Dieses recht voluminöse Buch wurde zweifellos von einem sach- und vor allem aktenkundigen Autor verfasst. Die material- und daher sehr umfangreiche, theoretisch hingegen eher unambitionierte Dissertationsschrift wuchs offenbar zu einer herstellungstechnischen Herausforderung heran, so dass ein gesonderter, wenngleich deutlich schmalerer Registerband den Textband komplettieren musste. Vielleicht wäre es sogar leserfreundlicher gewesen, wenn der Registerband nicht nur das Literatur- und das annotierte Personenverzeichnis, sondern auch die Endnoten aufgenommen hätte.
Im Darstellungsteil knüpft Reichert zunächst an die seit 1990 diskutierten Schwerpunkte der Stasiaufarbeitung an. Nachdem die Universitätsgeschichte ebenso wie die Entwicklung des DDR-Geheimdienstes kurz umrissen und dabei über Jahre kontrovers diskutierte Probleme fallgeschichtlich herunter gebrochen wurden, stellt er Richtlinien für die Stasitätigkeit und die bekannten Kategorien inoffizieller und hauptamtlicher Mitarbeiter vor. Immer wieder ist hier von Ermittlungen die Rede; der Terminus Forschung fällt hingegen nicht auf. Ermittlungsergebnisse zum Verhältnis von Martin-Luther-Universität und Staatssicherheit dominieren auch im Weiteren die Erzählstruktur und den Inhalt des Buches. Sie belegen die geheimdienstliche Durchdringung aller für sicherheitsrelevant befundenen Bereiche der Universität und rechtfertigen es, von einer Überwachung des Wissenschafts- und Lehrbetriebes durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zu sprechen. Ob diese Überwachung zugleich auch die Einlösung der geheimdienstlichen Kontrollambition bedeutete, wird jedoch nicht in gleicher Weise ersichtlich. Dazu hätte es wohl einer systematischen Bearbeitung dieser Beziehung bedurft, etwa durch die Untersuchung von Widersprüchen und Reibungsflächen zwischen Universitätsbetrieb und Geheimdienstapparat oder durch die Beantwortung der Frage, welchen Einfluss das MfS etwa auf die Generierung von Forschungsthemen und auf das Lehrangebot der Universität genommen hat. Der Begriff Kontrolle spricht hier per se eher gegen eine über die sicherheitspolitisch veranlasste Überwachung hinausgehende Einflussnahme. Auch die von Reichert vorgestellten, an der Juristischen Hochschule des MfS entstandenen neun Diplom- oder Fachschulabschlussarbeiten, die sich vorgeblich wissenschaftlich mit der Martin-Luther-Universität Halle (MLU) beschäftigen, bleiben auf – im Selbstverständnis – „sicherheitspolitische“ Fragen beschränkt, etwa auf die illegale („Republikflucht“) und legale („Ausreise“) Übersiedlung von Universitätsangehörigen in den Westen, insbesondere aus dem Bereich Medizin, ferner auf die Spionageabwehr oder die Überwachung politischer Oppositioneller.
Anstatt sich systematisch auf die Beziehung von Stasi und Universität einzulassen, gelingt es Reichert ebenso nachdrücklich wie eindrucksvoll, die Präsenz der Stasi in der Universität aufzuweisen und vor allem die Verquickung von inoffiziellem geheimdienstlichen Engagement und beruflichem Mandat zu verdeutlichen. Kaum überraschend war die Stasi in den Leitungsebenen der Universität verdeckt anwesend, kontrollierte die Personalpolitik, bestimmte mit über die Reisetätigkeit von Universitätsangehörigen, wähnte sich besonders für Geheimnisschutz und Spionageabwehr verantwortlich und verwendete reichlich Personal und Energie, um der vermuteten Gefahr von Dekadenz und Opposition innerhalb der Studentenschaft und des Lehrkörpers entgegenzuarbeiten. Sicherheitsüberprüfungen, ‚Operative Personenkontrollen’ und ‚Operative Vorgänge’ gehörten dabei auch an der MLU zum geheimpolizeilichen Standardrepertoire. Kaum überraschend bildeten die Sektionen Theologie, Medizin und Germanistik/Kunstwissenschaften einen so genannten Schwerpunkt des Interesses.
