EWR 9 (2010), Nr. 2 (März/April)

Wolfgang Gippert / Petra Götte / Elke Kleinau (Hrsg.)
Transkulturalität
Gender- und bildungshistorische Perspektiven
Bielefeld: transcript 2008
(296 S.; ISBN 978-89942-979-4; 28,80 EUR)
Transkulturalität Transkulturalität boomt. Der (interkulturelle) Transfer ist in der deutschen historiographischen und erziehungswissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre zu einem beachteten Arbeitsfeld und methodologisch herausfordernden Ansatz aufgestiegen. In der Folge des Gesellschaftsvergleichs und der Beziehungsgeschichte wird dem Transferkonzept eine den Vergleich erweiternde und die Beziehung vertiefende Dimension zugeschrieben. Beeinflusst von Edward W. Said geht dieser Ansatz von der grundsätzlichen Existenz eines internationalen oder globalen Austausches von Ideen, Wissen, Strukturen, Modellen und Handlungsoptionen, einer permanenten Bewegung von Geben und Nehmen, Anleihe und Adaption, von Transkulturation bei der Konstituierung nationaler Kultur aus. Alle Kulturen sind in Folge oder als Produkt dieses permanenten Prozesses „ineinander verstrickt“ [1]. Der Intensität der theoretischen und empirischen Arbeiten in der Historiographie der letzten Jahre steht, wie die HerausgeberInnen des vorliegenden Bandes bemerken, eine eher mäßige Zahl von Forschungen in der Bildungsgeschichte gegenüber. Hier möchten die Beiträge des vorliegenden Bandes ansetzen und knüpfen dabei überwiegend an das Transkulturalitätskonzept von Wolfgang Welsch an [2]. „Kulturelle Homogenitätsmythen“ werden in Frage gestellt und sind u. a. Ausgangspunkt der Suche des ‚Eigenen‘ im ‚Fremden‘ sowie sich anschließender eigener (kulturstiftender) Prozesse (10 f.). Die bildungshistorische Perspektive wird dabei um die Genderperspektive erweitert, der ein Großteil der Beiträge verpflichtet ist.

