Eineinhalb Jahrzehnte nach der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gibt es noch immer empfindliche Forschungslücken hinsichtlich des Verhältnisses von Erziehung und Staatssicherheit. Eine systematische Darstellung steht noch aus, ein Diskurs zum Thema hat sich trotz der intensiven Beschäftigung mit der DDR-Herrschaftsgeschichte und der Geschichte des DDR-Bildungssystems vor allem in den 1990er Jahren kaum entwickelt. So ist eine (vergleichende) Lokalstudie, die über Art und Ausmaß der inoffiziellen Mitarbeit von Lehrern und Schülern mit der DDR-Staatssicherheit informieren will, sehr zu begrüßen.
Jens Ackermann hat sich mit der knappen Studie einiges vorgenommen. Zunächst geht es ihm darum zu klären, „inwieweit der Einsatz des MfS in den Schulen durch die allgemeine Schulentwicklung bestimmt war und das MfS die Schulen von außen gelenkt hat oder ob ihm ‚nur’ eine Kontrollfunktion zukam“ (12). Weiter sucht er Ursachen und Motive von Lehrern und Schülern für eine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS zu ergründen, wobei ihn besonders interessiert, was diese Kooperation für die Karriere der inoffiziellen Mitarbeiter (IM) bedeutete. Sodann wendet er die Perspektive, indem er fragt, wie der Staat die Kinder und Jugendlichen zu funktionalisieren suchte. Der Autor verspricht – warum in seinem Forschungskontext auch immer – zu zeigen, „wie stark die Schulen politisch geprägt waren und in welchem Umfang Kinder und Jugendliche ideologisch beeinflusst wurden“ (ebd.). Damit werde der Fokus auf das System und dessen Funktionieren gerichtet. Sodann dreht er die Forschungsmedaille erneut, und zwar in Richtung auf die nun „theoretische Fragestellung“, „inwieweit die soziale Mobilität durch den Einfluss des MfS auf die Schulen ab- oder zunahm“. Zumindest auf lokaler Ebene wird ein „genaues Bild für die Stadt Jena“ in Aussicht gestellt (ebd.).
Zu verknüpfen sind mithin mindestens drei Forschungsfelder, in denen der Verfasser Kompetenzen vorweisen müsste. Erstens ist es die systematische Frage nach dem Verhältnis von Schulsystem und Staatssicherheit. Hier meint er durchweg auf die Aktenüberlieferung der ehemaligen Staatssicherheit angewiesen zu sein, „weil es kaum Literatur über das behandelte Thema gibt“ (11). Indes hätte die Untersuchung so voraussetzungslos nicht bleiben müssen: Im Literaturverzeichnis fehlen wichtige Titel, so ein Text von Alexander von Plato über die „Entstasifizierung“ der Lehrer nach 1989, die diese Lokalgeschichte hätten fundieren können [1]. Die im Anhang ohnehin spärlich verzeichneten Darstellungen scheinen darüber hinaus eher als „weiterführende“ denn als „verwendete“ Literatur (79) gelistet worden zu sein.
Zweitens weiß Ackermann, dass sein Thema „nur vor dem Hintergrund der allgemeinen Entwicklung im Bereich der DDR-‚Volksbildung’ verstanden werden“ kann (9). Dass er die alles entscheidenden Einsichten mitbringt, demonstriert er dem Leser mit starken Begriffen wie „Vereinheitlichung“ und „’Gleichschaltung’“(?) sowie z.B. durch die These, dass „seit Ende der siebziger Jahre und ganz besonders dann in den achtziger Jahren … nicht die Lernbilanz des einzelnen Schülers im jeweiligen Fach im Vordergrund stand“, sondern „vor allem der Bezug zur sozialistischen Gesellschaft“ (14 f.). Zum Beleg stutzt er ein Zitat zurecht, das im Original die Praxis der Bewertung individueller Lernleistungen aber keineswegs in Abrede stellt [2]. Ansonsten favorisiert er noch vor der Schulgeschichte von Herrlitz/Hopf/Titze [3] die Studie von Tenorth/Paetz/Kudella über die Politisierung des Schulalltags in der DDR [4]. Auf sie verweist er auch dort, wo ihr unzweifelhafter Ertrag für seine Fragestellungen wenig oder überhaupt nichts verspricht – im Extrem etwa, wenn es um die inoffizielle Zusammenarbeit von SED-Lehrern mit der Stasi geht. Spätestens hier ist unübersehbar der Fußnotenapparat völlig aus den Fugen geraten.
