EWR 6 (2007), Nr. 1 (Januar/Februar 2007)

Paul Mecheril / Monika Witsch (Hrsg.)
Cultural Studies und Pädagogik
Kritische Artikulationen
Bielefeld: Verlag transcript 2006
(317 S.; ISBN 3-89942-366-6; 28,80 EUR)
Cultural Studies und Pädagogik In der „Verschränkung eines analytischen Zugangs zu Alltagspraxis mit intellektuellem Engagement“ (11) sehen die Herausgeber des vorliegenden Bandes das Anliegen der Cultural Studies (CS). Sie kennzeichnen die CS als „intellektuelles Feld“ (9) und „politisches Projekt“ (11) und verstehen ihr Buch als spannungsvolle Eröffnung einer pädagogischen Auseinandersetzung, die im deutschsprachigen Raum bisher kaum stattgefunden hat. Dabei ergibt sich die vielleicht spezifisch deutsche Schwierigkeit im Umgang mit Kritik und mit der Konzeption einer kritischen Praxis, weshalb Mecheril und Witsch von einer „inhaltlich zurückgenommene(n) Haltung von ‚Kritik’“ sprechen (12). Sie reagieren damit auf eine Besetzung des Kritikbegriffs im Sinne einer Entlarvung des Falschen und stellen dem eine „reflexiv gebremste(.) und enthaltsame Variante der Kritik, eine Art negative Suchperspektive“ gegenüber (12). Das Fragwürdigwerden von Kritik durch die Rezeption kritischer Pädagogik(en) scheint mir eines der Motive zu sein, das die vorliegenden Beiträge mehr beschäftigt als der den CS inhärente Kulturbegriff, der offen bleibt, ohne beliebig zu sein. Wenn Harm Paschen in einem den Band abschließenden Kommentar fragt: „Können kritische Diskurse auch selbstkritisch sein oder selbstreflexiv?“ (310), dann spiegelt sich darin der in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft vorherrschende undialektische Kritikbegriff, dem eine Verdrängung der älteren Kritischen Theorie zugrunde liegt. Das Kommentieren ist eine Besonderheit des Bandes, und wenn Paschen die Form des Kommentars als „Überfluss gegenüber einer Selbstgewissheit“ kennzeichnet (295), so ist das im besten Sinne kritisch. Alle Beiträge werden von einem über die Ränder der Texte tretenden Kommentar begleitet, den Norbert Meder verfasst hat und der eine den CS angemessene Praxis des Widerstreitens, Hinzufügens und des Unabschließbaren realisiert.

Rainer Winter rekonstruiert die Entstehungsbedingungen der Cultural Studies aus dem „Milieu der Erwachsenenbildung“ im Großbritannien der 50er Jahre (21), eng verbunden mit der „workers’ education“ und in Institutionen entwickelt, die einen alternativen intellektuellen Raum zur Universität eröffneten. Gerade in dieser geschichtlichen Rekonstruktion zeigt sich die aktuelle Brisanz der CS-Perspektive im Zusammenhang gegenwärtiger Formierungen von Studiengängen, bei denen Kritik suspendiert und Reflexion als „Bedenkenträgerei“ abgetan wird. Winter geht auf das Birmingham Centre for Cultural Studies ein und betont die Ausrichtung der CS auf soziale Transformation. Als kennzeichnend für das methodische Selbstverständnis in den CS hebt er die „Selbstthematisierung“ der Forschenden hervor, die sich nicht länger als unabhängige Beobachter, sondern als „unterstützende(.) Mitspieler“ sehen (40). Ähnliche Ansätze wurden in der standpunktbezogenen feministischen Sozialwissenschaft entwickelt, auf die in keinem der Beiträge Bezug genommen wird.

