
Was indes ist es, das ausgerechnet diese PĂ€dagogen in die (regionale) Bildungsgeschichte einzugehen privilegiert? Was zeichnet ihre Biografien aus vor den unerzĂ€hlten LebenslĂ€ufen â wenn schon nicht ihrer gemeinen Berufskollegen, dann aber ihrer Schicksalsgenossen?
Folgt man Andreas Pehnke, dann verdient es der Lebensweg Moritz Nestlers mindestens aus drei GrĂŒnden, dem Vergessen entrissen zu werden: Erstens verweist er auf dessen âganz bemerkenswerten Leistungen als Schulreformer wĂ€hrend der Weimarer Republikâ (8). Als Sohn eines Volksschullehrers hatte sich Nestler frĂŒh entschieden, dem beruflichen Vorbild des Vaters zu folgen. ZunĂ€chst durchlief er das Lehrerseminar im erzgebirgischen Annaberg. Mit einem reformpĂ€dagogischen Versuchsklassenprojekt wurde er 1912 in Chemnitz bekannt. KernstĂŒck der Reformarbeit bildete ein wenig spektakulĂ€rer, aber durchaus erfolgreicher und allgemein anerkannter, die elementaren Bildungsbereiche ĂŒbergreifender Gesamtunterricht. Von 1914 an ist Nestlers Interesse an verschiedenen Formen des Arbeitsschulunterrichts belegt. Dass er zu Beginn der Weimarer Republik auch bildungspolitisch zu den Sozialdemokraten fand, stellt sich als folgerichtige Entwicklung dar.
Nestler avancierte in den 1920er Jahren zwar nicht zum Vorreiter der Schulreform, wohl aber zu einem engagierten Streiter fĂŒr die Durchsetzung einer weltlichen Einheits- und Arbeitsschule, wie sie durch das sĂ€chsische Ăbergangsschulgesetz fĂŒr die Volksschulen geregelt wurde. Entsprechend verlief seine Karriere zunĂ€chst unspektakulĂ€r. 1922 wurde er stellvertretender Schulleiter. 1930 â im Alter von 44 Jahren â ĂŒbernahm Nestler die Leitung der neu errichteten Diesterwegschule, die das kulturelle Zentrum der Chemnitzer Gablenzsiedlung, einer von der Lebensreformbewegung inspirierten Gartenstadt, bildete. Seine pĂ€dagogischen Leitbilder sind mit den zeitgenössisch populĂ€ren Begriffen Arbeitsschule, Gemeinschaftsschule, Selbstverwaltung und soziales Lernen charakterisiert.
Dass Nestler 1933 zu den nach dem âGesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentumsâ Entlassenen gehörte, prĂ€destinierte ihn nach Kriegsende in seiner Heimatregion fĂŒr eine herausgehobene bildungspolitische Position. Die von Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten geprĂ€gte Besetzung der VerwaltungsĂ€mter endete mit seiner Ernennung zum Kreisschulrat unter der Ăgide eines kommunistischen Bezirksschulrates. Hier verantwortete er auf lokaler Ebene die Entnazifizierung und Demokratisierung des Schulwesens nach MaĂgabe der Sowjetischen MilitĂ€radministration und des âGesetzes zur Demokratisierung der deutschen Schuleâ ebenso wie er sich von den bildungspolitischen Idealen der sĂ€chsischen Sozialdemokratie aus der Vorkriegszeit leiten lieĂ. Der sich sukzessive entfaltende Konflikt eskalierte 1948 mit der Entlassung Nestlers.
Zweitens soll die Biographie Nestlers vergegenwĂ€rtigt werden, weil er seine beruflichen Aufgaben stets mit einem besonders regen sozialen Engagement als BĂŒrger seiner westsĂ€chsischen Heimat verbunden habe. Allerdings agierte Nestler als Kreisschulrat durchaus mit ziemlicher Strenge und RigorositĂ€t, die offenbar auch das eigene soziale Gewissen nicht zu mildern vermochte.
Drittens ist es das energische und standhafte Eintreten Nestlers fĂŒr Demokratie, Meinungsfreiheit und staatsbĂŒrgerliche Grundrechte, âsein Leben im Widerstand gegen Ideologie und Unrechtâ (7), das es wert sei, (bildungs)historisch âaufgearbeitetâ zu werden: Nestlers MaĂregelung wĂ€hrend des Nationalsozialismus folgte in stalinistischer Zeit die âvollkommene Isolierungâ in der berĂŒchtigten Bautzener Strafvollzugsanstalt (1949-1956). Durch die sowjetische Besatzungsmacht war er als angeblicher Feind der demokratischen Schulreform, als ausgemachter und bekennender Gegner der Vereinigung von KPD und SPD und als Schumacher-AnhĂ€nger mit Kontakten zu den OstbĂŒros der West-SPD nach sowjetischem Recht zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Unmittelbar nach seiner vorzeitigen Entlassung siedelte er in die Bundesrepublik ĂŒber.
