Beschäftigung von Kindern formuliert und von Malerei und Literatur in Umlauf gebracht. Im Untertitel „Age and Identity“ wird auf die zweite Perspektive angespielt, die allerdings im Vergleich zu „fashioning“ weniger konsequent verfolgt wird: dass über Alter, also auch über Kindheit, soziale Platzanweisungen erfolgen, wie das 18. Jahrhundert zeige, und deshalb „age“ neben der bereits etablierten Trias von „race, class and gender“ als Kategorie in die historische Analyse von Identität(skonstruktionen) einzubeziehen sei. Theoretisch bewegen sich die Autorinnen und Autoren überwiegend im Rahmen von „cultural studies“ und „new historicism“ bzw. der Diskursanalyse. Das schlägt sich darin nieder, dass die Beiträge zum einen unter „cultural contexts“, zum anderen unter„Literary and Visual Representations“ zusammengebracht werden, also eine Zweiteilung in eine, salopp gesagt, Realgeschichte von Kindheit und in die Thematisierung von Kindheit in Literatur und Malerei vorgenommen wird.
Der erste Teil, „cultural contexts“, fängt mit zwei medizinhistorischen Beiträgen an. Adriana S. Benzaquén kann in ihrer Analyse von Ratgebern zur Säuglings- und Kleinkindpflege zeigen, wie Mediziner, genauer: der neue Zweig der Pädiater, sich als die Spezialisten für Kinder empfehlen und etablieren – und dabei paradoxerweise vor allem damit argumentieren, der Natur des Kindes zu folgen (The Doctor and the Child. Medical Preservation and Management of Children in the Eighteenth Century). Wie arme Kinder und solche mit Behinderung – besonders aus den niederen Ständen – behandelt wurden, ist das Thema von Iris Ritzmann. Sie untersucht Akten aus Waisenhäusern oder Anträge von Eltern an Hohe Spitäler, in denen sie um die Aufnahme ihrer unheilbar kranken oder behinderten Kinder ersuchen, und arbeitet heraus, dass Kinder armer Eltern eine erstaunlich gute medizinische Versorgung erhielten, dies vor allem, weil die Eltern sich darum kümmerten. Damit gelingt es ihr am Material die von de Mause oder Shorter vertretene, sich bis heute haltende These zu widerlegen, in der vormodernen Gesellschaft sei die Haltung von Eltern ihren kleinen Kinder gegenüber von Fatalismus und Gleichgültigkeit bestimmt gewesen (Children as Patients in German-Speaking Regions in the Eighteenth Century).
Um Beobachtungen von Kindern und deren erkenntnistheoretischen Impetus geht es im Beitrag von Anthony Krupp. Mit Karl Philipp Moritz und seinem „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“, einer der ersten psychologischen Zeitschriften in Deutschland, untersucht er einen prominenten Vertreter der Anfänge empirischer Kinderforschung. Krupp versucht zu zeigen, dass Moritz, als dessen kindheitspsychologisches Proprium die Theorie des Ersteindrucks, also der lebensgeschichtlichen Prägung durch erste sinnliche Eindrücke, gelten kann, zuerst die deterministische Theorie der angeborenen Eigenschaften vertreten habe, dann aber zu der Überzeugung gelangt sei, Kinder seien einzigartig und deshalb ihre Entwicklung nicht voraussagbar, also von einer Anlage- zu einer Charaktertheorie gekommen sei. Diese Position wird referiert unter der Zwischenüberschrift „Transparency and Opacity“, französisch hieße das „La transparence et l'obstacle“, bekanntlich der Untertitel von Jean Starobinskis Rousseaustudie [1], auf die der Autor allerdings so wenig hinweist wie auf die breite Sekundärliteratur zu Moritz und seinem „Magazin“ (Observing Children in an Early Journal of Psychology. Karl Philipp Moritz' gnothi seauton (Know Thyself)).
In den nächsten drei Beiträgen geht es um öffentliche Kindheitsräume. Anna-Christina Giovanopoulos untersucht, inwieweit Altersunterschiede im englischen common law Berücksichtigung fanden; sie wurden, wie sie zeigt, zwar durchaus im Sinne eines Kinderschutzes konzeptualisiert, was allerdings, etwa bei Lehrlingen, keineswegs immer eingehalten wurde (The Legal Status of Children in Eighteenth-Century England). Peter Borsay lotet in seinem Beitrag „Children, Adolescents and Fashionable Urban Society” die Bedeutung der neu entstehenden Welt städtischer Muße für Kinder der Elite und für deren Verhältnis zu Erwachsenen aus. Borsay kommt zu dem Schluss, dass diese gemeinsame Welt von Leisure letztlich dazu beigetragen habe, den Abstand zwischen Kindern und Erwachsenen zu verringern. Um einen weiteren Aspekt städtischer Kultur, nämlich Konsum, geht es Patricia Crown, die das Kind in der englischen visuellen Konsumkultur zwischen 1790 und 1830 untersucht. Sie wertet dafür Warenkataloge aus und macht an ihnen deutlich, wie sehr propagiert wurde, die Welt der Elitekinder mit unterschiedlichen „Kinder“dingen auszustaffieren. Kinder, so ihr Ergebnis, wurden gezielt als Konsumenten angesprochen, auch über ihre Eltern, und damit jenseits der kindheitsideologisch vorgesehenen Privatsphäre situiert (The Child in the Visual Culture of Consumption 1790-1830). Borsay und Crown können zeigen, wie durchlässig die Grenzen zwischen den als seperate spheres konzipierten Welten von Kindern und Erwachsenen letztlich waren und damit die Reichweite der Kindheitskonzepte relativieren. Abgeschlossen wird der erste Teil mit Christoph Houswitschkas vergleichender modernisierungstheoretisch argumentierender Analyse von Lockes und Rousseaus Erziehungstheorien, in der die ihnen zugrunde liegenden unterschiedlichen Sozialisationskonzepte im Rekurs auf Habermas und Luhmann analysiert werden (Locke's Education or Rousseau's Freedom. Alternative Socializations in Modern Societies).
