EWR 3 (2004), Nr. 2 (März/April 2004)

Werner Helsper / Reinhard Hörster / Jochen Kade (Hrsg.)
Ungewissheit
Pädagogische Felder im Modernisierungsprozess
Weilerswist: VelbrĂĽck Wissenschaft 2003
(394 Seiten; ISBN 3-934730-73-6; 29,00 EUR)
Ungewissheit Unsicherheit in Sicherheit zu verwandeln und Ungewissheit in Gewissheit zu überführen, kann man in Anlehnung an Horkheimer und Adorno als den Prozess der Aufklärung beschreiben. Die zu entzaubernde Welt soll beherrschbar gemacht werden, indem ihr eine logische Ordnung übergestülpt wird, und die vorgefundene Fülle an Nichtwissen in Wissen verwandelt werden soll. Dass der Versuch einer vollkommenen technologischen Beherrschung der Welt bis heute nicht geglückt ist, sondern im Gegenteil neue Ungewissheiten und Unsicherheiten als sogenannte "riskante Nebenfolgen" erst geschaffen hat, lässt an weiteren fortschrittsoptimistischen Allmachtsphantasien zweifeln. Horkheimer und Adorno bezeichnen dieses Phänomen als "Dialektik der Aufklärung" und sich postmodern gebende Theoretiker, wie zum Beispiel der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman, nehmen dieses sogar zum Anlass, die Postmoderne als eine "Moderne ohne Illusionen" auszurufen, sofern sie jeglichem modernen Einheits- und Eindeutigkeitsstreben entsagt und Ungewissheit, Unsicherheit und Ambivalenzen nicht als "Abfall" unserer Moderne betrachtet, sondern als geradezu konstitutiv für unsere gegenwärtige Lage. Bezogen auf den erziehungswissenschaftlichen Kontext, der in diesen Prozess eingebettet ist, bedeutet dies, dass es gegenwärtig nicht darum geht, nach neuen Konzepten einer "intentionalen Steuerung von Erziehungs- und Bildungsprozessen" (27) zu suchen, das einem "Social Engineering" gleichzusetzen wäre mit dem Ziel, Ungewissheit in Gewissheit zu verwandeln. Die Erziehungswissenschaft hätte sich dieser Ungewissheitsproblematik vielmehr mit einer neuen Form von Bescheidenheit zu nähern, indem sie Ungewissheit, Unsicherheit, Nichtwissen und Risiko eben nicht versucht ‚auszurotten’, sondern sich mit ihren Möglichkeiten, Chancen und Gefahren kritisch auseinandersetzt und zu einem tieferen Verständnis dieser Phänomene beiträgt, ohne die Dialektik von Ungewissheit und Gewissheit einseitig in eine positive Synthese zu überführen.

Damit wäre das Anliegen des vorliegenden Sammelbandes "Ungewissheit. Pädagogische Felder im Modernisierungsprozess" grob skizziert. Insgesamt 17 Autoren setzen sich in 16 Beiträgen mit dem Phänomen "Ungewissheit" auseinander und beleuchten die Problematik, mit Ungewissheit umzugehen mit Bezug auf unterschiedliche pädagogische Themengebiete und Handlungsfelder. Das Thema Ungewissheit fungiert überwiegend als Schlüsselbegriff für eine aktuelle Gegenwartsdiagnose, egal ob damit eine "reflexive Moderne" oder die sogenannte "Postmoderne" gemeint ist. Dennoch stellen die Herausgeber Werner Helsper, Reinhard Hörster und Jochen Kade in ihrem Vorwort klar, dass Ungewissheit "kein neues Thema der Pädagogik und der sie begleitenden erziehungswissenschaftlichen Reflexion" (7) ist. Ungewissheit, so könnte man etwas vereinfachend feststellen, herrscht, seitdem der teleologisch geordnete Natur- und Weltentwurf des Mittelalters zerfallen ist und die Moderne sich konstituiert. Da die Pädagogik als Wissenschaft ihrerseits in der Moderne sich entfaltet, kann man sogar sagen, dass Ungewissheit zu den "Konstitutionsbedingungen moderner Pädagogik" (26) gehört.

