EWR 6 (2007), Nr. 4 (Juli/August 2007)

Jenny LĂĽders
Ambivalente Selbstpraktiken
Eine Foucault´sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs
Bielefeld: transcript 2007
(277 S.; ISBN 3-89942-599-5; 28,80 EUR)
Ambivalente Selbstpraktiken „Ambivalente Selbstpraktiken. Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs“ lautet der Titel der Dissertation, die Jenny Lüders vor kurzem in der Hamburger Reihe „Theorie Bilden“ beim transcript Verlag publiziert hat. Es handelt sich bei dieser Arbeit um eine bildungstheoretische Selbstverständigung im Anschluss an das Denken Michel Foucaults, die in einem weiteren Schritt einer empirischen ‚Überprüfung’ unterzogen wird.

In der Einleitung der Arbeit situiert die Autorin ihr eigenes Vorhaben: Wie schon Masschelein und Ricken [1] vertritt sie die Auffassung, dass „Bildung ein Konzept darstellt, dessen Implikationen von Individualität, Subjektivität und Macht gerade im gegenwärtigen Kontext ausgesprochen vorsichtig und kritisch behandelt werden müssen“ (14); gegen eine in der Erziehungswissenschaft immer wieder erstarkende Stimme, den Bildungsbegriff zu verabschieden, geht sie jedoch davon aus, dass unter der Bezugnahme auf Michel Foucaults Konzepte der „Macht“ und der „Genealogie“ der Bildungsbegriff eine kategoriale Neujustierung erfahren kann.

Im ersten Teil ihrer Arbeit bereitet Lüders den Weg für eine solche Neujustierung, indem sie das Diskurspanorama der Bildungstheorie auf Problempunkte hin untersucht, die gegenwärtig die Diskussion bestimmen. Diese Bestandsaufnahme soll einen heuristischen Rahmen bieten, um die bildungstheoretische Lektüre der foucaultschen Schriften anzuleiten und also sicherzustellen, dass die Lektüre auf die sich gegenwärtig stellenden Herausforderungen bildungstheoretischen Nachdenkens bezogen bleibt. Nach Lüders kreist die Bildungstheorie besonders um die folgenden fünf Problemherde: das Bildungssubjekt, das Verhältnis von Bildung und Gesellschaft, das Verhältnis von Bildung und Normativität, die Prozessstruktur von Bildung sowie das Verhältnis von Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung.

Das Verständnis von Bildung als menschlicher Selbstbestimmung hänge in der klassisch bildungstheoretischen Diskussion eng mit der Vorstellung eines Bildungssubjekts im Sinne einer selbsttransparenten und autonomen Instanz zusammen, die einen Bildungsprozess durchlaufe. Diese Vorstellung erscheine vor dem Hintergrund heutiger Erfahrungen von Fragmentarisierung, Pluralisierung etc. fragwürdig, so dass aktuelle bildungsphilosophische Studien nach dem Ort der Differenz im Individuum, nach der schwierigen Verschränkung von Autonomie und Heteronomie, nach den Herausforderungen durch Alterität sowie nach der Konstitutivität der Sprache für Subjektivität fragen (müssten).

Im Abschnitt über Bildung und Gesellschaft entwickelt Lüders, dass Bildung wesentlich auf die sich gegenwärtig stellenden Herausforderungen der Gesellschaft bezogen bleibe, wobei Bildung zugleich als eine Zäsur gegenüber diesen Herausforderungen gedacht werde: Qua Reflexion setze sich das Bildungsdenken kritisch in ein Verhältnis zu den gegenwärtig gestellten Forderungen und könne gleichwohl nicht abgehoben von der jeweiligen kulturhistorischen Lage Sinn und Maß von „Bildung“ bestimmen.

Hinsichtlich der dritten Dimension „Bildung und Normativität“ wird die Unmöglichkeit einer allgemein pädagogischen Grundlegung aufgerufen, die eine Wendung von Normativität zu Kritik impliziere (Jörg Ruhloff, Dietrich Benner), wobei wiederum die Kritik einen Horizont alternativer Denk- und Handlungsweisen eröffne. Ähnlich gelagert sieht Lüders die Bemerkungen Hans-Christoph Kollers zu einer „Minimalethik“ und die Alfred Schäfers zur Problematik der Identifikation in ihren Anschlüssen an Lyotard und Adorno; in beiden Fällen führe die Unmöglichkeit einer Auflösung bzw. einer dem Gegenstand gerecht werdenden Identifizierung zu einer Anerkennung von Widerstreit und Differenz (48ff.).

