Die Kommission "Bildungs- und Erziehungsphilosophie" der DGfE publiziert hier Vorträge ihrer Tagung aus dem Jahre 2004 zu der momentan viel beachteten Thematik, wie sich philosophische und empirische Bildungsforschung zueinander verhalten [1]. Der Titel des Bandes scheint in seiner Allgemeinheit dieses Verhältnis offen zu lassen und den neun Autoren Spielraum zu geben, sich in einem Spektrum zu verorten, das von einer durch gegenseitige Akzeptanz abgemilderten Abgrenzung bis zur Einforderung eines stetigen Wechselbezugs reicht. Erst auf den zweiten Blick wird eine Vielschichtigkeit in der versuchten Verhältnisbestimmung deutlich, in der sich philosophisch-systematische, disziplinäre bzw. wissenschaftspolitische sowie bildungspolitisch-gesellschaftliche Momente verschränken.
Man kann angesichts der Komplexität begrüßen, dass in dem vorliegenden Band Erziehungswissenschaftler aus verschiedenen Forschungsbereichen zu Wort kommen und in ihren Beiträgen die unterschiedlichen Facetten des Verhältnisses von Bildungstheorie und Bildungsforschung beleuchten. Man muss aber auch sagen, dass der neutral gehaltene systematisch orientierte Titel die Spezifik der gegenwärtigen Diskussionslage verschleiert, in der sich "die" Bildungstheorie in einer defensiven Lage befindet, während "die" qualitativ orientierte Bildungsforschung ihre Position neben und in Konkurrenz zur viel beachteten quantitativen Forschung zu behaupten sucht, welche momentan das Label "Bildungsforschung" stark besetzt. Diese Ausgangslage mit all ihren Konsequenzen erschwert einen unbelasteten Dialog, da sich unweigerlich die Frage aufdrängt, wer einen solchen Dialog (nicht) will bzw. (nicht) braucht. Es gibt also keine bequeme Außenperspektive bei diesem Thema und es ist interessant, die Selbst- und Fremdsicht der hier versammelten Autoren in Augenschein zu nehmen, von denen ausgehend eine gemeinsame Diskussionsbasis über "Bildung" für (mehr oder minder) möglich gehalten wird.
In seinem Beitrag "Bildungsphilosophie und empirische Bildungsforschung – (k)ein Missverhältnis?" versucht Ewald Terhart die Problem besetzte Lage und den eingefahrenen Diskussionsstand ('unkontrollierte Spekulation versus naiver Empirismus') durch die Fragen zu überwinden, an welchen Stellen sich die empirische Bildungsforschung (unthematisch) bildungsphilosophischer Argumentationen bedient und wie Bildungsphilosophie eine unexplizierte Empirie mit sich führt. Der Ansatz bei den Brechungen im Eigenen ist sympathisch; der Umgang mit der Fragestellung ist allerdings unbefriedigend, da im nächsten Schritt Bildungstheorie und Bildungsforschung gegen ihre Vielschichtigkeit und Pluralität identifiziert werden. Die Bearbeitung der Fragen unter Rekurs auf namhafte Vertreter der deutschen Erziehungswissenschaft steht insbesondere quer zur bildungsphilosophischen Arbeit, deren Proprium es gerade ist, sich als eine Arbeit am Begriff zu verstehen und sich (gegen einhellige Identifikationen) kritisch mit begrifflichen und theoretischen Schneidungen auseinander zu setzen. Zudem entgeht dem exemplarischen Aufweis der Existenz des einen im anderen die Asymmetrie im Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung, welche mit Blick auf einen fruchtbaren Austausch zu klären sein dürfte.
In diesem Zusammenhang trägt der Versuch Hans-Christoph Kollers weiter, Bildungsphilosophie und empirische Bildungsforschung (im Anschluss an Lyotard) als einander widerstreitende Diskursarten zu verstehen. Dies impliziert, dass die eine Diskursart ihre Regeln bzw. ihre Ansprüche nicht einfach an die andere heran tragen kann und dass es keine übergeordnete Instanz gibt, welche über den Widerstreit richten könnte. Den Widerstreit macht Koller an Bildung als (bildungsphilosophischer) Möglichkeitskategorie einerseits und (empirisch) identifizierbarem Ereignis andererseits fest. Auch Alfred Schäfer stellt das ‚Wirklichkeitsproblem’ in das Zentrum seiner Überlegungen; im Gegensatz zu Kollers Arbeit, in der die beiden Diskursarten auf das verwiesen werden, was in der jeweils eigenen Thematisierung nicht aufgeht (woraus sich die Forderung nach gegenseitiger Anerkennung ergibt), setzt sich Schäfer kritisch zu beiden Seiten ins Verhältnis: „Beide, Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung, scheinen von einem naiven Wirklichkeitskonzept auszugehen, auf das sich die einen ablehnend und die anderen affirmativ beziehen“ (89). Die Aufgabe besteht mithin darin, einen Bildungsbegriff zu entwickeln, der die konstitutiven Grenzen der Repräsentation für eben diese berücksichtigt und gleichzeitig aus dieser Reflexion eine Perspektive auf ‚Realität’ gewinnt. Einige Umrisse für eine solche bildungstheoretisch inspirierte empirische Forschung werden geliefert: Der Fokussierungspunkt ist dabei das Selbst als nicht zu schließende Differenz, zu der dieses sich noch einmal verhält. Diese Forschungsperspektive (nicht mehr sozialwissenschaftlich, in sich paradox etc.) wird kaum damit rechnen können, in bestehenden Kontexten empirischer Forschung aufgegriffen zu werden. Ihr paradoxes Anliegen stellt hohe Anforderungen an die Methodik und provoziert zugleich die Frage nach der Greifbarkeit ihrer Ergebnisse sowie ihrer Relevanz im sozialen Handeln.