Die insgesamt 15 Aufsätze des Bandes, der in vier Teile gegliedert ist, wurden im Wesentlichen auf der Tagung „Transkulturalität und Gender in bildungshistorischer Perspektive“ im Februar 2008 in Köln präsentiert. In der Einleitung und im ersten Teil (Intersektionalität und Critical Whiteness) werden von den HerausgeberInnen und den Autorinnen Gabriele Dietze, Katharina Walgenbach und Nicole Schröder theoretische Grundlagen von Transkulturalität entfaltet sowie die Berührungspunkte von Transkulturalität und (historischer) Genderforschung ausgelotet. Vor allem der theoretisch-methodische Diskurs zu den Potentialen des Konzepts Transkulturalität in der Einleitung entlastet die folgenden Beiträge mehrheitlich von längeren Auslassungen hierzu und lässt diesen damit viel Raum für die Ausbreitung der lesenswerten Fälle, Diskurse und Quellen aus dem langen 19. und frühen 20. Jahrhundert. Im zweiten Teil werden unter der Überschrift „Ambivalente Begegnungen“ Beispiele außereuropäischer Reise- und Missionstätigkeit präsentiert und analysiert. Anke J. Kattner analysiert zwei Reiseberichte von Francois Le Vaillant ins ‚innere Afrikas‘ (1790, 1794/95) und zeigt überzeugend, wie diese Texte „Zeugnisse für die Strategien […] der Konstruktion von Wissen“ sind (88). Pia Schmid und Elke Kleinau präsentieren zwei Protagonisten, die den nordamerikanischen Kulturraum im frühen 19. Jahrhundert erkundeten und beschrieben: Der Herrnhuter Missionar John Heckewelder (Schmid) wird anhand seiner differenzierten Darstellung der Delaware als (Mit-)Schöpfer des ‚edlen Indianer‘-Images vorgestellt; Herzog Carl Bernhard von Sachsen-Weimar-Eisenach (Kleinau) wird hingegen als ‚typisch‘ europäischer (zeitloser) Amerikareisender präsentiert, der in einem vor-toqueville‘schen Herumwandern die ‚neue Welt‘ beschrieb und bei dem sich „Zuversicht und Begeisterung“ über das ‚Land der unbegrenzten Möglichkeiten‘ letztlich in Zweifeln ob der besichtigten ‚Freiheit‘ in Amerika auflösten (139).
Der dritte Teil fasst vier Aufsätze zusammen, die die institutionelle Vernetzung und den Kulturtransfer thematisieren, wobei Schule und Frauen(bewegung) im Mittelpunkt stehen. Juliane Jacobi berichtet über Lehrerinnen an Schulen von deutschsprachigen Einwanderern und ihre Abgrenzungs- und Identifikationsprozesse in den USA bis 1918; Klaus Dittrich untersucht am Beispiel der republikanischen Grundschule Frankreichs und ihrer (Re-)Präsentation auf Weltausstellungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deren Bedeutung für den transatlantischen Ideen-, Wissens- und Institutionentransfer; Wolfgang Gippert präsentiert den deutschen Diskurs über die Frauenbildung in England im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und den belebenden Impuls der Erfahrung des ‚Anderen‘ für die Konstituierung, Formulierung und Legitimierung eigener (innovativer) Ansätze und Ziele im Bereich der deutschen Frauenbildung; Kerstin Wolff schließt hier an und zeichnet am Beispiel von Rosa Mayreder den Weg des Transfers und der Integration des englischen Abolitionismus in der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung bis ins 20. Jahrhundert nach.
Im abschließenden vierten Teil wird in vier Beiträgen der intermediäre Raum zwischen „Heimat und Fremde“ ausgeleuchtet, die Ambivalenz von ‚Ankommen‘ und ‚Bewahren‘ in Migrationsprozessen. Julia Hauser arbeitet am Beispiel der ‚Orientarbeit‘ der Kaiserswerther Diakonissen bis 1918 heraus, welchem Wandel sowohl ein tradierter, leitender Bildungsbegriff als auch die zu vermittelnden Weiblichkeitsvorstellungen unterlagen; Mareike König untersucht die deutschen Dienstmädchen in Paris um 1900 als „kulturelle Vermittlerinnen“ (237), deren Netzwerke, den Austausch mit den Arbeitgebern und ihre Abgrenzungs- sowie Identifikationsprozesse, die sowohl von Geschlecht und Status als auch von sprachlicher und nationaler Zugehörigkeit und vor allem von deutsch-französischer Konfrontation geprägt waren; Petra Götte präsentiert in einer fotografieanalytischen Spurensuche deutscher Auswanderer in die USA, wie sich in den (Familien-)Fotos gleichzeitig „Abschied von der Tradition“ (271) und die Erinnerung an das ‚Alte‘ lokalisieren lassen; Susanne Heyn untersucht die Jugendarbeit der deutschen Kolonialbewegung nach dem Ersten Weltkrieg und stellt dar, wie diese sich – am Beispiel von Heinz Lenkwarts Bühnenstück „Unvergessene, ferne Heimat“ – als Bewahrerin und Zukunft von ‚Deutschtum‘ (im Ausland) (re-)präsentierte.
Den Dissertations- und sonstigen Qualifikations- und Forschungsprojekten, die in Kurzform von einigen AutorInnen in dem Band vorgestellt wurden, wünscht man gutes, schnelles Gelingen, damit die Forderung der HerausgeberInnen nach einem Mehr an Arbeiten, die sich dem Transkulturalitätskonzept verpflichtet sehen, erfüllt werde und den (hohen) Erwartungen an dessen Potential (empirische) Ergebnisse gegenüber gestellt werden. Der Band zeigt, dass eine Reihe von viel versprechenden Arbeiten in dieser Richtung auf dem Weg ist bzw. bereits abgeschlossen ist, deren monografische Präsentation aber noch aussteht. Die Diskussion um die Breite und den Stellenwert des transkulturellen Ansatzes in der (deutschen) bildungsgeschichtlichen Forschung wird aber bereits jetzt durch den Band wesentlich und nachdrücklich inspiriert.

[1] Said, Edward W. (1994): Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt a. M.: S. Fischer, S. 30.
[2] Welsch, Wolfgang (1995): Transkulturalität. Die veränderte Verfasstheit heutiger Kulturen. In: Sichtweisen. Die Vielfalt der Einheit. Weimar: Stiftung Weimarer Klassik, S. 83–122.
Thomas Koinzer (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thomas Koinzer: Rezension von: Gippert, Wolfgang / Götte, Petra / Kleinau, Elke (Hg.): Transkulturalität, Gender- und bildungshistorische Perspektiven. Bielefeld: transcript 2008. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89942979.html