Befragt man aktuelle Überblickswerke der Schul- und Bildungsforschung [1] zu den Befunden pädagogischer Forschungsbemühungen in der DDR, werden keine oder nur spärliche Antworten geliefert. Es ist daher Dieter Kirchhöfer und Hans Merkens hoch anzurechnen, dass sie einen Sammelband herausgeben, der ausgewählte Schulversuche und Experimente der DDR-Pädagogik vorstellt und damit dem wissenschaftlichen Diskurs Zugang zu vergessenen (oder auch verdrängten?) Ergebnissen pädagogischer Forschung im Zeitraum von 1950 bis 1989 eröffnet. Die Auswahl der in den Sammelband aufgenommenen Forschungsvorhaben orientiert sich an aktuellen Diskussionen im Rahmen der Bildungsreform wie z.B. zur Ganztagsschule, zur differenzierten Förderung von SchülerInnen unterschiedlicher Leistungsniveaus, zur Frühförderung oder zur Qualität der Einzelschule.
Der Titel des Buches weckt beim Leser zunächst Erwartungen, die im Vorwort eine Neuorientierung erfahren: Es werden weder Großexperimente zur Veränderung des DDR-Bildungssystems noch flächendeckende Schulversuche vorgestellt. Vielmehr liegt das Augenmerk auf Versuchen „an einzelnen Schulen, in Kreisen und Forschungszentren, die dazu dienen sollten, die Bedingungen für das Aufwachsen der Kinder entwicklungsförderlicher zu gestalten“ (7). Der Sammelband beinhaltet zudem nur wenige Beiträge, die eine empirisch-methodische Ergebnisdarstellung der Schulversuche liefern. Einige Beiträge geben stattdessen über die Forschungskonzeption, das methodische Vorgehen oder über Zwischenschritte Auskunft. Dennoch können interessierte Erziehungswissenschaftler, Bildungspolitiker und praktisch tätige Pädagogen dem Sammelband eine ganze Reihe von Anregungen und Ideen entnehmen, die überraschende Parallelen zu den gegenwärtig diskutierten Themen der Bildungsreform aufweisen. Für die Herausgeber wäre daher auch ein wichtiger Erkenntnisgewinn der Lektüre, wenn anhand der beschriebenen Erfahrungen in der DDR „mögliche Irrwege oder Fehlentwicklungen der Gegenwart vermieden würden“ (8).
Der Aufbau des Sammelbandes orientiert sich an den bereits genannten aktuellen Diskussionssträngen im Reformbemühen nach TIMSS, PISA und Co. und gruppiert die Beiträge zu insgesamt fünf Themenbereichen. Nach einer Einleitung der beiden Herausgeber, die den Stellenwert von Schulversuchen als Vermittlungsinstanz zwischen Theorie und Praxis beleuchtet, folgt ein weiterer einleitender Beitrag von Christine Lost. Dieser Beitrag enthält zunächst einen Exkurs zum Versuchschulgedanken in der DDR und zeigt am Beispiel des Pädagogen Wolfgang Altenburger die Spannung zwischen individuellen pädagogischen Ansprüchen und politisch-ideologischen Rahmenbedingungen des Bildungswesens der DDR auf.
Der erste Themenbereich widmet sich dem hochaktuellen Thema ganztägiger Bildungsangebote. Heidrun Kahl stellt mit dem „Strausberger Modell“ einen Schulversuch vor, der in der Mitte der 1980er Jahre Maßnahmen zur Gesundheitsförderung im Grundschulalter erprobte. Über die Konzipierung und Erprobung von Tagesschulen (heute würde man von Ganztagsschulen sprechen) im Zeitraum von 1962 bis 1968 gibt der Beitrag von Marianne Berge und Gerhard Sielski Auskunft. Eine insbesondere für Sonderpädagogen interessante Schilderung der Reorganisation einer Sprachheilschule in ein ganztätig arbeitendes Logopädisches Zentrum liefern Klaus-Peter Becker und Hans-Georg Zschocke.
