EWR 4 (2005), Nr. 5 (September/Oktober 2005)

Judith BĂĽschel
Edtith Geheeb
Eine Reformpädagogin zwischen pädagogischem Ideal und praktischem Schulmanagement (Bildungs- und kulturgeschichtliche Beiträge für Berlin und Brandenburg, Band 4)
Berlin: Weidler Buchverlag 2004
(130 S.; ISBN 3-89693-401-5; 17,00 EUR)
Dass die Odenwaldschule und die Ecolé d’Humanité für ihre herausragende Stellung innerhalb der reformpädagogischen Einrichtungen der organisatorischen Fähigkeiten Edith Geheebs und der finanziellen Unterstützung Max Cassirers ebenso bedurften wie des pädagogischen Charismas von Paul Geheeb, wurde von ZeitgenossInnen schon lange behauptet, in den Darstellungen über Landerziehungsheime fand aber bis vor wenigen Jahren nur Paul Geheeb Erwähnung. In den Dissertationen von Inge Hansen-Schaberg über die Pädagogin und Sozialistin Minna Specht, die von 1946 bis 1951 die Odenwaldschule geleitet hatte, und von Ellen Schwitalski über die Pädagoginnen der Odenwaldschule [1] trat Paulus – so wurde Geheeb von seinen Mitarbeitern genannt – als einer der Überväter der reformpädagogischen Bewegung zurück. Dafür wurde jenen Aufmerksamkeit geschenkt, die einen Neuanfang erst möglich gemacht hatten und die für den pädagogischen Alltag notwendig gewesen waren. Auch in der von Martin Näf 1998 vorgelegten Biographie Paul Geheebs deutete es sich schon an, welche zentrale Rolle Geheebs Ehefrau Edith für den alltäglichen Schul- und Internatsbetrieb in der Odenwaldschule gespielt hatte.

Ausschließlich auf Edith Geheeb konzentriert sich nun die Ende letzten Jahres erschienene Studie von Judith Büschel. Diese ist aus einer Magisterarbeit, die am Lehrstuhl für Geschichte der Pädagogik an der Universität Potsdam eingereicht wurde, hervorgegangen. Ziel dieser Untersuchung ist „die Persönlichkeit und das Schaffen Edith Geheebs […] zu würdigen, um somit der Diskrepanz zwischen ihrer Bedeutung für die beiden Schulen und ihrer öffentlichen Bekanntheit und Anerkennung entgegenzuwirken“ (8). Damit versucht die Verfasserin Biographie- und Geschlechterforschung mit Schulgeschichte zu verbinden.

Die beruflichen Stationen Odenwaldschule und Ecolé d’Humanité sowie die Emigration in die Schweiz gliedern die biographische Darstellung. Dieser ist noch ein Kapitel über Kindheit und Jugend der Reformpädagogin im jüdisch-bürgerlichen Milieu Berlins vorangestellt. Quellen, auf die für die Darstellung eines fast 100-jährigen Lebens (1885-1982) zurück gegriffen werden kann, sind spärlich überliefert, die wenigen darüber hinausgehenden sehr unterschiedlicher Provenienz (Briefe, Reden, retrospektive biographische Interviews, Privatkorrespondenz erst für die Jahre nach 1945; auf die Tagebücher aus diesem Zeitraum wird hingewiesen, aber sie werden nicht genutzt). Die sich aus diesem Quellenkorpus ergebenden Konsequenzen für die Rekonstruktion einer Biographie reflektiert die Autorin in ihren quellenkritischen Vorbemerkungen (9), hält aber im Weiteren in den interpretierenden Passagen diesen kritischen Blick auf den Aussagegehalt der Quellen nicht immer durch, vor allem bei der Bezugnahme auf Interviewpassagen, die mit ihren rückblickenden Erzählungen Biographie konstruierenden Charakter haben.