Einem klassischen Feld der CS widmet sich Andreas Hepp, der die Globalisierung der Medien unter Gesichtspunkten transkultureller Kommunikationsforschung betrachtet. Kontextualisierung und die Radikalisierung von Differenz sieht er als Ansatzpunkte, um globalisierte Medien quer zu Nationalkulturen und in Abgrenzung von einem universalistischen Wissenschaftsverständnis zu betrachten. Wie schwierig das umzusetzen ist, zeigt sich in dem Beitrag selbst, der zwar nicht nationale, aber doch territorial bezogene kontinentale Kulturen zugrunde legt, indem er von „australischer“ bzw. „asiatischer“ Perspektive und von „lateinamerikanischen“ Traditionen spricht. Auch wiederholt Hepp dualistische Spaltungen –, wenn auch in selbstkritischer Absicht – wenn er den CS bescheinigt, sie gingen nicht mehr von einer „westlichen Vorstellung“ von Entwicklung aus (59). Dabei sieht es so aus, als sei man immer auf der richtigen Seite, wenn man „den Westen“ kritisiert, der genau dadurch in universalisierender Weise konstruiert wird. Vielleicht liegt darin eine der Aufgaben der CS – den eigenen Diskurs über den „Westen“ unter die Lupe zu nehmen. Durch die CS sieht Hepp „neue Formen der Kritik“ auftauchen (61), die bei „lokalen Handlungsmöglichkeiten“ ansetzen. Diese grenzt er ab von einer „durch Besitzverhältnisse begründete(n) Medienkritik“, wobei es mir unangemessen erscheint, Adornos und Horkheimers Begriff der „Kulturindustrie“ für eine eindimensionale Medienkritik verantwortlich zu machen. Eher wäre nach der Verdrängung der Dialektik durch die Rezeption des Kulturindustrie-Konzepts zu fragen. Zudem schließt ein ökonomie-kritischer Zugang nicht aus, sich auf lokale Kontexte und Handlungsperspektiven zu beziehen. Die Ökonomie des Kulturellen und eine zunehmende Kulturalisierung des Ökonomischen können erst ins Blickfeld rücken, wenn die Abwehr materialistischer Denkweisen überwunden wird.

Im Unterschied zu den anderen Beiträgen versucht Karin Amos nicht, die CS auf die Pädagogik zu beziehen, sondern analysiert Traditionen des Pädagogischen mit Instrumentarien der CS. Dazu setzt sie sich mit dem seit dem 18. Jhd. entwickelten pädagogischen Gedankengut des Rettens und Erlösens auseinander, das eng mit Normalisierung und Disziplinierung verbunden ist und die Ausschlüsse produziert, die es vorgibt, durch Integrationsmaßnahmen zu beseitigen. Anhand der Analyse eines Films aus den 50er Jahren zeigt sie, dass „Ausschluss als individuelles Versagen rationalisiert wird“, um das Gemeinwesen funktionsfähig zu machen (107). Damit ist ein aktuelles Phänomen angesprochen, dessen Kontinuität Amos anhand pädagogischer Rettungsphantasien historisch rekonstruiert. Wie genau dieses Phänomen systematisch verkannt wird, macht Sven Sauter deutlich, der die „verpasste Begegnung“ zwischen den CS und der deutschsprachigen Pädagogik (111) anhand der Rezeption einer Studie von Paul Willis von 1977 darstellt. Während Willis oppositionelle Formen der (britischen) Arbeiterkultur in der Schule als kulturelle Prozesse zur Reproduktion der Gesellschaftsordnung analysiert, greifen deutschsprachige Erziehungswissenschaftler 1991 seine Ergebnisse auf, um Prozesse der „Benachteiligung“ zu betrachten. Sauter sieht hier ein tief greifendes Missverständnis, durch das die Bedeutung der kulturellen Dimension verkannt wird, indem es „jugendliche Außenseiter“ in eine reine Position des Opfers rückt. Willis’ Ansatz, die Struktur der Schule und des herrschenden Lehr-Lern-Paradigmas im Kontext kapitalistischer Klassenvergesellschaftung wahrzunehmen, kommt hier offensichtlich überhaupt nicht an. Die Benachteiligungsperspektive verstellt die dialektische Betrachtung der kulturellen Ebene. Deutlich wird an diesem Beitrag ein spezifisches Problem der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft, Widersprüche konzeptionell einzubeziehen.