Im zweiten Themenbereich wird über Versuche berichtet, einer rein fächerbezogenen Vermittlung der Bildungsinhalte in der DDR-Schule durch ganzheitliche Lernarrangements entgegenzuwirken. Zunächst werden von Christian Kaczmarek im Rückblick die Ansätze der Lebensweiseforschung an Berliner Schulen vorgestellt, während der sich daran anschließende Beitrag von Eberhard Mannschatz diese Thematik um einen Ausblick ergänzt. Ingeborg Bastian und Werner Naumann nehmen die Entwicklung fakultativer Kurse als Mittel der äußeren Differenzierung des Unterrichts in den Blick. Der Beitrag von Heide Babing und Marianne Berge zur Konzipierung und Erprobung fächerübergreifender komplexer Lernvorhaben beschließt diesen Themenkomplex.
Versuche der Förderung sowohl der geistigen Aktivität im Kindesalter als auch der Leistungsentwicklung im Laufe der Schullaufbahn werden im dritten Themenbereich vorgestellt. Hans-Georg Mehlhorn zeigt in seinem Beitrag die Möglichkeiten der Entwicklung, Diagnose und Förderung künstlerisch-ästhetischer und intellektueller Begabungen im Kindergarten und Grundschulalter auf. Ein weiterer Beitrag zur Begabungsförderung – speziell zum Erkennen und Fördern begabter SchülerInnen im Unterricht – wird von Wolfgang Steinhöfel vorgelegt. Über den Einfluss einer problemorientierten Unterrichtsgestaltung auf Lerneinstellungen und Lernleistungen in naturwissenschaftlichen Fächern berichtet Hans-Joachim Lechner. Der Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem methodischen Können der Lehrkräfte und der Erhöhung der geistigen Aktivität aller Schülerinnen und Schüler geht Elisabeth Fuhrmann bei der Vorstellung eines entsprechenden Langzeitexperimentes nach. Der den Themenbereich abschließende Beitrag von Marina Kreisel greift den Gedanken der Stimulierung geistiger Aktivität auf und begründet damit die Weiterentwicklung von Prüfungsinhalten und -formen im Fach Deutsche Sprache und Literatur.
Ein vierter Themenbereich beinhaltet die Darstellung zweier Schulversuche, die zeigen, dass selbst unter den Bedingungen des DDR-Bildungssystems eine Ausgestaltung einer gewissen Autonomie der Einzelschule und die Entwicklung spezifischer Schulprofile möglich war. Die beiden betreffenden Leiter Konrad Zeller und Edgar Drefenstedt berichten in ihren Beiträgen selbst über ihre Ideen und deren praktische Umsetzung.
Der Band schließt mit einem Beitrag von Gerda Niebsch, der sich mit der Kinderkrippe in der DDR auseinandersetzt und deren Relevanz für die gegenwärtige Diskussion um eine ganztätige Betreuung von Kleinkindern aufzeigt. Dieser Beitrag stellt kein Experiment im Sinn des Sammelbandes dar und wird daher auch in keinem der bislang aufgeführten Themenbereiche aufgeführt.
Eine Einzelkritik der genannten Beiträge kann an dieser Stelle nicht erfolgen. So soll daher der generelle Eindruck des Sammelbandes beschrieben werden. Hervorzuheben ist, dass die Beiträge jeweils mit einer Kurzfassung eingeleitet werden, die über Ort und Zeitraum des Schulversuchs, beteiligte Schulen und SchülerInnen, die Aufgabenstellung und die leitenden WissenschaftlerInnen bzw. MitarbeiterInnen informiert. Eine Zuordnung der aus den Schulversuchen heraus entstandenen Forschungsberichte und Publikationen findet sich leider nicht im unmittelbaren Bezug zu dem jeweiligen Beitrag und muss daher vom Leser im Gesamtliteraturverzeichnis am Ende des Bandes selbst hergestellt werden.