Edith Geheeb stammte aus einer einflussreichen Berliner Familie: den Cassirers. Ihr Vater Max hatte sich Reichtum und Ansehen als Unternehmer und Stadtrat erworben. Der Verleger Bruno Cassirer, der Kunsthändler Paul Cassirer und der Philosoph Ernst Cassirer gehörten zu ihren nahen Verwandten. Die junge Tochter aus bürgerlichem Hause tat, was viele junge Mädchen aus dem liberalen jüdischen Milieu in der preußischen Metropole taten: Sie besuchte die Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit. In diesem Umfeld lernte sie die Sozialreformerin Alice Salomon kennen, wurde eine ihrer Mitarbeiterinnen, arbeitete in Kindergärten und Jugendheimen und hörte volkswirtschaftliche Vorlesungen an der Berliner Universität. Dieser Weg heraus aus einem bürgerlichen „Puppenhaus“, die Hinwendung zur Frauenbewegung und zur Sozialen Arbeit führte schließlich 1908 zu einem Praktikum in einem Landerziehungsheim fernab von Berlin, in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. Rückblickend beschrieb sie ihre dortige Tätigkeit als zweite Hausdame als das, „was eigentlich eine Mutter im Hause wäre“ (31). Dort auf den Höhen des Thüringer Waldes lernte sie auch den 15 Jahre älteren Paul Geheeb kennen. Gegen den Widerstand der Familie setzte sie die Heirat (1909) mit dem geschiedenen Pädagogen und Theologen durch.

Die Gründung der Odenwaldschule im hessischen Oberhambach an der Bergstrasse ist – nachdem sich Paul Geheeb mit Gustav Wyneken überworfen hatte – ein Projekt der Jungverheirateten, unterstützt und finanziert von Max Cassirer. Dass Edith Geheeb schon hier zur Managerin des Schulprojekts wurde, die Finanzen verwaltete, den Ausbau des Geländes vorantrieb und das alltägliche Leben im Internat organisierte, während ihr Mann sich um die Auswahl der Schüler und der pädagogischen Mitarbeiter kümmerte, arbeitet Büschel im zweiten Kapitel heraus. Hier – und diese Linie greift sie später noch einmal auf – wird Edith Geheeb auch als Mittlerin zwischen ihrem Mann und Dritten dargestellt, die – trotz aller Widrigkeiten – bewundernd zu Paulus aufblickt. Für die Schülerinnen und Schüler sei sie als „’Gesamt-OSO-Mutter’“ (61) Vorbild gewesen. Geschickt gelingt es Büschel Edith Geheeb nicht nur als schulöffentliche, sondern ebenso auch als private Person zu skizzieren und daraus ein Stück weit Erklärungen für das pädagogisch-organisatorische Handeln der Protagonistin zu zeigen. So z.B. wenn Büschel über das Vater-Tochter-Verhältnis oder über die Ehe der Geheebs schreibt. Von dieser hatten Paul und Edith Geheeb unterschiedliche Vorstellungen. Dies führte bei Edith Geheeb bald in einem Klima der Überarbeitung zu Depressionen und Zusammenbrüchen. Sie akzeptierte schließlich die Ehe „’als Verbindung, die im Dienste einer sozialen Verpflichtung stand“ (65), so dass selbst Affären von Paulus nicht zur Scheidung führten. Den Dienst an der Sache stellte sie über alles, persönlichen Ausgleich fand sie bald in der Indischen Philosophie.

