Die Frage nach dem Einfluss staatlicher Steuerungsversuche auf das Schulwesen des 19. Jahrhunderts ist in der historischen Bildungsforschung schon vielfach diskutiert und kontrovers beantwortet worden. Sie steht auch im Mittelpunkt der 2003 an der Universität Tübingen abgeschlossenen Dissertation von Tanja Blattner. Die Verfasserin wendet sie auf einen bislang noch kaum untersuchten Gegenstand, das württembergische Realschulwesen zwischen 1835 und 1848, an. In der von ihr entwickelten und auf eigenen Vorarbeiten aufbauenden Periodisierung handelt es sich dabei um die „Ausbauphase“ des württembergischen Realschulwesens, der eine „Anfangsphase“ zwischen 1783 und 1818 und eine auf die Jahre zwischen 1818 und 1835 datierte „Aufbauphase“ voranging.
Den Ausgangspunkt der Studie bildet der so genannte Schulentwicklungsplan des Kultusministers Johannes von Schlayer aus dem Jahr 1835. Er verfolgte das Ziel, das Realschulwesen in Württemberg auf Kosten des traditionell dichten Lateinschulnetzes auszubauen. Insbesondere sollten die 43 einklassigen der insgesamt 83 Lateinschulen des Königreiches in Realanstalten umgewandelt werden. Die Initiative zu diesem Plan war ursprünglich nicht von der Regierung, sondern vom Landtag ausgegangen. Dieser hatte 1833 aus eigenem Antrieb 20.000 Gulden für den Ausbau des Realschulwesens bewilligt.
Nach einer Schilderung der allgemeinen Rahmenbedingungen sowie der Schulverhältnisse der 43 Orte mit einklassigen Lateinschulen verfolgt Tanja Blattner die Umsetzung des Schulentwicklungsplanes auf der Mikroebene der einzelnen Anstalten. In der sehr detaillierten Schilderung von Akteuren, Motiven und der Entscheidungsfindung vor Ort liegt eine der Stärken der Arbeit, die jedoch gleichzeitig auch eine Schwäche ist: Denn die Aneinanderreihung von 43 Einzelfällen auf fast 200 Seiten verlangt dem Leser einige Geduld ab. Aufgrund der Gliederung kommt es auch zu einigen Wiederholungen. Dieses Vorgehen ist nicht zuletzt der Quellenlage geschuldet. Die Akten des Kultusministeriums sowie des Studienrats als zentraler Aufsichtsbehörde für die höheren Lehranstalten Württembergs sind nämlich nicht überliefert; statt dessen stützt sich die Arbeit vornehmlich auf die in den 1840er Jahren angefertigten „Grundbeschreibungen“ der höheren Schulen.
In dem folgenden Kapitel fasst die Autorin freilich ihre Ergebnisse unter übergeordneten Gesichtspunkten zusammen. Insgesamt gelang nur in neun Fällen die Umwandlung einer einklassigen Lateinschule in eine Realschule; an elf weiteren Orten wurden Realschulen neben den fortbestehenden Lateinschulen errichtet. Dafür gab es mehrere Gründe, zu denen unter anderem die württembergische Schultradition zählte. Die Lateinschulen übernahmen nämlich in kleinen Gemeinden die Vorbereitung auf den Gewerbestand und hielten gleichzeitig die Option auf ein Hochschulstudium offen. Dieser Aspekt war im Hinblick auf den Priesternachwuchs vor allem für die katholischen Orte von Bedeutung, wo keine einzige Umwandlung gelang. Dabei spielte auch eine Rolle, dass die teilweise vorhandene Verbindung von höherem Lehr- und Kirchenamt dem entgegenstand, weil es keine Geistlichen mit abgelegter Reallehrerprüfung gab.