Der Sammelband insgesamt hinterlässt beim Rezensenten einen ambivalenten Eindruck. Zum einen ist das Anliegen von Dieter Kirchhöfer und Hans Merkens verdienstvoll: Ergebnisse von Erprobungen, Schulversuchen und -experimenten der DDR-Pädagogik sowie die Namen der verantwortlich Forschenden der Vergessenheit zu entreißen und für aktuelle Diskussionen nutzbar zu machen, ist zweifelsohne ein Gewinn für die scientific community. Zum anderen gibt es jedoch einige Schwachstellen, die ein ertragreiches Lesen des Bandes erschweren. Unter formalen Gesichtspunkten gehört dazu, dass eine gewissenhafte Abschlussredaktion des Bandes notwendig gewesen wäre. Kaum ein Beitrag enthält nicht eine Reihe von Satz- oder Tippfehlern (so ist bspw. auf der Seite 185 mehrfach vom Meridian die Rede, obwohl offensichtlich über den Median der Daten berichtet werden soll), Tabellenwerte erscheinen verschoben in den Tabellenzellen, die Aufzählungen weisen durchgängig einen unregelmäßigen Satzspiegel auf – Hier offenbart sich der Verzicht auf ein Verlagslektorat leider allzu deutlich.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Ergebnisdarstellung der Schulversuche und -experimente. Die Herausgeber betonen zwar, dass „z.B. das methodische Design der Versuche dem damaligen Stand empirischer Sozialforschung in der DDR entsprach und nicht mit heutigen Ansprüchen verglichen werden kann“ (7). Dies trifft aber auch auf Schulversuche und deren Darstellung aus den 1960er und 1970er in den alten Bundesländern zu. Zudem kann nicht von einer aus heutiger Perspektive rückständigen Sozialforschung in der DDR ausgegangen werden, wie z.B. die methodisch anspruchsvollen Studien des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig zeigen. Nimmt man den Hinweis der Herausgeber ernst und legt weniger strenge Maßstäbe an die methodische Beurteilung der vorgelegten Beiträge an, so bleiben doch eine Reihe von Fragen unbeantwortet. Trotz der zum Teil sehr differenzierten und ausführlichen Darstellung der Schulversuche und ihrer gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen werden dem Leser grundlegende Informationen vorenthalten: über die eingesetzten Methoden der Datenerhebung und -auswertung, über die Bildung der Experimental- und Kontrollgruppen, über die praktische Bedeutsamkeit der gewonnenen Befunde. (Da es sich bei diesem Sammelband um einen Überblick über eine Reihe unterschiedlichster Schulversuche in der DDR handelt, kann dieser Kritikpunkt sicherlich durch ein tiefer gehendes Studium der im Rahmen der Schulversuche entstanden Publikationen – soweit sie erhältlich sind – ausgeglichen werden).
Dennoch regt der Band zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit Schulversuchen und -experimenten in der DDR an. Zudem tritt die Relevanz der dargestellten pädagogischen Experimente in der DDR für die aktuellen Forschungsbemühungen im Rahmen der Bildungsreform deutlich hervor. Ein Zitat, das im vorliegenden Band mehrfach Verwendung findet, formuliert den letztgenannten Aspekt in pointierter Weise: „So wie die DDR-Geschichte insgesamt Ergebnis und Ausdruck der (schwierigen und in mancher Beziehung ‚typischen’) Kontinuität deutscher Geschichte ist, so ist auch die Geschichte der DDR-Pädagogik Teil der Disziplingeschichte, deren Rekonstruktion die politisch-ideologische Inanspruchnahme und entsprechende theoretische Verwerfungen ebenso wenig ausklammern darf wie zur selben Zeit entwickelte, tragfähige und innovative (manchmal sogar systemsubversive) Konzepte. Wer sich auf die Theoriegeschichte berufen oder gar aktuelle Denkansätze damit legitimieren will, kann sich nicht auf die ‚halbe’ Geschichte beschränken“ [2]. Einblick in die weitgehend unbekannte ‚Hälfte’ der Disziplingeschichte zu gewähren und deren Erkenntnisse zu nutzen, um nicht ‚das Rad ständig neu zu erfinden’, machen Reiz und Wert des Sammelbandes aus.
[1] Vgl. Tippelt, Rudolf (Hrsg.) (2002): Handbuch Bildungsforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Helsper, Werner / Böhme, Jeanette (Hrsg.) (2004): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
[2] Kell, Adolf / Olbertz, Jan-Hendrik (1997): Vom Wünschbaren zum Machbaren. Erziehungswissenschaft in den neuen Bundesländern. Weinheim: Juventa.
EWR 4 (2005), Nr. 6 (November/Dezember 2005)
Vergessene Experimente
Schulversuche in der DDR
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2005
(320; ISBN 3-89676-941-3; 28,00 EUR)
Oliver Böhm-Kasper (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Oliver Böhm-Kasper: Rezension von: Kirchhöfer, Dieter / Merkens, Hans (Hg.): Vergessene Experimente, Schulversuche in der DDR. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89676941.html
Oliver Böhm-Kasper: Rezension von: Kirchhöfer, Dieter / Merkens, Hans (Hg.): Vergessene Experimente, Schulversuche in der DDR. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89676941.html