Der hier zu besprechende Band über Reformpädagogik begründet eine neue Reihe. Der Autor und Herausgeber, Professor für Historische Pädagogik und Erziehungsforschung an der Universität Jena, will damit ein aus formalen Gründen bisher eher vernachlässigtes Format der wissenschaftlichen Forschung besser bedienen. Es ist das erklärte Ziel dieser Serie, jeweils Publikationen mit einem Seitenumfang von 50-100 Buchseiten zu veröffentlichen, ein Format, das für Zeitschriften als zu lang und für Buchpublikationen als zu kurz gilt. Inhaltlich orientiert sich die Reihe am Begriff ‚Reformpädagogik’, wobei Reformpädagogik „zeitlich entgrenzt“ verstanden werden will. Es sind „Detailuntersuchungen zur Bedeutung von Reform-Aspekten bei Personen“ möglich, aber auch die Thematisierung „jener Spannung zwischen Anpassung und Utopie auch auf die Gegenwart hin“. Der Anspruch ist nicht gerade bescheiden: „Ohne sich im geringsten an der wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung und der Kontinuität von Manns Pädagogischer Bibliothek messen zu können und zu wollen, kann die geplante Art der Publikation doch vielleicht am ehesten mit dieser Reihe verglichen werden“ (6f.).
Die im vorliegenden ersten Band zum Abdruck gelangten drei Studien verstehen sich als Beitrag zur systematischen Erziehungswissenschaft. Bei ‚Reform’ interessiert also nicht die historische Verortung, sondern der systematische Aspekt, womit Reform zeitunabhängig gefasst werden soll und als Perspektive der Erziehungsphilosophie konzipiert ist. Die erste Studie befasst sich mit der Dekonstruktion der Reformpädagogik, die zweite konzentriert sich auf die Systembezüge und die dritte auf die Binnenstruktur der Reformpädagogik.
Die erste Studie dekonstruiert den Begriff Reformpädagogik. Reformpädagogik gelte als Epoche, die sich aufgrund von Kriterien bestimmen bzw. eingrenzen lasse. „Aus dem geschichtlich Gegebenen ergeben sich dann die Anhaltspunkte, die die jeweilige Epochenkennzeichnung legitimieren sollen“ (9). Das Problematische dieser Vorgehensweise wird im Folgenden erläutert. Koerrenz unterscheidet zwei Zugangsweisen zur Verknüpfung von ‚Reform’ und ‚Pädagogik’. Die Verknüpfung könne entweder mit einem systematischen oder einem historischen Interesse angegangen werden. Eine systematische Perspektive interessiere sich dabei für das ‚Reform’-Motiv, während die historische Perspektive die „Zeiträume oder Sachverhalte“ im Blick habe (10). Der systematische Blick auf ‚Reform’ habe dabei einige Anstöße hervorgebracht, die vor allem die Problematik der Epochenbezeichnung deutlich gemacht habe. Das Motiv der ‚Reform’ habe eine lange Tradition in der Pädagogik, gerade auch bei Autoren, die eigentlich als Gegenposition zur Reformpädagogik in historischer Perspektive bezeichnet wurden (als Beispiel etwa Wilhelm Rein). Dies zeige, dass das ‚Reform’-Motiv in der Geschichte der Pädagogik eigentlich als systematisches Problem zu betrachten sei (15). Diesen Ansatz sieht Koerrenz noch dadurch verstärkt, dass „alle Darstellungen von ‚Reformpädagogik’ in hermeneutischer Perspektive zwangsläufig ganz bestimmten, oftmals unausgesprochenen systematischen Prämissen folgen“ (16).
Diese These prüft er anschließend an einigen Beispielen der Geschichtsschreibung (Adolf Rude, Jacob R. Schmid, Peter Petersen, Herman Nohl, Gertrud Bäumer) und setzt dieses Verfahren mit den beiden Werken von Hermann Röhrs und Dietrich Benner/Herwart Kemper bis in die Gegenwart hinein fort. Für Koerrenz ist an diesen Beschreibungen auffallend, dass das Personal relativ konstant bleibt. „’Reformpädagogik’ zielt offensichtlich immer auf historische Aus- und Eingrenzung von Personal, Themen, Zusammenhängen“ (26). Dies mache offenbar auch Sinn, wenn historische Sachverhalte in den Blick genommen werden. Es stellt sich für Koerrenz aber die Frage, inwiefern nicht ein systematischer Blick, konzentriert auf das ‚Reform’-Motiv, eine Perspektive für die Erziehungsphilosophie sein könnte. Fremdsprachige ‚Reformpädagogen’ werden aber auch bei dieser Betrachtungsweise nicht in die Überlegungen mit einbezogen.