Auf diese Relevanz konzentriert sich Krassimir Stojanov, wenn er die These aufstellt, dass qualitativ-empirische Bildungsforschung um eine normative Perspektive erweitert werden müsse, wobei diese bildungsphilosophisch zu entwickeln und begründen sei: Bildungsbezogene Praktiken sind nach Auffassung Stojanovs nicht angemessen verstehbar, „wenn die Schicht der normativen Setzungen und Erwartungen der sich daran beteiligenden Akteure nicht aus ihrer Teilnehmerperspektive heraus rekonstruiert wird“ (72). Hier findet ein sozialpragmatistischer Begriff von Normativität Verwendung, der von Präskriptivität zu unterscheiden ist. Der Beitrag beeindruckt durch seine Dialogizität mit den Arbeiten Marotzis und Kollers – ungeklärt bleiben aber die von Stojanov entwickelten Bezugspunkte der normativen Perspektive für das Bildungsproblem (Selbst-Kohärenz, Selbst-Universalisierung).
Der Aufgabenverteilung zwischen empirischer Bildungsforschung und Bildungstheorie wendet sich Hartmut Meyer-Wolters zu, dessen Beitrag (ironisch?) mit "Denen die Daten – uns die Spekulation" überschrieben ist. Meyer-Wolters wirft einen Blick auf die Medizin bzw. dort bestehende Bestrebungen, die Professionalisierung ärztlicher Tätigkeit aus einer empirisch, streng kausalanalytisch und auf Evidenz ausgerichteten Perspektive anzugehen, um von hier aus den (defizitären) Stand der Erziehungswissenschaft bezüglich Empirisierung und Technologisierung festzustellen. Demgemäß wird die Bedeutung der empirischen Bildungsforschung in der Beschreibung und Datenerhebung gesehen und mit Humboldt eine prologische Bedeutung der Bildungsphilosophie begründet: "Wenn die Bildungsphilosophie sich gegen die Konkurrenz der empirischen Bildungsforschung behaupten will, muß sie nach meiner Einschätzung ihre spekulativen Aspekte zum Zentrum ihrer Arbeit machen und methodisch fortentwickeln […]" (57). Diese Profilierung der Bildungstheorie gegen die empirische Bildungsforschung steht im Kontrast zur Auffassung Rudolf Tippelts, der beide Bereiche in einem Kontinuum verortet sieht. Empirische Bildungsforschung trage durch ihre Orientierung an Qualifizierung und Kompetenzerwerb vielseitig dazu bei, allgemeine Bestimmungen für ‚Bildung und Handeln’ zu liefern. Insbesondere die Aufklärungsfunktion der empirischen Bildungsforschung stelle eine Verbundenheit mit den Anliegen der Bildungsphilosophen dar. Mit Blick auf die These Meyer-Wolters’ wäre vor allem die Frage von Interesse, wie der produktive Bezug der empirischen Bildungsforschung zum pädagogischen Handeln zu denken ist: Wie ist es genauerhin zu verstehen, dass eine empirische Tatsachenforschung Orientierungen im pädagogischen Handeln bietet? Zuletzt müsste aber auch eine prologische Bildungsphilosophie Rechenschaft darüber abgeben, wie sie Wirklichkeit ‚aufschließt’ und was sie wie daraus folgert.