Verständlicherweise kann Reichert exakte Daten über das Netz inoffizieller Stasimitarbeiter unter Mitarbeitern und Studenten der MLU nur ausnahmsweise präsentieren. Vor allem die Zahl gewöhnlicher Inoffizieller Mitarbeiter Sicherheit (IMS) war kaum zu ermitteln, weil bekanntlich deren Spitzeldienste in der Regel nicht auf die Universität beschränkt bleiben mussten wie umgekehrt einmal angeworbene IMS im Falle des Eintritts in die MLU auch dort ganz, teilweise oder zeitweilig geheimpolizeilich nützliche Dienste zu leisten hatten – ob für die Kreisdienststelle, die Bezirksverwaltung oder für eine Hauptabteilung des MfS. An herausgehobenen IM im besonderen Einsatz (IME) sind zwölf bekannt geworden. Der IM-Elite – den IM zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen (IMB) – gehörte ein Universitätsmitarbeiter an; das war ausgerechnet der Universitätstischler. Ferner konnte Reichert fünfzehn Führungs-IM (FIM) enttarnen, die teilweise parallel Agentennetze von mehreren IM geleitet hatten. Daneben existierte auch an der MLU eine nicht bekannte Zahl von Gesellschaftlichen Mitarbeitern der Staatssicherheit (GMS), die vor allem Informationsdienste erbrachten. Für die aus geheimpolizeilicher Sicht besonders interessante Sektion Theologie nennt Reichert für das Jahr 1981 die Zahl von zwei IMB unter den 91 Studenten (also rund 2,2 Prozent), drei IMS und ein GMS in dem zwanzig Personen umfassenden Lehrkörper (20 Prozent) und charakterisiert dies als „ausgeprägte ‚inoffizielle Basis’“ (294), was hier freilich nur auf die geheimdienstliche Durchdringung des Lehrkörpers zutrifft. An der Sektion Germanistik/Kunstwissenschaften waren von den 110 Lehrkräften (1984) acht inoffiziell für die Staatssicherheit tätig (rund 7,3 Prozent). Die behauptete geheimdienstliche Fixierung auf den Bereich Germanistik spiegelt sich in dieser Relation damit kaum wider.
Neben inoffiziellen Mitarbeitern waren an der MLU einige wenige (205) hauptamtliche Mitarbeiter des MfS verdeckt tätig, darunter bis 1985 mindestens ein Offizier im besonderen Einsatz (OibE) und vier Hauptamtliche Führungs-IM (HFIM). Für die verdeckte Führung von IM anlässlich der so bezeichneten Treffs galten konspirative Räume und Wohnungen als unentbehrlich. Reichert listet neun konspirative Wohnungen der MLU und weitere 108 konspirative Wohnungen im Zusammenhang mit der Universität auf und benennt möglichst die jeweiligen Wohnungsinhaber (IMK) namentlich und die exakte Adresse, was ihm aber nur teilweise gelingt.
Besonderer Eifer wird bei der minutiösen Aufdeckung früherer Stasiagenten deutlich. Im Ergebnis drängt sich der Eindruck auf, dass weniger ein analytisches und durch eine Fragestellung geleitetes Interesse die Vorgehensweise bestimmte als vielmehr das Bedürfnis, biografische Details zu enthüllen. Im Laufe der Lektüre geht denn auch das anfängliche Erstaunen ob mancher „Enthüllung“ über in Unverständnis; Unbehagen macht sich darüber breit, zum Mitwisser biografischer Interna zu werden, die unter Umständen geeignet sind, Personen bloß oder gar an den Pranger zu stellen. Ist es historiografisch wichtig und richtig, über die exakte Schuldensumme eines Angeworbenen zu berichten, über finanzielle Einkünfte Bescheid zu geben, das Verhältnis zu einer Schwiegermutter aufzuklären oder über das genaue Strafmaß als Konsequenz einer früheren Verfehlung zu informieren? Reichert ist sich sicher, dass er dieses Wissen in dieser Weise kundtun darf, aber besteht hier tatsächlich ein zeitgeschichtliches Interesse? Kann man Anwerbungs- und Erpressungsmethoden der Stasi dem Leser nicht auch aufzeigen, ohne in jedem Falle den Rückschluss auf eine konkrete Person bzw. Familie zu ermöglichen? Werden in dieser Form andererseits unter der Hand nicht sogar Personen entlastet, die durch das Ministerium für Staatssicherheit aus unterschiedlichsten Gründen nicht angeworben wurden, nur weil sie als ‚Inoffizielle Mitarbeiter’ nicht gebraucht wurden oder sich allein deshalb nicht eigneten, weil sie etwa SED-Mitglieder oder sonst allseits bekannte politische Systemträger waren bzw. der Stasi die „offiziellen“ Kontakte zu staatlichen Leitern genügten? Avanciert damit nicht letztendlich das mitunter eigentümliche Rekrutierungsinteresse der Stasi zum Kriterium der „Aufarbeitung“? Je länger man mit der Lektüre beschäftigt ist, desto nachdrücklicher drängt sich die rhetorische Frage auf, ob Historiker in erster Linie Tätern auf der Spur sind und Delegitimierung betreiben sollten oder Geschichte in ihrer Komplexität zu erforschen haben. Das damit akzentuierte wissenschaftsethische Problem allein politisch zu diskutieren oder gar von Gerichten entscheiden zu lassen, käme jedenfalls einem Armutszeugnis der (Zeit-)Historiker gleich [1].