Die Beiträge des Bandes sind in fünf Abteilungen zusammengefasst. Die erste Abteilung "Grundlegungen" umfasst vier Beiträge, die sich mit allgemeinen Fragen zur Ungewissheitsproblematik auseinandersetzen. Andrea Liesner und Michael Wimmer fragen nach dem Umgang mit Ungewissheit und dem Denken und Handeln unter Kontingenzbedingungen. Sie bieten einen allgemeinen Überblick, der unter anderem die Historizität von Unsicherheit herausstellt und so den Leser gut in die Thematik des Bandes einführt. Die weiteren Beiträge vertiefen die Grundproblematik unter ähnlichen allgemeinen Aspekten. Jochen Kade und Wolfgang Seitter bearbeiten Erziehung und Bildung unter den Bedingungen von Nicht-Wissen, Ungewissheit, Risiko und Vertrauen, Dirk Rustemeyer befasst sich mit den Kontingenzen pädagogischen Wissens, und Edwin Keiner beschreibt schließlich das "Wissen um Ungewissheit" (95) in nicht-pädagogischen Disziplinen, um es auf dieser Folie für die Erziehungswissenschaft zu spezifizieren.

Die zweite Abteilung "Öffnungen" enthält fünf Beiträge, die sich bewusst dem Ungewissen gegenüber öffnen und damit den ihm zugrundeliegenden experimentellen Charakter herausfordern. Ausgehend von der Problematik des Ungewissen leistet Meinert A. Meyer didaktische Reflexionen im Anschluss an Ludwig Wittgensteins Sprach- und Erkenntnistheorie. Werner Helsper wendet sich der Frage des Umgangs mit Ungewissheit im Lehrerhandeln und in der Lehrerbildung zu. Er geht von einer "Ungewissheitsantinomie" aus und erörtert Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Antinomie in der Lehrerbildung, die ihrerseits von zunehmender Ungewissheit geprägt ist. Burkhard Müllers Beitrag ist eine Dokumentation und Reflexion eines französisch-englisch-deutschen Projekts, das eine Verbindung zwischen ethnographischer Forschung und interkultureller "Begegnung" von Pädagogen herstellen wollte. Wolfgang Seitter untersucht anhand zweier Fallbeispiele in seinem Beitrag exemplarisch die ungewisse Zukunft von spanischen Migrantenvereinen und Migrantenbiographien. Hartwig Zander schließt die Abteilung ab, indem er sich der Pädagogik des Franzosen Fernand Delignys zuwendet und sich mit dessen Schreibgesten und seiner Arbeit mit vagabundierenden und autistischen Jugendlichen auseinandersetzt.


Während die Beiträge der Abteilung "Öffnungen" die ihr entgegengesetzte Kategorie der "Schließung" vielfach schon mitreflektieren, geht es in der dritten Abteilung "Schließungen" sowohl um Prozesse der Aus- und Einschließung als auch um vordergründige Öffnungen, die jedoch eine Schließung beinhalten. Michael Winkler thematisiert das Problem der geschlossenen Unterbringung von Kindern und Jugendlichen. Er zeigt verschiedene Dilemmata auf und weist auf Ambivalenzen hin, die in der Forderung münden, dass "die Dialektik der Geschlossenheit als eine Dialektik der Freiheit möglich" (246) werde. Der zweite Beitrag dieser Abteilung diskutiert Reformvorschläge unter dem Stichwort "Öffnung der Schule". Rolf-Torsten Kramer weist diese als anachronistische Metapher aus und analysiert mögliche Nebenfolgen des Reformkonzepts, das letztlich eine pädagogische Einschließung beinhaltet, die der Autor mit der Variante einer "kontrollierten Öffnung" (268) kontrastiert.

