EWR 5 (2006), Nr. 3 (Mai/Juni 2006)

Thorsten Kubitza
Identität – Verkörperung – Bildung
Pädagogische Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners
Bielefeld: transcript 2005
(351 S.; ISBN 3-89942-318-6; 28,80 EUR)
Identität – Verkörperung – Bildung Bei dem von Thorsten Kubitza vorgelegten Band handelt es sich um eine (in einzelnen Teilen überarbeitete) Dissertationsschrift. Sie weist einen systematischen und einen theoriehistorischen Schwerpunkt auf: Es geht einerseits darum, den Zusammenhang von Leiblichkeit und Identität unter einer – u.a. – bildungstheoretischen Perspektive zu diskutieren. Das begriffliche Handwerkszeug hierzu gewinnt der Autor aus einer umfassenden Rekonstruktion und Diskussion zentraler Aspekte der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners, die etwa die Hälfte des Textes beansprucht. Ausgehend von der Ansicht, dass das in seinen verschiedenen Ausgestaltungen zwar heterogene, dennoch aber seit den 1970er Jahren in der Erziehungswissenschaft fest etablierte Konzept der Identität und mit ihm auch das erziehungswissenschaftliche Verständnis von Bildung auf eine kognitivistische Perspektive eingeengt worden sei, besteht das Erkenntnis leitende Interesse der Untersuchung darin, Plessners Anthropologie als eine „differenztheoretische Beschreibungsmöglichkeit von Subjektivität und Bildung“ vorzustellen, die „quer zu der Alternative von ‚Identität’ und ‚Nicht-Identität’“ liegt (15). Diese Alternative sieht der Autor in Helmuth Plessners „Anthropologie des Zwischen“ angelegt, in der bekanntlich das Moment der Leiblichkeit bzw. Körperlichkeit eine zentrale Rolle einnimmt.

Mit dieser Fragestellung bewegt sich der Band im Schnittfeld zweier aktueller Diskussionslinien: erstens der anhaltenden Debatte um den Begriff der Identität, hier insbesondere der neueren Frage nach dem Zusammenhang von Leiblichkeit und Identität, und zweitens der pädagogisch-anthropologischen Frage nach den körperlichen und vorreflexiven Bedingungen und Aspekten von Bildung. Vor diesem Hintergrund richtet sich die Schrift an die erziehungswissenschaftliche bzw. an philosophischer Anthropologie interessierte Fachöffentlichkeit; sie hat daher keinen einführenden Charakter. Auf dem Niveau etwa von philosophisch-anthropologischen Haupt- und Oberseminaren ist der Band allerdings durchaus verwendbar und, um dies vorwegzunehmen, zu empfehlen.

Die Untersuchung gliedert sich in vier Hauptkapitel (plus einer Einleitung sowie einem kurzen Abschlussresümee), die jeweils einer klaren Fragestellung folgen, was wesentlich dazu beträgt, die nicht geringe Komplexität dieser überwiegend konzeptionell-begriffstheoretisch orientierten Arbeit handhabbar zu machen. Ausgehend von der „problematischen Allianz“ von Anthropologie und Pädagogik (Kap. I, wobei hier eher der engere Fokus auf Grundaspekte des Denkens Plessners sowie seiner pädagogischen Rezeption im Zentrum steht) und einer Problematisierung des Identitätsbegriffs als einer „kognitiv restringierten“ pädagogischen Leitkategorie (Kap. II) werden zentrale Begriffe und Thesen der Plessnerschen Anthropologie einer eingehenden Rekonstruktion und Diskussion unterzogen, die in drei Unterkapiteln mit einem Umfang von insgesamt ca. 150 Seiten etwa die Hälfte der Untersuchung ausmacht (Kap. III). Die auf diesem Weg gewonnenen leib- und differenztheoretischen Positionen werden anschließend unter der im Plessnerschen Denken zentralen Konzeption der „Verkörperung“ zusammengeführt, die als Leitidee einer leibzentrierten Bildungstheorie vorgeschlagen wird. (Kap. IV). Der Band schließt mit einem in vier Abteilungen (Schriften Plessners, Sekundärliteratur, Titel zur Philosophischen und Pädagogischen Anthropologie, weitere Literatur) untergliederten nützlichen Literaturverzeichnis.