Reichert hat nicht nur ein deutliches Interesse an der Enttarnung von Stasitätern, sondern für sein rigoroses Vorgehen auch ein Argument. Das Prinzip wird einleitend veranschaulicht: Wenn ehemalige Stasi-Mitarbeiter erklären, „’niemals … Namen von Menschen preiszugeben, die als IM … uns mit Informationen versorgten’“, weil deren Veröffentlichungen, so Reichert, „der nachträglichen Legitimation des geheimdienstlichen Handelns“ dienen (17), dann sieht er es als seine Aufgabe an, diese „Lehre aus alten Tagen“ (14) zu negieren. Dass er damit eventuell selbst „zentral in Lebensentwürfe“ (15) auch der Anverwandten ehemaliger offizieller oder inoffizieller Stasimitarbeiter eingreifen könnte, bleibt unberücksichtigt. Reicherts geradlinige Logik leitet ihn zudem mitunter ebenso unvermeidlich wie kühn auf einen Holzweg. So gereicht offenbar die Namenskonstruktion der Martin-Luther-Universität zu der Annahme, bei der ‚Unter den Linden’ in Berlin ansässigen Universität müsse es sich analog um die Alexander-von-Humboldt-Universität handeln (19). Ganz offensichtlich hat kein Gutachter im Promotionsverfahren diesen Fauxpas bemerkt.
Auch Ironie (vgl. z.B. 127) und Übertreibung sind Reichert als Darstellungsmittel nicht fremd. Diese wirken umso problematischer, als dem Autor selbst manche Sätze misslingen. So heißt es auf Seite 85: „Die Gesamtzahl an hauptamtlichen Mitarbeitern innerhalb der Bezirksverwaltung Halle ist im Detail widersprüchlich, in den Größenordnungen jedoch identisch“. Oder auf Seite 113 wird behauptet, dass in dem Jahresplan eines hauptamtlichen Mitarbeiters „das gesamte Szenario geheimdienstlichen Handelns gegen missliebige Personen beschrieben wird“, tatsächlich ist aber lediglich die Bespitzelungspraxis dokumentiert. Indem z.B. von der Nahtstelle zwischen Geheimdienst und staatlichen Instanzen die Rede ist, wird schließlich sogar die Tatsache terminologisch missachtet, dass es sich bei der Staatssicherheit selbst um eines der wichtigsten Instrumente des Staates zur Aufrechterhaltung der SED-Herrschaft in der DDR handelte.
Insgesamt bietet die Arbeit allen Interessierten nicht nur ein dichtes Material, sondern auch allen Grund für eine neuerliche Debatte über die ethischen Eckpfeiler einer zeitgeschichtlichen „Aufarbeitung“ der DDR-Staatssicherheit ebenso wie über die Grundsätze einer methodisch reflektierten Bearbeitung von Struktur- bzw. Organisationsgeschichte einerseits und Lebensgeschichte andererseits auch für diesen Teil der DDR-Geschichte.
[1] Vgl. http://www.zeit-geschichten.de/th_12.htm
EWR 6 (2007), Nr. 5 (September/Oktober 2007)
Unter Kontrolle
Die Martin-Luther-Universität und das Ministerium für Staatssicherheit 1968-1989
Halle: Mitteldeutscher Verlag 2007
(680 S.; ISBN 3-89812-380-8; 46,00 EUR)
Ulrich Wiegmann (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulrich Wiegmann: Rezension von: Reichert, Steffen: Unter Kontrolle, Die Martin-Luther-Universität und das Ministerium fĂĽr Staatssicherheit 1968-1989. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89812380.html
Ulrich Wiegmann: Rezension von: Reichert, Steffen: Unter Kontrolle, Die Martin-Luther-Universität und das Ministerium fĂĽr Staatssicherheit 1968-1989. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89812380.html