Im Rahmen der Prozessstruktur von Bildung erinnert Lüders an die Offenheit und Unbestimmbarkeit des Bildungsgeschehens, welche vor dem Hintergrund neuerer theoretischer Einsätze hin zu einer Diskontinuität radikalisiert worden seien. Hier stelle sich allerdings die Frage: „Wie kann ein ‚Anderswerden theoretisch erfasst werden, wenn es weder als Schöpfung noch als Herstellen, weder vom Ursprung noch vom Ziel her verstanden werden darf? Mit anderen Worten: Was ist eigentlich ein Bildungsprozess und was lässt sich über ein solches Geschehen noch begründet sagen? (54) In Anlehnung an Koller und Kokemohr schlägt Lüders vor, die Dimensionen von prozessualer Veränderung im Sprachgeschehen zu verorten. Die Perspektive auf Bildung verschiebe sich von Bewusstseinslagen zu sprachlichen Wendungen, die andere mögliche Selbst- und Weltverhältnisse figurieren könnten.

Damit ist auch der Blick auf eine qualitativ ausgerichtete Bildungsforschung gewonnen, die sich allerdings angesichts der Unbestimmtheit bzw. der radikalen Diskontinuität des Bildungsgeschehens großen Herausforderungen gegenüber sehe. Da sich aber das Bildungsdenken nicht in einer ‚Postulatepädagogik’ (Gruschka) erschöpfen dürfe, sei eine empirische Klärung des Bildungsgeschehens als unverzichtbar anzusehen. Im Anschluss an die qualitativ empirischen Studien Kollers und Schäfers versucht Lüders auf eine Forschungsstrategie aufmerksam zu machen, welche die empirische Perspektive auf Bildungsprozesse unter die bereits genannte Diskontinuität und Nicht-Identifizierbarkeit stellt.

Diese erste nicht als Rekonstruktion gemeinte, sondern vielmehr als ‚nach vorne gerichtete’ Bestandsaufnahme besticht durch ihre klare und selbstbewusste Gedankenführung. Zugleich macht sich diese Bestandsaufnahme in unterschiedlichen Hinsichten angreifbar: Aufgrund ihrer holzschnittartigen Darstellung werden wichtige Differenzen nicht aufgenommen, so z.B. hinsichtlich des Begriffs der Normativität, der als „Sein-sollen“ vom Problem der Legitimität, d.h. der quaestio iuris (Ruhloff) unterschieden werden sollte. Außerdem scheint die Dimensionierung, wie sie hier erfolgt, eine zu starke Homogenisierung unterschiedlicher Ansätze mit sich zu bringen: Wenn die Unmöglichkeit pädagogischer Letztbegründung im Sinne einer kritischen Aufgabenstellung noch unter die Maßgabe einer „Pädagogik als Wissenschaft“ gestellt wird (Ruhloff, Benner), so scheint sich hier eine wichtige Differenz zu einem Denken anzukündigen, das von einer radikalen Pluralität der Diskurse und damit auch der Rationalitäten ausgeht. Diese Nivellierung mag für den Entwurf eines heuristischen Rahmens nicht so entscheidend sein; gleichwohl werden an dieser Stelle unterschiedliche bildungsphilosophische Positionierungen deutlich, die mit einer bildungstheoretischen Lektüre Foucaults mehr oder weniger vereinbar sind.

Das zweite Kapitel des ersten Teils versucht sich unter Bezugnahme auf die o.g. Dimensionierung an einer Neufassung des Bildungsbegriffs im Anschluss an Michel Foucault. Zunächst wird nach einem Durchlauf durch Foucaults Arbeiten anhand der drei Achsen „das diskursive Subjekt“, das „Subjekt der Macht“ und „das Subjekt der Ethik“ die Auffassung zurückgewiesen, Foucault sei ein Denker der Unterwerfung und Determination. Dagegen wird überzeugend herausgestellt, dass Foucault sich besonders der gesellschaftlichen und historischen Bedingtheit von Subjektivierungsformen zugewandt hat und seine Arbeiten daher den Horizont eröffnen, die Wandlungen menschlicher Selbstverhältnisse und Praktiken zu untersuchen. In der Weiterentwicklung dieses Gedankens liegt nach Lüders auch das bildungstheoretische Potential der foucaultschen Arbeiten: Dessen zentrales Interesse am „Subjekt“, insbesondere seine Studien zur Gouvernementalität, ermöglichen eine vertiefende Reflexionen zum „Subjekt der Bildung“, da Autonomie und Selbstbestimmung als Bestandteile von modernen Führungstechniken lesbar werden. Dieser Sachverhalt ist – wie Jenny Lüders selbst bemerkt – in der bildungstheoretischen Diskussion nicht neu; er gewinnt allerdings vorliegend (wie auch durch neuere gouvernementalitätstheoretische Studien) stärkeres systematisches Gewicht und an Konkretion. Auch für die zweite Dimension „Bildung und Gesellschaft“ erweise sich Foucaults Machtanalytik als produktiv, da sie die soziokulturellen Bedingungen in postfordistischen Gesellschaften zu analysieren erlaube.