Im zweiten Teil des Bandes, „Literary and visual representations“, werden literatur- und kunstgeschichtliche Einzeluntersuchungen versammelt. Anja Müller bringt die beiden oben genannten Perspektiven des Buches in ihrem Beitrag „Fashioning Age and Identity“ zusammen, in dem sie „Kindheit und Lebensalter in englischen Periodika des 18. Jahrhunderts“, so der Untertitel, untersucht. Sie fragt danach, wie im Tatler, im Guardian und im Spectator der Jahre 1709 bis 1714 Kindheit im Rahmen von Lebensalterskonzepten (und den mit ihnen einhergehenden zyklischen bzw. linearen Zeitkonzepten) situiert wurde. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass Kindheit zwar als Zeit der Unschuld mit eigenem Habitus betrachtet wurde, vor allem aber als das andere des als Norm gesetzten männlichen Erwachsenen firmierte.
Die beiden nächsten Beiträge kommen aus der Kunstgeschichte. Dorothy Johnson setzt an dem Phänomen an, dass im ausgehenden 18. Jahrhundert immer mehr Eltern ihre Kinder malen ließen. Sie zeigt anhand von Symbolik und Allegorien, dass in diesen Kinderportraits (u.a. Reynolds, Goya, Runge) unterschiedliche, z. T. konkurrierende Kindheitskonzepte zu finden sind, die allerdings alle von einer individuellen Identität der dargestellten Kinder ausgehen (Engaging Identity. Portraits of children in Late Eighteenth Century Visual Art). Mittlerweile liegt, das als Ergänzung, mit dem Katalog des Frankfurter Städelmuseums zu der Ausstellung „Die Entdeckung der Kindheit. Das englische Kinderporträt und seine europäische Nachfolge“ – der englische Ausstellungstitel war mit „The Changing Face of Childhood: British Children's Portraits and their Influence in Europe“ (hrsg. von Mirjam Neumeister. Frankfurt 2007) präziser – eine ausgezeichnete und umfassende Untersuchung zu Kinderporträts vor. Um Jean Baptiste Greuze und seinen Beitrag zur Ideologie des mütterlichen Stillens (versus Ammenwesen) geht es in Bernadette Forts Beitrag, in dem produktiv an Carol Duncans bahnbrechendem Aufsatz „Happy Mothers and Other New Ideas in Eighteenth-Century French Art“ (1982) angeknüpft wird (Creuze and the Ideology of Infant Nursing in Eighteenth-Century France).
Ein ganz anderes Thema, jugendliche Delinquenz, behandelt Uwe Böker. Er arbeitet heraus, wie die neuen Kindheitsvorstellungen zu einem neuen Konzept jugendlicher Delinquenz führten, was zu einer Ausdifferenzierung zwischen Erwachsenen- und Kinderstrafrecht, v.a. der Verwerfung der Todesstrafe für Kinder führte. Zugleich aber nahm die Furcht vor jugendlichen Gewalttaten zu, auch weil fast zwei Fünftel der englischen Bevölkerung in den 1830ern unter 14 Jahre alt waren. Im Newgate Calendar kam diese Veränderung in Gestalt zunehmender Exempelgeschichten, d.h. einer Pädagogisierung jugendlicher Delinquenz, zum Tragen (Childhood and Juvenile Delinquency in Eighteenth-Century Newgate Calendars). Sonja Fielitz geht es in ihrer Darstellung verschiedener britischer Schulausgaben von Ovids Metamorphosen darum, wie diese die Persönlichkeit britischer Schuljungen – wohlgemerkt – geformt haben, nicht formen sollten, ein schwieriges Thema, das die Frage aufwirft, wie sich Rezeption und Wirkung von Schulbüchern historisch erforschen lassen, eine Frage, zu der in dem Artikel leider nichts zu erfahren ist (Tales of Miracle or Lessons of Morality? School Editions of Ovid's Metamorphoses as a Means of Shaping the Personalities of British School boys).