Die Abteilung "Trends" versammelt drei Beiträge, die auf neuere Entwicklungen der Ungewissheitsproblematik verweisen. Der erste Beitrag beleuchtet den seit den 1990er Jahren wiederkehrenden Trend des lebenslangen Lernens. Die Autoren Klaus Harney und Sylvia Rahn akzentuieren lebenslanges Lernen als Strategie zur Modernisierung des Bildungswesens in den letzten 40 Jahren, die durch den Wandel von der Bildungskarriere zur Bildungsbiographie gekennzeichnet ist. Der Versuch, durch lebenslanges Lernen auf die neue Ungewissheit der Biographien erfolgreich zu reagieren, wird als Fiktion entlarvt, weshalb ein "zurückhaltender Umgang mit dem Ungewissheitsmotiv und die Relativierung der Idee des stets möglichen biographischen Neubeginns im Diskurs um das lebenslange Lernen vorgeschlagen" (291) wird. Dieter Nittels Beitrag thematisiert gegenwärtige Ungewissheiten in Bezug auf die Berufsbiographie. Er analysiert exemplarisch zwei selbständige Berufsbiographien – eine Rechtsanwältin und einen freiberuflichen Erwachsenenbildner – und arbeitet Unterschiede und Gemeinsamkeiten heraus. Reinhard Hörster weist schließlich auf den Trend hin, dass seit dem 20. Jahrhundert Fallverstehen als eine Entwicklung kasuistischer Produktivität in der Sozialpädagogik wieder an Bedeutung gewinnt, nachdem sie nach einer frühen Blüte seit der aufkommenden Moderne, lange Zeit aus dem herrschenden Diskurs verdrängt worden ist.

Die letzte Abteilung "Diskursfelder" umfasst zwei Beiträge, die sich auf massenmediale Diskurse beziehen. Franz Hamburgers "Gewaltrede" akzentuiert pädagogisches Handeln im Spiegel des medialen Gewaltdiskurs, und Jochen Kades Beitrag beleuchtet schließlich die politische Aufklärung unter den Bedingungen von Ungewissheit und konkretisiert diese Thematik anhand der Analyse der Talkshow "Sabine Christiansen" und Erich Böhmes "Talk in Berlin".

Der Sammelband, der übrigens nicht nur in Buchform, sondern durch Humanities Online auch als pdf-Datei vertrieben wird, bietet insgesamt einen sehr ausführlichen und variationsreichen Zugang zur Ungewissheitsproblematik im Kontext pädagogischer Fragestellungen. Jeder der Beiträge nimmt aus einer jeweils spezifischen Perspektive Stellung zur aktuellen Diskussion um Ungewissheit, Fremdheit, Unbestimmtheit und Kontingenz. Sicherlich hätte man auch völlig andere Beiträge und Spezifizierungen zu diesem offenen und breit angelegten Thema erwarten können, weshalb die Auswahl der Beiträge zuweilen selbst ein wenig kontingent erscheint. Dennoch folgt das Buch einem klaren und schlüssigen Aufbau und führt meines Erachtens hervorragend in die aktuelle Debatte der Ungewissheitsproblematik ein, die in der Erziehungswissenschaft wohl immer Konjunktur haben dürfte. Durch die Lektüre dieser Aufsatzsammlung wird nicht nur der Blick auf den Facettenreichtum des Phänomens "Ungewissheit" geschärft, sondern auch deutlich, dass die Permanenz von Ungewissheit vermutlich das einzige ist, worüber wir noch Gewissheit haben.


Oliver Geister (MĂĽnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Oliver Geister: Rezension von: Helsper, Werner / Hörster, Reinhard / Kade, Jochen (Hg.): Ungewissheit, Pädagogische Felder im Modernisierungsprozess, Weilerswist: VelbrĂĽck Wissenschaft 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/93473073.html