Seine eindeutige Privilegierung der genannten Schriften mag zum einen mit seinem Vorwurf zu tun haben, dass „viele“ andere das Schulwesen „als quasi unpolitischen Bereich“ behandeln. Vor allem würde „unterschlagen, wie menschliche Beziehungen benutzt und untergraben und Jugendliche im Sinne einer Ideologie instrumentalisiert wurden“ (11). Im Fußnotenapparat und auch im Literaturverzeichnis sind solche Titel indes nicht auffindbar, allenfalls als Primärliteratur. Dafür ist in einer längeren Passage vom Bildungsmonopol der SED die Rede, das nun wahrlich von Ackermann nicht mehr nachgewiesen werden muss. Das schreckt ihn aber nicht davor zurück, Bilder der Vergangenheit zu beschwören, die den Leser schaudern lassen und – sollten sie so zutreffen – beispielsweise neue Nachdenklichkeit in die aktuelle Debatte um Ganztagsschulen bringen müssten: „Auch der Hort spielte bei der Ausprägung des sozialistischen Erziehungsmodels eine wichtige Rolle, indem hier die Erledigung der Hausaufgaben überwacht (Stasi? - U.W.) und eine gemeinsame Freizeitgestaltung arrangiert wurde“ (32). In wohl nicht beabsichtigter Weise hat der Verfasser im Weiteren sogar Recht, wenn er in Bezug auf den Wehrkundeunterricht erklärt: „In keinem anderen Staat des sozialistischen Systems existierte eine gleichwertige Einrichtung“ (ebd.). Allerdings handelte es sich in der DDR nicht etwa um eine vergleichsweise außergewöhnlich rigide Form der Militarisierung der Schuljugend, denn bekanntlich wurde in Polen schon ab dem 7. Schuljahr, in der CSSR sogar ab Klasse 6 Wehrunterricht abgehalten. Und in der Sowjetunion gehörte Wehrunterricht – wie man wissen kann – schon lange vor der Einführung in der DDR zum Schulalltag.
Drittens sind für die Bewältigung des Themas sozialhistorische Studien zur DDR unentbehrlich. Hier war Ackermann deutlich bemüht, eigene Literaturkenntnis zu demonstrieren. Seine Kompetenz wird auch dringend benötigt für die – wie sich schließlich herausstellt – zentrale und mit viel Redundanz, langem Atem und immer neuen Akzentuierungen vorgetragene These, dass nach dem Ende der sozialen Umschichtungsprozesse im Zusammenhang mit der Herausbildung einer so genannten sozialistischen Intelligenz sozialer Aufstieg (über höhere Bildung) entweder als Belohnung für politische Loyalität (hier die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Stasi) oder als Ertrag informeller sozialer – gemeint sind in erster Linie geheimdienstliche – Netzwerke (17) möglich wurde. In den achtziger Jahren jedoch habe die mit der Bereitschaft zur geheimdienstlichen Tätigkeit signalisierte Systemloyalität sozialen Aufstieg (wohin?) nicht mehr ermöglicht. Als weitere Bedingung für die Aufnahme in die Erweiterte Oberschule neu „hinzukommen mußte [...] die Herkunft aus der Dienstklasse-Familie“ (26).
Ob es nun um sozialen Aufstieg, die „Erstarrung sozialer Mobilität“ (25) oder um die Auswahl von Schülern für eine zum Abitur führende Bildungseinrichtung ging, soll hier nicht weiter entflochten werden. Irritierend ist in jedem Fall die Behauptung des Verfassers, dass „die schon in den Schulen (seitens der Staatssicherheit – U.W.) getestete politische Loyalität … unumgänglich (war)“ (26). Das aber hätte faktisch bedeuten müssen, dass in den 1980er Jahren „grundsätzlich“ (ebd.) alle Schüler(innen), die in eine zum Abitur führende Schule in der untersuchten Region aufgenommen wurden, positiv auf ihre Bereitschaft zur (inoffiziellen) Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit getestet (d.h. geworben?) worden sein müssten. Aus einer „Dienstklasse-Familie“ stammten sie vorgeblich allemal.
