Dieses Buch ist ein besonderes Buch, das sich nur schwer einordnen lässt. Es ist weder eine wissenschaftliche Auseinandersetzung noch ein politischer Forderungskatalog, es ist keine Belletristik und keine heilpädagogische Fachliteratur. Und doch sind all diese Dimensionen enthalten.
Das Buch entstand als Ergebnis einer Matinee in der Wiener Staatsoper am 2. November 2003 in Zusammenarbeit mit dem "2off ballett special". Diese Veranstaltung im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung vereinte Vertreter von Kunst und Kultur, von Wissenschaft und Praxis, von Politik und Wirtschaft. Es ist das Besondere der Matinee, dass sich so verschiedene Mitglieder der Gesellschaft zu Wort meldeten. So traten Vertreter von Praxisverbänden (z.B. Norbert Daniel und Thomas Schrei von der Heilpädagogischen Gesellschaft Wien), Wissenschaftler (z.B. S. Ellger-Rüttgart, Wilfried Datler, Gisela Gerber u.a.), aber auch Menschen mit den verschiedensten Behinderungen, die teilweise nicht in ein Klischee passen, auf. Beeindruckend auch die Beiträge aus dem Bereich Versicherungen und Banken. Hier sticht besonders der Beitrag von KR Dir. Herbert Pristl, Verkaufsdirektor für Gastronomie, hervor. Alle Beiträge der Matinee, die sowohl Schilderungen von Erlebnissen, Erfahrungen und Innenwelten als auch distanzierte Analysen darstellen, wurden zu diesem Buch zusammengefasst.
Es ist mit der Frage nach dem Menschenbild unserer Zeit ein sehr philosophisches Buch. Gisela Gerber, eine der Herausgeberinnen, fordert in ihrem Vorwort die Abkehr von einem "reduktionistischen, von gewissen gesellschaftlichen Interessen, Idealen und Marktansprüchen geprägten Menschenbild hin zu dem prozesshaften konkretem Menschen in seiner Ganzheitlichkeit und unendlichen Vielfalt" (18). Diese Vielfalt spiegelt sich bereits in der Anzahl der Autoren wieder, es wurde von einem breiten Personenkreis gestaltet. Dabei stand nicht die Frage im Vordergrund, dass es von Betroffenen und Nichtbetroffenen geschrieben, gezeichnet und illustriert wurde, sondern dass Behinderung jeden betrifft. Und so findet man in diesem Buch auch die verschiedensten Sichtweisen auf menschliches Leben mit und ohne Behinderung. So beschreibt Susanne Frei Probleme im Umgang mit Brustkrebs, einer Krankheit, die jede Frau betreffen kann. Helga Fasching dagegen beschreibt die Schwierigkeiten der Berufs- und damit Lebensperspektiven von jungen Menschen mit geistiger Behinderung. Wolfgang Kuballa, jahrelanger Auslandskorrespondent und Kriegsberichterstatter, schildert seine Annäherung an das Phänomen Behinderung. Unbedingt lesenwert ist der Beitrag von Peter Singer zu eigenen Erlebniswelten. Von Geburt an durch eine dyskinetische Cerebralparase bewegungsbehindert, verteidigte er 2003 seine Dissertation an der Universität Wien und ist seit dem ehrenamtlich an der Universität tätig. Eine Sichtweise auf den Städtebau bringt Andreas Leitgeb, Architekt, ein. Sein Plädoyer: Viele historische Gebäude können auch durch "die Umgestaltung von Eingangsbereichen als Ausdruck gelebter Kommunikation und Vielfalt dazugewinnen" (140). Helene Karmasin und Nina Walter von Karmasin Motivforschung Wien stellten Untersuchungsergebnisse zur Haltung der österreichischen Bevölkerung gegenüber Menschen mit Behinderung dar. Die Vielfalt und Vielgestaltigkeit des Buches lässt eigentlich jede Hervorhebung einzelner Beiträge ungerecht erscheinen. Auch kann in dieser Kürze nicht der gesamte Themenbogen angesteckt werden.
Die einzelnen Beiträge sind recht knapp gehalten, max. 3 Seiten. So ergibt sich ein Lesebuch aus Fachtexten, Statements, Zeichnungen, Fotos und Schilderungen von Erlebnissen.
Eine Einordnung in die Erziehungswissenschaften ist schwierig. Obwohl von der Arbeitsgruppe Sonder- und Heilpädagogik gestaltet, ist es ein Buch für alle Erziehungswissenschaftler, aber auch für Politiker, Mediziner, Wirtschaftswissenschaftler, für alle Vertreter der Gesellschaft. Für Studierende ist es die komplexeste Annäherung an die Verschiedenheit menschlichen Lebens. Dieses Buch ist für ein breites Publikum, es ist für Wissenschaftler und Sudenten, für Praktiker und alle geeignet, die sich mit dem Thema Behinderung in auseinander setzen möchten
Die österreichische Presse widmete sich diesem Buch sehr intensiv, doch auch sie fand keine Schublade dafür. So sieht "Die Presse" (30.11.2004) darin ein wichtiges Nachschlagewerk, während die "Wiener Zeitung" (3.12.2004) vor allem die Schilderung von Einzelschicksalen hervorhebt. Doch in einem sind sich alle einig: Dieses Buch besticht auch durch die Schönheit der Gestaltung. Vielfältige künstlerische Mittel unterstreichen die Komplexität der Beiträge.
Anmerkung:
Das Buch kann zum Preis von 15,-€ am Institut für Sonder- und Heilpädagogik, Universitätsstr. 7/ NIG 66 St, 1010 Wien/ ilse.schauhuber@univie.ac.at bestellt werden.
EWR 4 (2005), Nr. 2 (März/April 2005)
Leben mit Behinderung
Ein Bilder- und Lesebuch aus Wissenschaft und Praxis
Wien: Empirie Verlag 2004
(143 S.; ISBN 3-902227-39-7; 15,00 EUR)
Ines Budnik (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ines Budnik: Rezension von: Arbeitsgruppe Sonder- und Heilpädagogik der Universität Wien: Leben mit Behinderung, Ein Bilder- und Lesebuch aus Wissenschaft und Praxis, Empirie Verlag: Wien 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 2 (Veröffentlicht am 06.04.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/90222739.html
Ines Budnik: Rezension von: Arbeitsgruppe Sonder- und Heilpädagogik der Universität Wien: Leben mit Behinderung, Ein Bilder- und Lesebuch aus Wissenschaft und Praxis, Empirie Verlag: Wien 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 2 (Veröffentlicht am 06.04.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/90222739.html