In der zweiten Studie versucht Koerrenz den Begriff der ‚Reformpädagogik’ über einen systematisch-analytischen Zugang neu zu bestimmen. Damit hofft er, den Begriff aus seiner Verwendung als affirmativen Handlungsbegriff herauszulösen und ihm dadurch eine neue Bedeutung zu geben. ‚Reformpädagogik’ solle so „entemotionalisiert“ werden, indem der Begriff auf seine Systematik reduziert wird. Damit würde der Begriff auch seine implizite Wirkkraft zurück erhalten: „Denn jenseits aller unterschiedlicher Wertungen ist das ‚Reform’-Motiv ein dauerhaftes Kennzeichen pädagogischer Diskussionen“ (28). Hier müsste die kritische Frage gestellt werden, ob Koerrenz nicht von einem unklaren Ursache-Wirkungs-Verhältnis ausgeht. Die Tatsache von Diskussionen lässt ja noch keinen Schluss auf vorhandene Wirkung zu und das ist ja gerade in der pädagogischen Semantik oft ein Gleiches. In der Ausformulierung des ‚Reform’-Begriffs orientiert sich Koerrenz dabei an traditionellen Begriffskonstruktionen, gefragt wird nach Zielperspektive und Prozess, Bildsamkeit und Lernfähigkeit (34). Dem Moment der Reform wird eine zentrale Bedeutung in der Pädagogik zugesprochen, in einer Pädagogik, die mehr sein möchte als „Optimierung von Technologie in ethisch unbestimmter Weise“ (35). Mit Hilfe dieser theoretischen Fassung können in der Folge tradierte Konzepte analysiert werden. Dies soll eine Basis für theoretische Konzeptionen der Gegenwart sein, für eine „zeitgemäße ‚Reformpädagogik’“ (42).
Die dritte Studie steht unter dem Titel „Reformpädagogik – Binnenstrukturen“. Ein Blick in die Geschichte der Bildungspolitik zeige, so Koerrenz, dass immer wieder „ein neuer Start in die Reformpädagogik“ gefordert worden sei (45), wobei sich das Stichwort ‚Reform’ nicht zwingend auf die als ‚Reformpädagogik’ bezeichnete Epoche beziehen müsse. Es zeige sich auch, dass ‚Reform’ als Begriff ein Sammelsurium von verschiedensten inhaltlichen Vorstellungen transportiert, die untereinander nicht kompatibel zu sein brauchen. Koerrenz versucht nun mit Hilfe von drei Leitsätzen diese verschiedenen Aspekte zu strukturieren, um sie dann als „Baustein für die Ausnüchterung und Versachlichung entsprechender Diskussionsprozesse“ zu gewinnen (46). Diese drei Leitsätze sollen hier etwas näher erläutert werden, da sie als Kernthesen des Buches gelesen werden können.
Der erste Leitsatz beschreibt die historische Variabilität des normativen Kerns von Reform. Allerdings vermag die historische Argumentationslinie wenig zu überzeugen, da sie sich eher von Gemeinplätzen der ‚Geschichte der Pädagogik’ speist, als aus den Erkenntnissen der neueren historischen Bildungsforschung. Die Vormoderne oder die Frühe Neuzeit wird als relativ statische Gesellschaftsform beschrieben, die wenig Wandel kannte und sich hauptsächlich auf die Reproduktion der bestehenden Ordnung konzentrierte. Wie etwa die mittlerweile berühmt gewordene Studie von Carlo Ginzburg über die Welt des Müllers um 1600 zeigt [1], waren auch Biographien der Frühen Neuzeit mit unsicheren Zukunftsperspektiven konfrontiert. Neue Herausforderungen mussten gemeistert werden und die einmal gewählte Ausbildung bzw. der einmal gewählte Beruf überdauerte selten die ganze Berufsbiographie. Die Frühe Neuzeit kann also keinesfalls als „Paradies des Gewohnheitsmäßigen“ (48) bezeichnet werden, wie Koerrenz das bemerkenswert unhistorisch suggeriert.