Der Aufsatz Winfried Marotzkis liest sich als gleichzeitig zusammenfassendes und programmatisches Papier zur erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. In einem ersten Schritt rekapituliert Marotzki seinen strukturell gefassten Bildungsbegriff im Sinne einer Veränderung der Selbst- und Weltreferenzen, welche „eine Flexibilitätssteigerung erbringt“ (128). Dann werden die theoriegeschichtlich bedeutsamen Anschlüsse für die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung referiert, um drittens zum Verhältnis beider Bereiche überzugehen. Hier steht der Vorschlag Marotzkis im Vordergrund, „dass Theoreme in der Forschungspraxis als Heuristiken verstanden werden, um Daten zu interpretieren“ (134). Wenngleich Marotzki darauf hinweist, dass Heuristiken als solche kenntlich zu machen sind, so überzeugt diese Weise, Theorie und Empirie aufeinander zu beziehen, doch letztlich nicht. Theoreme sind Bestandteile von Theorien, d.h. von Interpretationshorizonten, in denen ihre Aussagen erst verständlich werden und Bedeutungen aufschließen. Theoreme als Heuristiken mögen zwar Ideen liefern, empirisches Material zu bearbeiten; sie tragen aber auf diese Weise zu viel und zu wenig in das Material hinein, weil die Implikationen der Theorie unbeachtet bleiben. Dieses Problem taucht in dieser Form im Beitrag Arnd-Michael Nohls („Qualitative Bildungsforschung als theoretisches und empirisches Projekt. Anlage und Ergebnisse einer Untersuchung zu spontanen Bildungsprozessen“) auf, der an exponierten Stellen instrumentell und strategisch Elemente u.a. aus dem Pragmatismus Deweys heran zieht, um den ‚Vorerfahrungen’ der spontanen Bildungsprozesse nachzuspüren (Welche Implikationen aber mit dem Handlungsbegriff des Pragmatismus verbunden sind, in welchem Kontext die so genannten „adjustments“ ihren Sinn erhalten bzw. ihre Notwendigkeit gewinnen, das bleibt bei dieser äußerlichen Bezugnahme außen vor). Nach den Beiträgen Kollers und Schäfers überrascht in diesem Beitrag die Verbindung des Forschungsgegenstandes „Bildung“ mit den Auswertungsverfahren der dokumentarischen Methode: Der Frage nach der problematischen Identifikation oder Realität von Bildung steht hier ein anderer Zugriff gegenüber, der beansprucht, die Engführung der qualitativen Bildungsforschung auf das Selbstverhältnis der Subjekte durch die „Berücksichtigung kollektiver Dimensionen (des Handelns und der Erfahrungsschichtung)“ zu überwinden (173). Die von Nohl erstellte Lebensalter- und Phasentypik der spontanen Bildungsprozesse kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden.
Mit einem Beitrag Edwin Keiners zur vergleichenden Bildungsforschung schließt der Sammelband: Keiner weist vor allem auf die Gefahren (trans)nationaler Standardisierung der erziehungswissenschaftlicher Disziplin(en) hin, welche mit Blick auf einen einheitlichen europäischen Forschungsraum neuerdings zum Thema gemacht wird. Würde dem OECD-Report zur Erziehungswissenschaft in England gefolgt, so könnte nach Keiners Auffassung die deutschsprachige Erziehungswissenschaft bald auf eine Forschung verpflichtet werden, die vorrangig auf Praxis bzw. Politik ziele und insgesamt auf Optimierung und Steuerung ausgerichtet sei. Es stellt sich die Frage, welche Aufgabe der vergleichenden Erziehungswissenschaft in diesem bildungspolitischen Gefüge hinsichtlich der zu erwartenden Entwicklung zukommt.
Insgesamt spiegelt der Sammelband die gegenwärtige Diskussionslage zum Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung wider: Während eine enge Beziehung zwischen Bildungstheorie und qualitativer Bildungsforschung vertreten wird (z.T. in Personalunion), ist das Verhältnis der philosophischen Arbeit am Bildungsbegriff zur quantitativ empirischen Bildungsforschung von Skepsis geprägt bzw. kaum Thema. Gegenläufige Traditionen und gegenläufige Erkenntnisperspektiven scheinen die Notwendigkeit und Möglichkeit eines Austauschs in Frage zu stellen. Weiterhin ist zu sagen, dass der Band zusammenträgt, was von den jeweiligen Autoren an früherer Stelle bereits gesagt worden ist, und bietet daher (mit Ausnahme der Beiträge, die mit Qualifikationsarbeiten zusammen hängen) nicht viel Neues. Ob dies ebenso wie die Tatsache, dass der Band nicht in einem namhaften erziehungs- oder sozialwissenschaftlichen Verlag erscheint, als eine Auskunft über die gegenwärtige Diskussionslage zu interpretieren ist, soll an dieser Stelle offen bleiben.
[1] Print on demand. Zu beziehen ĂĽber die Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie der Deutschen Gesellschaft fĂĽr Erziehungswissenschaft (DGfE).
EWR 5 (2006), Nr. 3 (Mai/Juni 2006)
Bildungsphilosophie und Bildungsforschng
Bielefeld: Janus 2006
(201 S.; ISBN 3-938076-33-X)
Christiane Thompson (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Pongratz, Ludwig / Wimmer, Michael / Nieke, Wolfgang (Hg.): Bildungsphilosophie und Bildungsforschng. Bielefeld: Janus 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/93807633.html
Christiane Thompson: Rezension von: Pongratz, Ludwig / Wimmer, Michael / Nieke, Wolfgang (Hg.): Bildungsphilosophie und Bildungsforschng. Bielefeld: Janus 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/93807633.html