Diese in der Odenwaldschule herausgebildete Struktur der Arbeits- und Lebensbeziehung setzte sich fort, als die Emigration in die Schweiz erfolgte – eine Entscheidung, die wie viele andere auch von Paul Geheeb allein gefällt worden sei und wozu er Edith überredet habe. Die Jahre zwischen 1934 und 1946 wurden eine Wanderschaft der neuen „Schule der Menschheit“ über fünf verschiedene Orte in der französischsprachigen Schweiz. Auch hier wieder – aber nun unter wesentlich schlechteren finanziellen und politischen Rahmenbedingungen – war Edith Geheeb die Managerin, diejenige, die neue Standorte suchte und juristische Auseinandersetzungen führte, die Mittlerin zwischen den pädagogischen Ideen Pauls und den pädagogischen Konzepten anderer. In dieser psychisch und physisch belastenden Situation begann die 52-jährige Frau eine Psychoanalyse bei Alwine von Keller, einer ehemaligen pädagogischen Mitarbeiterin der Odenwaldschule, die mit den Geheebs in die Schweiz emigrierte und sich dort bei C.G. Jung psychoanalytisch ausbilden ließ. Dieser Therapie wird von der Biographin eine Schlüsselstellung im Lebenslauf eingeräumt („möglich war dieser Einsatz letztlich aber nur, weil Edith Geheeb in ihrer Psychoanalyse mit Alwine von Keller ihre persönlichen Probleme zu bewältigen lernte, ihrem eigenen Leben zunehmend mehr Platz eingestand und dadurch die Belastungen ihres Arbeitslebens kompensieren konnte“ (89)), ja sie wird fast zu einem Lebenswendepunkt stilisiert. Aber die Belege für die Deutung sind dürftig, der Bezug auf die Interpretation von Schwitalski nicht ausreichend.

Das biographische Muster „Schulmanagerin“ setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Eine Rückkehr nach Deutschland kam für Paul Geheeb nicht in Frage, da er dem neuen Deutschland nicht traute. Der Aufbau der neuen Schule in Goldern lag wieder in Edith Geheebs Händen. Zusätzlich fielen ihr jetzt noch die Aufnahme neuer Schüler und die Rekrutierung des Lehrpersonals zu. Der 76-jährige Paulus zog sich immer mehr aus dem alltäglichen Internatsbetrieb zurück, beschränkte sich auf Vorträge und pädagogische Korrespondenzen. Edith Geheeb war faktisch Schulleiterin und verstand sich durchaus auch als solche. Auch nach dem Tod von Paul Geheeb (1961) führte sie die Schule weiter und bereitete die Übergabe der Schulleitung an ihren Nachfolger vor. Auffallend an diesem letzten Teil ist, dass hier die Autorin sich immer mehr von vorgegebenen Interpretationen anderer löst, selbst dicht an den Quellen versucht, sich der Person Edith Geheeb zu nähern. M.E. gelingt ihr dies in diesem Teil am überzeugendsten, vor allem weil sie es hier vermag, Edith Geheeb in ihrer Ambivalenz zwischen der Loyalität zu ihrem Mann – „’Ich verdanke Paulus alles was ich bin.’“ (115) – und der Wertschätzung des eigenen Tuns – „’Ich bin erst nach Paulus Tod das geworden, was ich eigentlich bin.’“ (115) – zu präsentieren.

Insgesamt ist die Monographie – trotz aller Einwände – ein gelungener Versuch der Verbindung von erziehungswissenschaftlicher Geschlechter- und Biographieforschung, die sich gegen die üblichen hagiographischen Darstellungen in der (reform-)pädagogischen Geschichtsschreibung wendet. Die Tatsache, dass das Buch sich schon nach dem zweiten Lesen in einzelne Blätter auflöste, ist nicht der Autorin, sondern dem Verlag vorzuhalten.

[1] Hansen-Schaberg, Inge (1992): Minna Specht – eine Sozialistin in der Landerziehungsheimbewegung (1918-1951). Untersuchung zur pädagogischen Biographie einer Reformpädagogin. Frankfurt a.M.
Schwitalski, Ellen (2004): „Werde, die du bist“: Pionierinnen der Reformpädagogik. Die Odenwaldschule im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Bielefeld.

Edith Glaser (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Edith Glaser: Rezension von: BĂĽschel, Judith: Edtith Geheeb, Eine Reformpädagogin zwischen pädagogischem Ideal und praktischem Schulmanagement (Bildungs- und kulturgeschichtliche Beiträge fĂĽr Berlin und Brandenburg, Band 4), Berlin: Weidler Buchverlag 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89693401.html