Wie verhält es sich nun mit dem Anspruch einer Neufassung des Bildungsbegriffs, der allein auf der Grundlage der Feststellung, dass Foucault mit dem gegenwärtigen bildungstheoretischen Diskurs hinsichtlich der Problematisierung autonomer Subjektivität übereinstimmt, nicht als eingelöst gelten kann? Jenny Lüders verfolgt ihr ehrgeiziges Unternehmen weiter: Im Rückbezug auf Foucaults Verständnis von Kritik als Haltung versucht sie eine bildungstheoretisch bedeutsame Perspektive auf Selbstpraktiken zu entwickeln, die eine Diskontinuität im Verhältnis des Selbst zu sich selbst, ein „Anders-Werden“ implizieren. Hier gelingt der Autorin nicht nur, in einer durchdachten und innovativen Weise Foucaults Verständnis von „Genealogie“ und „Kritik“ auszuarbeiten. Weil ein bildungstheoretischer Zugang nicht einfach vorausgesetzt wird, können an dieser Stelle die weiter gehenden systematischen Schwierigkeiten des Bildungsdenkens auf den Punkt gebracht werden: Die Kritik nach Foucault sei eine experimentelle und ortlose Praxis, die zuletzt eine Ambivalenz zwischen Subjektivierung und Entsubjektivierung mit sich bringe, die nicht zu tilgen sei. In Lüders’ Worten: „Entsubjektivierung ist nicht nur unwahrscheinlich, sondern auch in einer Ambivalenz befangen, die eine einfache Identifizierung unmöglich macht“ (139). Die Ambivalenz behält zugleich die Möglichkeit von Kritik wie die Unmöglichkeit einer Instanz ein, welches sich als wahres Selbst bestimmen könnte. Die Unfähigkeit, über Entsubjektivierung zu befinden, zeigt die bildungsphilosophische Relevanz des Identifikationsproblems in seiner ganzen Schärfe an. Dieses Problem wird in vielen Studien zur theoretischen wie empirischen Erforschung von „Bildung“ nur unzureichend wahrgenommen.

Die vorliegende Dissertation betritt also gemessen am erziehungswissenschaftlichen Mainstream Neuland. Folgt man der hier aufgedeckten Irritation, dann ergeben sich weitere Fragen, z.B. nach den wissenschaftstheoretischen Konsequenzen der Genealogie für die Bildungstheorie: Hat eine Formulierung wie die nach dem „tatsächlichen“ Widerstand gegen die Bedingungen der eigenen Unterwerfung noch einen Platz, wenn man mit Foucault argumentiert? (132) Wenn Lüders an dieser Stelle mit Judith Butler den Begriff der „Wiederholung“ im Sinne einer radikalen Diskontinuität einführt, einen Begriff, durch den das „Anders-werden“ dimensionierbar wird, dann stellen sich der Rezensentin mindestens zwei Fragen: 1. Kann der psychoanalytische Hintergrund, der Butlers Relektüre Foucaults anleitet, wirklich außen vor gelassen werden, wenn Butler darauf hinweist, dass das Scheitern der Subjektkonstitution in der symbolischen Ordnung (Lacan) dem Subjekt unverfügbar sei? [2] 2. Fungiert der Rekurs auf eine Seinsungewissheit, die als durch subjektivierende Praktiken verschattet und durch entsubjektivierende Praktiken aufgedeckt wird (Lüders spricht hier von der Freigabe eines Blicks! 141) als transzendentaler Gegenhalt, der nun doch eine anthropologische Seinsformel liefert, auf die hin ein Bildungsgeschehen identifizierbar wird? Jenny Lüders schließt dieses Kapitel ohne Schließung: Die Ambivalenz bleibt als Unruheherd der nun folgenden Auswertung der empirischen Untersuchung eines Weblogs erhalten.