Ein wesentliches Entscheidungskriterium lag für die Kommunen in der Finanzierung, die sie – von geringen staatlichen Unterstützungen abgesehen – selbst aufzubringen hatten. Die Unterhaltung von Realschulen war teurer als die von Lateinschulen, was vor allem angesichts der durch das Gesetz von 1836 gestiegenen Kosten für das Volksschulwesen ins Gewicht fiel. Dementsprechend entschieden sich vornehmlich solche Orte für eine Realschule, an denen die Lateinschule in ihrer Existenz gefährdet war oder die aufgrund ihrer Größe und Funktion, etwa als Oberamtsstädte, einen erhöhten Bedarf an höherer Bildung hatten. Den katholischen Gemeinden schließlich erleichterte die Tatsache, dass sich die Lateinschulen hier vornehmlich in kirchlicher Trägerschaft befanden, die Neugründung von Realschulen.
Tanja Blattner zieht aus dieser Entwicklung eine ambivalente Bilanz. Einerseits wurde das von ihr als Kern des Schlayerschen Schulentwicklungsplanes herausgestellte Ziel, das Realschulwesen auf Kosten aller einklassigen Lateinschulen auszubauen, zwischen 1835 und 1848 klar verfehlt. Andererseits erhöhte sich im selben Zeitraum durch die Einrichtung von Realklassen an Lateinschulen und Gymnasien sowie durch die Gründung von Oberrealschulen die Zahl der Orte, an denen man eine realistische Schulbildung erhalten konnte, immerhin von 17 auf 69. Nimmt man zudem noch die in einem Ausblick behandelte „Erweiterungsphase“ von 1848 bis 1918 in den Blick, verschob sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gewichtung endgültig zugunsten der Realschulen. Im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage nach der Wirkung staatlicher Steuerungsversuche lässt sich demnach festhalten, dass das traditionelle Lateinschulwesen sich entgegen dem Reformvorhaben lange behaupten konnte. Als nicht beabsichtigter Effekt stellte sich statt des geplanten „Verdrängungsmodells“ eine „Doppelstrategie“ des Nebeneinanders von Real- und Lateinschulen ein.
Insgesamt liegt mit der Arbeit eine mit zahlreichen Tabellen und Abbildungen versehene Spezialstudie vor, die eine Reihe neuer Erkenntnisse über das württembergische Realschulwesen bietet. Durch die Konzentration auf die 43 einzelnen Schulen geraten jedoch einige wichtige Aspekte aus dem Blick, wie z.B. die Lehrinhalte der Realschulen und die Lehrerausbildung. Was diese Anstalten nun im Vergleich zu den Lateinschulen genau „modern“ und „innovativ“ machte, erfährt man beispielsweise nicht. Eine über die Landesgeschichte hinaus auf andere deutsche Staaten gerichtete Perspektive sowie die Berücksichtigung der allgemeinen bildungshistorischen Literatur hätte zudem die Einordnung des württembergischen Falls erleichtert.
EWR 5 (2006), Nr. 4 (Juli/August 2006)
Die erstrebte Umwandlung württembergischer Lateinschulen in Realschulen von 1835 bis 1948
Erfolge und Misserfolge eines der würtembergischen Schultradition zuwiderlaufenden Reformvorhabens des Innen- und Kultusministers Johannes von Schlayer
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress 2005
(494 S.; ISBN 3-89971-277-3; 62,00 EUR)
Sylvia Kesper-Biermann (Bayreuth)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sylvia Kesper-Biermann: Rezension von: Blattner, Tanja: Die erstrebte Umwandlung württembergischer Lateinschulen in Realschulen von 1835 bis 1948, Erfolge und Misserfolge eines der würtembergischen Schultradition zuwiderlaufenden Reformvorhabens des Innen- und Kultusministers Johannes von Schlayer. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89971277.html
Sylvia Kesper-Biermann: Rezension von: Blattner, Tanja: Die erstrebte Umwandlung württembergischer Lateinschulen in Realschulen von 1835 bis 1948, Erfolge und Misserfolge eines der würtembergischen Schultradition zuwiderlaufenden Reformvorhabens des Innen- und Kultusministers Johannes von Schlayer. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89971277.html