Zweifellos beeindruckt die Biographie Nestlers mithin vor allem, weil sie einen charakterfesten Sozialdemokraten vorstellt, der rĂŒcksichtslos gegen sich selbst und mitunter auch gegen andere kompromisslos dazu bereit war, fĂŒr seine politische Ăberzeugungen unerbittlich einzutreten und gegebenenfalls schwerwiegende persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Seine durchaus anerkennenswerten bildungspolitischen und pĂ€dagogischen Leistungen drĂ€ngen sich hingegen der bildungsgeschichtlichen Forschung nicht mit besonderem Nachdruck auf. Nestler wird dem Leser vielmehr als ein Typus des vorbildlichen staatsbĂŒrgerlichen WiderstandskĂ€mpfers prĂ€sentiert, dessen Schicksal sich als Gegenstand politischer Bildung eignet, zumal die DDR-Geschichtsschreibung hartnĂ€ckige Spuren der VerklĂ€rung hinterlassen hat. Eher wohltuend denn befremdlich wirkt, dass Nestler bei all dem auch charakterliche SchwĂ€chen offenbarte; Nachgiebigkeit zeichnete ihn in seinem Privatleben ebenso wie in seinem Verhalten gegenĂŒber politischen Freunden nicht aus.
Aus der Distanz fĂ€llt besonders Nestlers Antikommunismus ins Gewicht. Die biographische Studie zeigt die militante AusprĂ€gung dieser Haltung gleichsam als Konsequenz des engagierten Eintretens fĂŒr Freiheit und Demokratie. Nestler bekannte sich als âein geschworener Feind des Kommunistenâ (176). Wenn Pehnke das kommunistische Feindbild des Sozialdemokratismus als ein Denkmuster kommentiert, das in den Auseinandersetzungen der 1920er Jahre entstand (186), dann gilt dies jedoch umgekehrt auch fĂŒr das sozialdemokratische Feindbild des Kommunismus. Zur Toleranz gegenĂŒber kommunistischen Andersdenkenden zeigte sich Nestler nicht fĂ€hig. Seine persönliche Leidensgeschichte verhĂ€rtete eingeschliffene Denkmuster. Gewiss machen es die totalitarismustheoretische Interpretation von Nationalsozialismus und Gesellschaftsentwicklung in der SBZ und frĂŒhen DDR im sowjetischen Machtbereich ebenso wie die Gleichsetzung von Kommunismus und realem Stalinismus nicht gerade leicht, Nestler auch in dieser Weise als historisches Gegenbild seiner kommunistischen Peiniger zu akzeptieren. Als staatsbĂŒrgerliches Vorbild taugt Nestler endlich erfreulicherweise dann doch weit weniger denn als historische Gestalt mit regionalgeschichtlichem Gewicht, dessen Biographie zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit reizt. Das wĂ€re dann wohl die gewĂŒnschte âangemessene Rezeptionâ (15) und ĂŒberdies eine bildungsgeschichtlich lohnende SĂŒhne historischen Unrechts (12).
Die schwierige Quellenlage hat der Verfasser ĂŒberzeugend gemeistert. Ebenso gelungen ist im GroĂen und Ganzen die Darstellung in ihrer Einheit von Biographie-, Regional- und Bildungsgeschichte, auch wenn mitunter die (bildungs-)geschichtlichen ZusammenhĂ€nge ein wenig ĂŒberdehnt erscheinen. Jedoch könnte die Studie so ein breiteres Publikum gewinnen. Es ist ihr zu wĂŒnschen.
[1] Pehnke, Andreas (2000): âIch gehöre in die Partei des Kindes!â Der Chemnitzer Sozial- und ReformpĂ€dagoge Fritz MĂŒller (1887-1968). Beucha (2. Aufl. 2002).
[2] Ders. (2004): Ich gehöre auf die Zonengrenze!â. Der sĂ€chsische ReformpĂ€dagoge und Heimatforscher Kurt Schumann (1885-1970). Beucha.
[3] Ders. (2004): Botschaft der Versöhnung. Der Leipziger Friedens- und ReformpÀdagoge Waldus Nestler (1887-1954).