Im empirischen Teil der Untersuchung wird zunächst die methodische Herangehensweise an das Material entwickelt. Auch hier erweist sich diese Arbeit als originell und produktiv: Aus Foucaults Diskursanalyse, seiner Machtanalytik und seine Analysen über Selbstpraktiken wird ein methodisches Raster aus Fragen entwickelt, die zusammen genommen Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses eines Weblogs herauszuarbeiten erlauben. Die Ausführungen zur Methode sind einerseits gerahmt durch eine Einführung in Weblogs und die Frage, inwiefern diese Online-Tagebücher als Raum für Bildungsprozesse gesehen werden können. Andererseits schließen die methodischen Überlegungen mit einer Reflexion der methodischen und methodologischen Grenzen, wobei wiederum das Problem der „Realität von Bildung“ (185) in den Vordergrund rückt: Selbst wenn das erhobene Material nicht als die Wirklichkeit repräsentierend, sondern konstituierend gedacht werde, werde die Frage nach der Möglichkeit, „Bildung“ im Material auszumachen, virulent. Jenny Lüders trägt diesbezüglich erste Antwortversuche zusammen, die in naher Zukunft weiter ausgearbeitet werden müssen.

Die Auswertung der empirischen Untersuchung erfolgt dann im letzten großen Kapitel. Mittels ihrer methodischen Rasterung arbeitet Lüders vier Figuren von Welt- und Selbstverhältnissen in einem Weblog heraus, die sie auf ihr Wandlungspotential hin befragt: „[M]öglicherweise lassen sich in der Untersuchung dieser Selbstpraktiken Momente einer experimentellen Grenzpraxis erkennen, die einen systematischen Bezug auf die Struktur, Voraussetzungen und Bedingungen von Bildungsprozessen möglich erscheinen lässt“ (238). Mit dem Ausdruck „experimentelle Grenzpraxis“ meint Lüders Versuche einer „Selbstberührung“ der Individuen, „die ‚bildend’ darauf verzichten, die Seinsungewissheit […] zu begreifen und zu fixieren“ (ibid.). Wird mit einem solchen Rekurs auf eine Berührung, die das Individuum in ein (authentisches?) Verhältnis zu sich selbst bringt, Foucaults genealogische Perspektive (zwischen Strategie und Fiktion) unterlaufen? Welche Antwort auf diese Frage erlaubt die abschließende Analyse eines Einzeleintrags, der vermittelt durch den Wechsel zwischen (abgewandelten) Zitaten und Kommentierungen eine strategische und Differenz erzeugende Positionierung zur eigenen Figuration der Webloggerin enthält?

Die Studie von Jenny Lüders wirft viele Fragen auf. Wer sich in der Materie auskennt, wird die Bedeutung erkennen, die darin liegt, diese Fragen allererst aufzuwerfen und auszuarbeiten. Es ist nicht nur die Bereitschaft, sich den wirklich herausfordernden Problemen heutiger Bildungstheorie zu stellen und damit gezwungen zu sein, mit den eigenen Überlegungen immer wieder neu einzusetzen, die diese Studie so ausgesprochen lesenswert macht. Eher selten werden klassische Theoriebestände der Bildungstheorie so überzeugend in eine theoretisch innovative Linie überführt, die sich gleichwohl der Selbstkritik nicht verschließt. Dabei wird zugleich der wichtige Schritt unternommen, die Kluft zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung zu überwinden. Dies macht die Arbeit zu einer Pflichtlektüre nicht nur für Erziehungswissenschaftler, die sich (mit oder ohne Bezug auf „Bildung“) mit Fragen der Subjektkonstitution befassen, sondern auch für Bildungsforscher. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Buch die ihm angemessene Aufmerksamkeit in der gegenwärtigen bildungstheoretischen Diskussion erfährt.


[1] Masschelein, Jan/ Ricken, Norbert (2003): Do we (still) need the concept of Bildung? In: Journal of Philosophy of Education 35, Nr. 2, 139-154.

[2] Butler, Judith (2001): Subjektivation, Widerstand, Bedeutungsverschiebung. Zwischen Freud und Foucault. In: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, bes. 94.
Christiane Thompson (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: LĂĽders, Jenny: Ambivalente Selbstpraktiken, Eine Foucault´sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs. Bielefeld: transcript 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 4 (Veröffentlicht am 26.07.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89942599.html