Der zweite Leitsatz formuliert das „Reform-Denken in der Pädagogik“ als „Verschränkung zweier Polaritäten“. Die eine Polarität besteht zwischen „Individuum und Gesellschaft“ und thematisiert die Zielsetzung der Reform, die andere besteht zwischen „Person und Struktur“ und beschreibt den „Weg der Reform“ (53). Der ‚Streit’ um die Vorherrschaft zwischen Individuum und Gesellschaft wird auch hier wieder mit historischen Beispielen veranschaulicht, die erneut von der eigenen (deutschsprachigen) Tradition geprägt sind. Das Problem ist, dass dieser Gegensatz von „Individuum und Gesellschaft“ bekanntlich in der deutschsprachigen Tradition dominant ist. Die angelsächsische Tradition hingegen hat daraus nie einen (normativen) Gegensatz gemacht, sondern sieht darin eine empirische Gegebenheit, die weder Problem noch Diskussionspunkt ist [2]. Die Polarität zwischen Individuum und Gesellschaft ist also kein „systematischer Sachverhalt“ (55), sondern Produkt einer bestimmten historischen Tradition, die vermittels historischer Forschung aufgehellt und reflektiert werden sollte.
Der dritte Leitsatz verweist auf die Tatsache, dass sämtliche Reformprozesse in einem konkreten historischen Kontext eingebunden sind. Zu beachten seien dabei einerseits der gesellschaftliche Rahmen, der die Grenzen einer Reform bestimmt, sowie andererseits „normativ-positionelle Orientierungen“ (59). Deshalb sei nicht alles möglich, was theoretisch denkbar wäre.
Auffällig an diesem Band ist das Bemühen, die systematische Perspektive gegenüber einem historischen Zugang stark zu machen. Ich denke aber, dieser Ansatz führt in eine theoretische Sackgasse. Koerrenz verwendet Geschichte in Anlehnung an das Geschichtsverständnis der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik und der Systematischen Philosophie als Quelle, die Quelle wird aber nicht in ihrem historischen Kontext analysiert und ausgewertet. Kant oder Herbart (die Namen sind beliebig austauschbar) werden mit Aussagen zitiert, die losgelöst von ihrem historischen Kontext Verwendung finden. Damit verpasst die Allgemeine Pädagogik aber die Möglichkeit, von einer innovativen Historischen Bildungsforschung Anregungen und Einsichten für die Theoriebildung zu gewinnen. Theoriebildung kann nie auf reiner Systematik aufgebaut werden, da sie so empirie- und damit gegenstandslos wird. Der Vorteil der Allgemeinen Pädagogik ist ja gerade die Verbindung von historischer Forschung und Theoriebildung, ein Vorteil, der ohne Not besser nicht aufgegeben werden sollte.
[1] Ginzburg, Carlo (1979): Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Frankfurt am Main.
[2] Vgl.: Mill, John Stuart (1976): Der Utilitarismus. Stuttgart; Dewey, John (1993): Demokratie und Erziehung. Weinheim.
EWR 4 (2005), Nr. 6 (November/Dezember 2005)
Reformpädagogik
Studien zur Erziehungsphilosophie (Pädagogische Reform, Bd. 1)
Jena: edition Paideia 2004
(66 S.; ISBN 3-934601-99-5; 7,80 EUR)
Rebekka Horlacher (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rebekka Horlacher: Rezension von: Koerrenz, Ralf: Reformpädagogik, Studien zur Erziehungsphilosophie (Pädagogische Reform, Bd. 1). Jena: edition Paideia 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/93460199.html
Rebekka Horlacher: Rezension von: Koerrenz, Ralf: Reformpädagogik, Studien zur Erziehungsphilosophie (Pädagogische Reform, Bd. 1). Jena: edition Paideia 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/93460199.html