Das Kapitel I trägt den Titel „Anthropologie und Pädagogik – Skizzen einer problematischen Allianz“. Wie bereits angemerkt handelt es sich jedoch nicht um die breit angelegte Betrachtung, die der Titel verspricht. So werden andere Vertreter der Philosophischen Anthropologie nicht in die Betrachtung einbezogen; auch die Behandlung der Historischen Anthropologie, die auf die erziehungswissenschaftlichen Diskussionen der letzten zwei Dezennien von maßgeblichem Einfluss war, wird – auf zwei Textseiten – eher erwähnt als diskutiert. Letzteres ist besonders bedauerlich; denn im Kontext der Historischen Anthropologie wurden zentrale anthropologische Konzeptionen wie die des Körpers, der Aisthesis, der Alterität, der mimetischen und performativen Aspekte von Bildungsprozessen kritischen Revisionen und Dekonstruktionen unterzogen. Man könnte wohl davon ausgehen, dass einige Details dieses Diskurszusammenhangs im Hinblick auf die (sich wandelnde) Beziehung von Anthropologie und Pädagogik der Betrachtung würdig gewesen wären, zumal hierbei konzeptionelle Schärfungen zu holen sind, die ebenfalls für eine differenzierte Betrachtung der Plessnerschen Thesen wichtig gewesen wären.

Hier werden Anschlussmöglichkeiten – gerade was die Verortung innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Anthropologie betrifft – im Übermaß verschenkt, was angesichts der Diskussionstiefe, die der Autor im Verlauf der Untersuchung beweist, und seiner engen Vertrautheit mit Plessners Konzepten mehr als bedauerlich ist. Aufgrund dieser von Beginn an eng dem Vorhaben einer Rekonstruktion der Plessnerschen Anthropologie verpflichteten Perspektive werden mithin ganze Diskursbereiche und Begrifflichkeiten von vornherein ausgeschlossen. So findet keine vorangehende Diskussion des für die Untersuchung zentralen Leibkonzepts statt (diese erfolgt in Kapitel III, dann allerdings beschränkt auf Plessners Position). Ferner sucht man, obwohl es um das Schnittfeld von Körper, Identität und Bildung geht, eine Diskussion des in der Erziehungswissenschaft längst etablierten Mimesiskonzepts vergeblich. Weiterhin führt die fehlende Auseinandersetzung mit den komplexen körper- und differenztheoretischen Positionen der Historischen Anthropologie dazu, dass die eingebrachte These von der differenztheoretischen Vorgehensweise Plessners nicht kontextualisiert wird.

Ähnliches ist für das Kapitel II (‚Identität’ – Anfragen an eine pädagogische Leitkategorie) anzumerken. Zwar ist dem Autor durchaus zu bescheinigen, dass er eine kenntnisreiche und argumentativ solide Diskussion einiger identitätstheoretischer Klassiker und ihrer ambivalenten erziehungswissenschaftlichen Rezeption bietet. Welchen Wert die abermalige Diskussion der begrifflich notorisch unscharfen Identitätstheorie Eriksons im Vergleich etwa zu einer – nicht erfolgten, aber wünschbaren – Diskussion aktueller identitätstheoretischer Ansätze haben soll, bleibt unklar. Anregungen aus dem Bereich der Genderforschung finden sich hier ebenso wenig wie eine Diskussion hybrider Identitätsformen oder eine intensivere Auseinandersetzung mit differenztheoretischen Positionen, wie sie in Anlehnung an Adorno, Lacan, Derrida, Butler, Luhmann u.a. in die erziehungswissenschaftlichen Diskussionen Eingang gefunden haben. Wo nun der mit Plessner im nachfolgenden Kapitel herauszuarbeitende differenztheoretische Ansatz zu verorten wäre, wird also nicht deutlich. Des Weiteren wird der Geltungsanspruch der leiblichen Erfahrungsebene – mangels der Diskussion der Leibkategorie – nicht systematisch ausgewiesen: Warum eigentlich sollte man das Identitätskonzept verleiblicht denken? – Diese Frage bleibt ungestellt, obwohl sie in Form einer ständig präsenten These die Untersuchung strukturiert.

Der Leser ist aus diesem Grund darauf angewiesen, auf den Hauptteil der Untersuchung in Kapitel III zu vertrauen – hier sollte also deutlich werden, welchen Gewinn eine leiborientierte Identitätstheorie verspräche und in welchem Sinne diese differenztheoretisch zu nennen wäre. Und dies gelingt durchaus: Das Kapitel bietet eine solide, ausführliche und ausgesprochen detailreiche Diskussion bzw. Rekonstruktion der ungeschriebenen Identitätstheorie (bzw. Differenztheorie) Plessners. In verschiedenen Argumentationslinien wird Plessners Ansatz gegen den Vorwurf der Verhaftung an ein idealistisches Begriffsinstrumentarium und an eine dualistische Weltsicht verteidigt. Insbesondere die Figur der „Verschränkung“ von Differentem (Innen/Außen, Leib/Körper, Selbst/Andere bzw. Anderes etc.) wird als ein Konzept proponiert, das jenseits der Differenz von Identität und Nichtidentität verortet sei.