Nicht einmal eine Relativierung der These dürfte dazu berechtigen, sie auch nur annähernd aufrecht zu erhalten. Zwar soll selbstverständlich nicht in Abrede gestellt werden, dass die Stasi bestrebt war, auch unter den künftigen Mitgliedern der sozialistischen Intelligenz IM für eine langfristige, stabile und vor allem geheimdienstlich ertragreiche Kooperation zu werben. Als gesichert angesehen werden kann aber vor allem, dass das vordringliche Interesse des MfS darin bestand, jene Jugendlichen zu kontrollieren, deren Verhalten Nonkonformität oder gar Opposition signalisierte und damit als herrschaftsbedrohlich wahrgenommen wurde. Strategisch bestand das Ziel bekanntlich darin, jugendliche inoffizielle Stasimitarbeiter hauptsächlich aus Kreisen „negativ-dekadenter“ Jugendlicher zu rekrutieren. Auch der Autor vermutet ja, dass vielfach als „Ursache für eine Haltung der Systemdistanz … Karriereblockaden gelten“ könnten (27). Damit aber kämen EOS-Schüler freilich nicht erstrangig als IM in Frage. Zu erklären, wie die widerstreitenden Thesen zusammenpassen, bleibt er dem Leser schuldig.
Immerhin meint er, mit „zuverlässigen Daten“ aufwarten zu können: „Nach einer Erhebung arbeiteten bis zu zehn Prozent der Jugendlichen eines Jahrganges bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr als IM für das MfS“ (38). Leider ist über diese Erhebung nichts weiter zu erfahren. Der Leser wird im Unklaren darüber gelassen, ob es sich etwa um eine lokale Studie der Stasi handelt oder um eine seriöse Untersuchung. Die genannte Relation würde jedenfalls alle bisherigen Erkenntnisse gründlich aushebeln. Bislang galt vielmehr als sicher, dass maximal zehn Prozent aller IM jugendlichen Alters waren. Möglicherweise liegt hier eine folgenschwere Verwechslung vor. Dafür, dass ausgerechnet an den hier untersuchten Schulen die bislang angenommene durchschnittliche Anzahl jugendlicher IM etwa zwanzigfach überboten wurde, liefert Ackermann keinen Beweis. Ohnehin zeigt er sich bei Quantifizierungen auffällig zurückhaltend. Die Menge der mit ihren Decknamen genannten jugendlichen IM würde jedenfalls seine Behauptung nicht bestätigen. Auch die eher zurückhaltende Aussage, dass die Stasi in „nennenswerter Zahl Schüler anwerben“ (40) konnte, spricht nicht gerade für eine Ausnahmesituation an den Schulen in Jena und Saalfeld.
Die Einsprüche bekommen weitere Nahrung, wenn es um die Aufklärung des „weit verzweigten IM-Netzes“ geht, das es – so der Verfasser – ermöglichte, „die Vorgaben des Ministeriums für Volksbildung in die Tat umzusetzen und zu versuchen, die Menschen im Sinne des SED-Machtapparates zu Werkzeugen seiner Ideologie zu machen“ (9). Zum einen ist mittlerweile bekannt, dass Margot Honecker als Ministerin für Volksbildung Wert darauf gelegt hatte, ihren Verantwortungsbereich herrschaftspolitisch einigermaßen souverän, und zwar in deutlicher Distanz zum MfS zu führen. Ferner räumt der Autor selbst nur zwei Seiten weiter ein, dass es ‚Inoffizielle Mitarbeiter Sicherheit’, also IMS – die gewöhnlichste, am meisten verbreitete Kategorie der IM, die gemeinen Zuträger der Staatssicherheit – an den Schulen kaum gegeben habe (vgl. 11). Stattdessen war schließlich in der Region seit den 1970er Jahren ein so genanntes FIM-System aufgebaut worden (40). FIM bedeutet Führungs-IM. Dieser ersetzte gleichsam den hauptamtlichen Führungsoffizier, der nunmehr ausschließlich den FIM anzuleiten hatte und ansonsten für andere, offenbar als sicherheitspolitisch bedeutsamer eingestufte geheimdienstliche Aufgaben verfügbar wurde. Typischerweise wurden FIM-Systeme in gesellschaftlichen Bereichen installiert, in denen keine akute Herrschaftsbedrohung erwartbar war. Besagter FIM leitete in der Region mehrheitlich so genannte ‚Gesellschaftliche Mitarbeiter Staatssicherheit’ (GMS). Diese dienten der Ergänzung der geheimdienstlichen Basis und waren Bürger mit einer bekanntermaßen staatsbewussten Einstellung. Auch der betreffende FIM gehörte übrigens in unterschiedlichen Aufgabenbereichen und schließlich als Direktor einer Erweiterten Oberschule zu den stadtbekannten Funktionären.