Einen nächsten Schwerpunkt bilden drei Fallstudien zu Kindheitskonzepten in englischen Romanen. Klaus Peter Jochum liest Romane Daniel Defoes auf dem Hintergrund seiner didaktischen Abhandlung The Family Instructor (Defoe's Children), Jan Hollm diskutiert, wie Henry Fielding Tom Jones als Findelkind, d.h. in seinem rechtlichen Status, thematisiert (Fictionalizing Foundlings. Social Tradition and Change in Henry Fielding's Tom Jones) und Jan Vanderbeke zeigt, wie Lawrence Sterne in seiner Darstellung der Entwicklung Tristram Shandys mit der Newtonschen Mechanik auf einen zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs zurückgreift (Winding up the Clock. The Conception and Birth of Tristram Shandy). Englische Weiblichkeitsentwürfe und Theorien bzw. Vorstellungen zur Mädchenerziehung untersucht Brigitte Glaser und kann an einigen Autorinnen zeigen, wie und gegen welche Positionen umfassendere Bildungsansprüche von Frauen formuliert wurden. Warum welche Texte ausgewählt wurden, welche Sekundärliteratur zum Thema vorliegt und schließlich die gesamteuropäischen Querelle des Femmes als Kontext der englischen Debatten um Mädchenerziehung bleiben allerdings unerwähnt (Gendered Childhoods. On the Discursive Formation of Young Females in the Eighteenth Century). Im letzten Beitrag wird mit Jane Austens Juvenilia eine Textsorte behandelt, die eine auktoriale Perspektive auf eine englische Mädchenkindheit um 1780 hätte eröffnen können, Peter Sabor hat sich allerdings dafür entschieden, die verschiedenen Ausgaben der Juvenilia und deren Rezeption zu behandeln, was sehr verdienstvoll ist, nur eigentlich keine kindheitshistorische Fragestellung darstellt (Fashioning the Child Author. Reading Jane Austen's Juvenilia).
Der Band vereinigt, wie deutlich wurde, ein breites Spektrum von Themen. Zu Wort kommen insbesondere Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler, vor allem aus der Anglistik, aber auch (Kunst)Historikerinnen. Die erziehungswissenschaftliche nationale und internationale Kindheitsforschung fehlt völlig. Dafür mag es konzeptionelle Gründe geben; nur sind diese nicht zu erfahren. Ein Teil der Beiträge lässt sich – je nach Perspektive – als exemplarische kindheitshistorische Fallstudien oder aber kindheitshistorische Randthemen sehen. Sicher liegt der auf dem Einband zitierte Kindheitshistoriker Hugh Cunningham mit seiner Einschätzung, der Sammelband „stelle einen wertvollen Beitrag zu unseren Verständnis von Kindheit im langen 18. Jahrhundert“, nicht ganz falsch, aber es bleiben doch Irritationen festzuhalten. So kommt mir die Flagge, unter der „Fashioning Childhood in the Eighteenth Century“ segelt, einfach zu groß vor. Zum einen ist dem Titel nicht zu entnehmen, dass es um England, Deutschland, in einem Beitrag auch Frankreich geht – es soll ja auch woanders Kindheit und ein 18. Jahrhundert gegeben haben. Zum anderen wäre eine Einführung oder Überblicksdarstellung hilfreich gewesen, in der die Thematik der Kindheitskonzepte und der Lebenssituationen von Kindern – meinethalben begrenzt auf die behandelten Länder – entfaltet worden wäre. So bleibt das Buch ein wirklicher Sammelband mit Beiträgen von sehr unterschiedlicher Qualität – wie kann es kommen, dass Autoren überhaupt keine Sekundärliteratur anführen? Außerdem ist zu bemängeln, dass die Ergebnisse der zweibändigen Geschichte der Kindheit von Egle Becchi und Dominique Julia weder insgesamt noch in einzelnen Artikeln herangezogen werden (Histoire de l'enfance en Occident. 2 Tomes. Paris: Seuil 1998, ital. 1996), genauso wenig wie die von Paula S. Fass herausgegebene dreibändige Encyclopedia of Children and Childhood in History and Society (New York e.a.: MacMillan 2004).
[1] Starobinski, Jean (1971): Jean-Jacques Rousseau: la transparence et l’obstacle. Paris: Gallimard (dt.: Rousseau. Eine Welt von Widerständen. München 1988).
EWR 6 (2007), Nr. 6 (November/Dezember 2007)
Fashioning Childhood in the Eighteenth Century
Age and Identity
(Ashgate Studies in Childhood, 1700 to Present)
(Ashgate Studies in Childhood, 1700 to Present)
Aldershot: Ashgate 2006
(243 S.; ISBN 978-0-7546-5509-1; 47,50 EUR)
Pia Schmid (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Pia Schmid: Rezension von: MĂĽller, Anja (Hg.): Fashioning Childhood in the Eighteenth Century, Age and Identity (Ashgate Studies in Childhood, 17 to Present). Aldershot: Ashgate 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978075465509.html
Pia Schmid: Rezension von: MĂĽller, Anja (Hg.): Fashioning Childhood in the Eighteenth Century, Age and Identity (Ashgate Studies in Childhood, 17 to Present). Aldershot: Ashgate 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978075465509.html