Auf die politische Reproduktion von Ungleichheit kommt Ana Laura Gallardo Gutiérrez zu sprechen, wenn sie den Umgang des mexikanischen Erziehungssystems mit Differenz und Integration thematisiert. Die widerstreitenden Visionen von Gleichheit und Ethnizität repräsentieren beide eine imaginierte Reinheit, die die kulturelle Dimension innerer Heterogenität ausschließt. Implizit führt Gutiérrez einen nicht-identifikatorischen Kulturbegriff ein, der die Geschichte kolonialer Ideologie reflektiert. Auch eröffnet sie für die hiesige Debatte um interkulturelle Erziehung eine interessante Korrespondenz. In diesem Sinne – ein Gespräch zu eröffnen und sich auf das Sprechen anderer einzulassen – verstehe ich auch Alicia de Albas Beitrag zum „kulturellen Kontakt“. Sie beschreibt diesen als eine „epistemische, theoretische und politische Haltung“ gegenüber den „kulturellen Beziehungen zwischen Völkern, Gruppen und sozialen Subjekten“ (189). Auf ganz eigensinnige Weise realisiert sie die für die CS beanspruchte Besonderheit der Selbstthematisierung, wenn sie persönliche Erfahrungen in internationalen akademischen Beziehungen als kulturellen Kontakt reflektiert.

Auf eine Ausprägung der CS als postkoloniale Kritikform beziehen sich Kien Nghi Ha und Markus Schmitz, die die national-kulturelle Konzeption deutscher Integrationskurse untersuchen. Dabei wird Integration zum „Zwang zur sekundären Sozialisation“ (233). Dennoch bleibt die Anwendung von Integrationskursen als „nationalpädagogisches Machtinstrument“ (234) zwiespältig. Denn die Integration von Ausländern behauptet und widerlegt zugleich den nationalen Diskurs. Sie macht deutlich, dass nationale Identität performativ hergestellt wird und angeeignet werden kann. Genau hier kann sich eine „subalterne Handlungsmacht“ entfalten (251), was die Autoren auf der Grundlage postkolonialer Analyse herausarbeiten. Durch einen Perspektivenwechsel postulieren sie eine alternative Integrationsaufgabe des Staates: die „antirassistische Transformation der Lebensbedingungen für marginalisierte Gruppen“ (254). Daraus ergeben sich neue Sichtweisen auf Integration als Anforderung an die Dominanzgesellschaft selbst.

Den Beiträgen ist gemeinsam, dass sie mit einem weiten Kulturbegriff arbeiten und das Kulturelle der CS in sozialen Zusammenhängen verorten. Dabei bleibt die ökonomische Grundierung dieser Verhältnisse eher implizit und bildet kein eigenes Analysefeld. Ganz anders ist dies in dem Beitrag von Valerie Scatamburlo-D’Annibale und Peter McLaren, der die Vernachlässigung der Klassenkategorie in den Differenzdiskursen der Gegenwart untersucht und eine marxistische Analyse einfordert. Die Verfasser fordern die Auseinandersetzung mit der totalisierenden Macht des Kapitals, innerhalb dessen Kultur nicht das Andere ist, sondern Teil einer Klassenherrschaft. Insbesondere kritisieren sie die kategoriale Gleichsetzung von „race-class-gender“, die mit dazu beitrage, die politische Ökonomie des Kapitals auszublenden. Der Text ist in Analyse und Engagement aufschlussreich und liegt quer zur hiesigen entpolitisierten Erziehungswissenschaft. Dennoch kommt es auch darin zur Verdrängung von Widersprüchen, wenn gegenwärtigen antikapitalistischen Gruppierungen und Globalisierungsgegnern eine Transformation der Verhältnisse zugetraut wird. Demgegenüber könnte durch Perspektiven der CS eine Analyse der in diesen (in sich heterogenen) Bewegungen gepflegten Feindbilder und Selbstbilder erfolgen. Vielleicht läge genau darin der Versuch, die von Mecheril und Witsch gemeinte „negative Suchperspektive“ einzunehmen, die auch die eigenen Weltbilder betrifft.

Die unterschiedlichen Beiträge zeigen Arbeitsfelder und Perspektiven auf, Pädagogik mit Cultural Studies zu betreiben und machen deutlich, dass es sich hier um Gegenstände handelt, in die ich bereits involviert bin, wenn ich mich ihnen zuwende.
Astrid Messerschmidt (Darmstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Messerschmidt: Rezension von: Mecheril, Paul / Witsch, Monika (Hg.): Cultural Studies und Pädagogik, Kritische Artikulationen. Bielefeld: Verlag transcript 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 1 (Veröffentlicht am 30.01.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89942366.html