Das Netz, das sich hier wohl spannte, bestand infolgedessen zu großen Teilen aus regionalen Repräsentanten des Staates und der SED. Über den FIM sicherte die Stasi sich im Bedarfsfall inoffizielle Handlungsspielräume. Von einem solchen Fall ist aber nicht die Rede. Vor allem garantierte der FIM einen steten Informationsfluss. Andererseits festigte der FIM offenbar durch die (kaum geheim gehaltene - vgl. 43) Beziehung zum MfS seine eigene Vorzugsstellung. Von einem konspirativ im Bereich Volksbildung agierenden Zuträgernetz kann somit allenfalls in Teilen gesprochen werden. Ganz offenkundig handelte es sich vielmehr um jene berüchtigten „Seilschaften“, die die Ausübung von Macht in der Region im Namen von Partei und Staat (einschließlich des MfS) gewährleisteten und unter anderem die Selektion der Schüler(innen) für die Abiturstufe in ihren Hauptberufen verantworteten und zugleich quasi konspirativ kontrollierten. Inwieweit diese beherrschende Stellung überhaupt auf ein originäres geheimdienstliches Netzwerk angewiesen war, bleibt im Dunkeln. Nicht zuletzt dürfte die Mehrzahl der hier vernetzten IM auch in ihren hauptamtlichen Arbeitsbereichen zur offiziellen Kooperation mit der Staatssicherheit verpflichtet gewesen sein.
Nach all dem kann der Rezensent der Versuchung nicht widerstehen, die Danksagung des Verfassers an eine Reihe von Unterstützern und Förderern der Studie (vgl. 7) zu wenden und zu fragen, warum diese ihn nicht vor der Veröffentlichung dieser im Ganzen misslungenen, vom Pathos des gesellschaftspolitischen Bekenntnisses getragenen, von ungeschminkten Ressentiments geleiteten und in weiten Teilen von Sach- und Literaturunkenntnis geprägten Schrift bewahrt haben. Falls es sich der geneigte Leser zumuten mag, die mehrdimensional ambitionierte Studie schlicht auf die tatsächliche Aussagekraft der Quellen hin zu befragen, dann würde ihm möglicherweise insbesondere die knappe Illustration des konspirativen Tätigkeitsspektrums von Schülern und vor allem von Lehrern einige Anhaltspunkte für das Zusammenspiel von Bildungssystem und geheimdienstlicher Macht bieten.
[1] Plato, Alexander v. (1999): „Entstasifizierung“ im Öffentlichen Dienst der neuen Bundesländer nach 1989. Umorientierung und Kontinuität in der Lehrerschaft. In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 5. Bad Heilbrunn, S. 313-342.
[2] Döbert, Hans/Geißler, Gert (2000): Schulleistungen in der DDR. Das System der Leistungsentwicklung, Leistungssicherung und Leistungsmessung. Frankfurt, S. 16.
[3] Herrlitz, Hans-Georg/Hopf, Wulf/Titze, Hartmut (1993): Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Mit einem Kap. über die DDR von Ernst Cloer (2. Aufl.), Königstein.
[4] Tenorth, Heinz-Elmar/Paetz, Andreas/Kudella, Sonja (1996): Politisierung im Schulalltag der DDR. Durchsetzung und Scheitern einer Erziehungsambition. Weinheim.
EWR 5 (2006), Nr. 1 (Januar/Februar 2006)
Die Jenaer Schulen im Fokus der Staatssicherheit
Eine Abhandlung zur Mitarbeit von Lehrern und SchĂĽlern beim Ministerium fĂĽr Staatssicherheit der DDR (Historie und Politik, Bd. 15)
Weimar: Bertuch Verlag GmbH 2005
(94 S.; ISBN 3-937601-21-X; 12,80 EUR)
Ulrich Wiegmann (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulrich Wiegmann: Rezension von: Ackermann, Jens P.: Die Jenaer Schulen im Fokus der Staatssicherheit, Eine Abhandlung zur Mitarbeit von Lehrern und SchĂĽlern beim Ministerium fĂĽr Staatssicherheit der DDR (Historie und Politik, Bd. 15). Weimar: Bertuch Verlag GmbH 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 1 (Veröffentlicht am 13.02.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/93760121.html
Ulrich Wiegmann: Rezension von: Ackermann, Jens P.: Die Jenaer Schulen im Fokus der Staatssicherheit, Eine Abhandlung zur Mitarbeit von Lehrern und SchĂĽlern beim Ministerium fĂĽr Staatssicherheit der DDR (Historie und Politik, Bd. 15). Weimar: Bertuch Verlag GmbH 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 1 (Veröffentlicht am 13.02.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/93760121.html