Bildung versteht Kubitza (Kap. IV) aus dieser Perspektive als „eine (keineswegs immer bewusst vollzogene) Gestaltung der durch das Subjekt hindurch verlaufenden Differenzen von Körper und Leib, Selbst und Anderen, Innen und Außen, Natur und Kultur, in die es eingebunden bleibt und durch die es sich als Subjekt immer wieder erneut hervorbringt (‚bildet’)“ (298). Damit wird eine ausgesprochen spannende und innovative Position erreicht – der Ausdruck „Gestaltung“ lässt durchaus die Assoziation an den Gestalt-Begriff zu. Bildung wird insofern als ein Prozess der Formation angedacht, der – in immer wiederkehrenden Akten der „Verkörperung“ – die benannten Differenzpaare erst, wie man sagen könnte, performativ hervorbringt. Der Verkörperungsprozess wäre also eine Art Herstellung von (im weitesten Sinne) Welt schaffenden Differenzen, ein körper- bzw. leibgebundenes generatives oder konstruktives Prinzip.

Kubitza grenzt sich mit diesem Bildungskonzept gegen solche Bildungsverständnisse ab, die Bildung „vorrangig als eine Akkumulation kultureller Wissensbestände“ verstehen (ebd.). Was die Arbeit an dieser Stelle vermissen lässt, ist eine (über die sicherlich wichtigen Beiträge Mollenhauers und Meyer-Drawes hinausgehende) Diskussion des erarbeiteten Bildungskonzepts im Kontext aktueller bildungstheoretischer Diskussionen. Wenn sich auch in den Massenmedien eine inhaltlich-„kumulative“ Bildungsauffassung hartnäckig hält, so können derartig reduktionistische Bildungskonzeptionen innerhalb der Erziehungswissenschaft schließlich seit mehreren Jahrzehnten als überwunden gelten. Statt mit einer bildungstheoretischen Verortung schließt die Untersuchung mit dem Versuch an, das Bildungskonzept der „Verkörperung“ im Kontext des Habitusbegriffs Pierre Bourdieus fruchtbar zu machen. Zunächst stellt sich hier die Frage, ob Bourdieus „praxeologische“ Vorstellung von Inkorporation überhaupt mit der in der Arbeit propagierten phänomenologischen Leib-Konzeption kompatibel ist – Zweifel daran wären nahe liegend, werden aber nicht erörtert. Darüber hinaus bleibt der bildungstheoretische Gewinn dieser Vorgehensweise unklar. Denn der Habitus als, wie Bourdieu definiert, „strukturierende Struktur“ von sozialer Praxis zielt gerade nicht auf Flexibilisierung, Reflexivierung und Kritik, sondern auf „Einkörperung“ und Verfestigung sozialer Geschmacksurteile und Gesten. Er ist gerade kein Prinzip der „Veranderung“. Bildungseffekte wären hier eher in der Distanzierung von habitualisierten Handlungsmustern zu suchen, wie sie etwa in körperlich-mimetischen Aufführungen und Aneignungen geschehen. Der Autor überlässt es somit letztendlich seinen Lesern, seine durchaus fruchtbaren Thesen bildungstheoretisch zu kontextualisieren.

Fazit: Sieht man das primäre Ziel der vorliegenden Arbeit darin, „Plessners anthropologische Einsichten erstmals für den pädagogischen Diskurs zu erschließen“ (19), so ist dies sicherlich zu großen Teilen gelungen. Auch wenn sich die Leser stellenweise (Kap. III) eine etwas geraffte Darstellungsweise wünschen könnten, liegt hier eine bemerkenswerte Studie vor, die sicherlich der erziehungswissenschaftlichen Diskussion um die Arbeiten Plessners einige Anstöße zu bieten hat. Die Untersuchung bietet innovative bildungstheoretische Impulse, die allerdings noch einer genaueren Betrachtung zu unterziehen wären, als sie hier geleistet werden kann. In ihrem Anspruch, auch noch der Identitätsdebatte entscheidende konzeptionelle Anstöße zu geben, überzeugt die Arbeit hingegen weniger. Die Auslassung ganzer Diskursbereiche, die sämtlich ihrerseits starke differenz- und auch körpertheoretische Konzeptionen beinhalten, sowie die Konzentration auf eigentlich veraltete Klassiker der Identitätstheorie, die zudem – jedenfalls im Fall der Diskussion G.H. Meads – eher wenig innovativ diskutiert werden, hinterlässt keinen sehr überzeugenden Eindruck. Der Band muss insofern gegen einige seiner teilweise recht selbstbewusst artikulierten Ansprüche in Schutz genommen werden, um nicht mit einer ungünstigen Erwartungshaltung gelesen zu werden. Wer diese Einschränkungen beachtet, wird von seiner Lektüre profitieren.
Benjamin Jörissen (Magdeburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Benjamin Jörissen: Rezension von: Kubitza, Thorsten: Identität - Verkörperung - Bildung, Pädagogische Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners. Bielefeld: transcript 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89942318.html