
Zunächst wird weit ausholend die existentielle Grunddimension "Mensch und Raum" dargestellt, wobei die gleichlautende Bezeichnung für den ersten inhaltlichen Gliederungspunkt der Arbeit auch die enge inhaltliche Anlehnung an das gleichnamige Werk Otto Friedrich Bollnows widerspiegelt. Wie in einem Rahmen rekurriert der Verfasser zum Schluss wieder auf Bollnow und sein Anliegen der Geborgenheit als raumübergreifenden Gesichtspunkt. Der Verfasser beeindruckt dabei durch breite Literaturkenntnis, ordnet und gliedert in der äußeren Form auffallend kleinschrittig, bemüht sich aber mithilfe von Zusammenfassungen an den Kapitelenden um inhaltliche Klarheit. In weiten Teilen referiert er den Forschungsstand, setzt aber durchaus eigene Schwerpunkte. So betont er z.B. in besonderem Maße die Bedeutung von "Heimat" gerade für das heutige Schulkind in seiner veränderten Lebenswelt. Statt des in der philosophischen Literatur gebräuchlichen Ausdrucks "erlebter Raum" bevorzugt er – wie schon im Titel - den Terminus "Lebensraum", wodurch eine Abgrenzung zum instrumentalisierten, politisch missbrauchten Begriff nötig wird. Insgesamt kennzeichnet die wissenschaftlich fundierte Arbeit eine erfreuliche Klarheit der Begriffe in ihrem für das Thema spezifischen Bedeutungsumfang. So werden pädagogische Grundbegriffe wie "Erfahrung", "Handeln", "Erziehung", "Unterricht" und "Bildung" u.a. jeweils etymologisch hergeleitet und literaturgestützt umschrieben. Orientiert an den Habermas`schen Typen des Handelns wird pädagogischer Lebensraum so als Erfahrungs-, Handlungs- und sozialer Raum näher bestimmt, in dem Unterricht und Erziehung miteinander verschmelzen. Auch für die übrigen Termini kommt der Verfasser nach seinen Explikationen zu dem Ergebnis, dass die Begriffe letztlich nicht voneinander zu trennen sind, sondern sich gegenseitig bedingend korrespondieren.
Mit seinem Bekenntnis zum konstruktivistischen Verständnis von Lehren und Lernen bezieht der Verfasser eindeutig Position. Ebenso deutlich wird das zugrundeliegende Menschenbild als christlich-abendländisch apostrophiert. In philosophisch-anthropologischer Tradition ist danach der Mensch als Leib-Seele-Geist-Einheit zu verstehen, gekennzeichnet durch Selbstbestimmung, Reflexivität, Freiheit, Interpersonalität und Sinnverwiesenheit. Hier hätte gerade im Hinblick auf die für das Grundschulkind so wichtige Leiblichkeit die Habilitationsschrift von Klaudia Schultheis [1] wertvolle Ergänzungen liefern können.
Die Studie zur Grundschule als pädagogisch gestaltetem Lebensraum von Klaus Zierer wurde als Dissertation angenommen und weist einige für Qualifkationsschriften typische Merkmale auf. Viele Fußnoten (dankenswerterweise auf der betreffenden Seite selbst) belegen die verwendeten Sekundärzitate aus der einschlägigen Fachliteratur. Immer wieder wird der Anspruch auf Vollständigkeit für das Behauptete relativiert und viele Aussagen werden durch "meines Erachtens" subjektiv eingeschränkt. Im Fließtext häufen sich Primärzitate, wobei offensichtliche "Lieblingssätze" bis zu drei mal an verschiedenen Stellen wörtlich zitiert sind (Eugène Minkowski: "Das Problem der Zeit und des Raumes ist das Hauptproblem der Psychologie, der Philosophie und, ich möchte fast sagen, der ganzen gegenwärtigen Kultur. Da es in unserer Existenz tiefe Konflikte erzeugt, muß (!) sich jeder von uns mit ihnen auseinandersetzen" oder Martin Buber: "Der Mensch wird am Du zum Ich."). Kernaussagen wie "wesensgemäße und seinsgerechte Bildungshilfe" werden besonders in der zweiten Hälfte der Arbeit auffallend häufig und nachdrücklich wiederholt. Irritierend sind die mannigfachen, manchmal rätselhaften Ausrufezeichen in Klammern innerhalb von Zitaten, die möglicherweise die Unterschiede zwischen neuer und alter Rechtschreibung kennzeichnen sollen. Daneben blieben etliche Tippfehler unkorrigiert.
Erst nach ungefähr der Hälfte des gesamten Textumfangs ist der Verfasser mit seinem verdienstvollen Bemühen, den "Begriffswirrwarr" in der Pädagogik zu klären, zufrieden und beschäftigt sich konkreter mit der Rolle des Raums. Hier skizziert er allerdings wieder auf theoretischer Ebene ein Raumprogramm, das der Erziehung im weiten Verständnis des Verfassers dienen soll, nämlich Lebenshilfe von Mensch zu Mensch mit dem Ziel der Bildung zu ermöglichen. Als Forderung und Ergebnis der Untersuchung ist dafür ein halboffener Charakter des Raums nötig, der die spezifisch kindliche Raumerfahrung berücksichtigt, ein Anknüpfen an die Lebensgeschichte des Kindes ermöglicht, es als Leib-Seele-Geist-Einheit annimmt, kognitive und instrumentelle Kompetenzen fördert und gleichzeitig Wertungen und Haltungen grundlegt, dabei den Stimmungscharakter nicht außer Acht lässt und so zwischen Vertrautem und Fremdem vermittelnd Geborgenheit erleben lässt.
Mit Hilfe einer Auswahl menschlicher Grundbedürfnisse, die gleichzeitig Grundkategorien menschlicher Bildung darstellen, nämlich Erholung, Bewegung, Spiel und Arbeit, gelingt es dem Verfasser, deutlich strukturierend die Bedeutung des Raums für die vita activa und die vita contemplativa in der Schule nachzuweisen. Zu den einzelnen Gebieten wählt er aus dem weiten Feld der Literatur auch aus den verschiedenen Bezugswissenschaften passende Belege aus.
Abgesehen vom Schulgarten der Arbeitsschule Kerschensteiners ist die historische Perspektive kindgemäßer Schulraumgestaltung jedoch vernachlässigt. Dabei wurde zur Zeit der Reformpädagogik bekanntlich auch die Veränderung des Schulhofs in Lage, Aufteilung und Ausstattung als Teil der Gesamtanlage ein Charakteristikum für den Wandel des pädagogischen Konzepts. Schon damals wurde der Schulhof in Zusammenhang mit der Architektur des Schulgebäudes in der zeitgenössischen Literatur ausführlich besprochen. Anstelle von vielen Beispielen sei lediglich ausgeführt, dass die neuen Winkelformen der Gebäude, die einen geschützten Innenhof für die Pausenzeit erzeugen sollten, diskutiert wurden, aber auch Fragen des Lichteinfalls, der Gebäudehöhe oder der Begrünung [2]. Unter dem Einfluss der Kunsterziehungsbewegung mit ihrem moralischen Anspruch der Versittlichung der Gesellschaft gewann schließlich der ästhetische Aspekt in der Ausführung der baulichen Maßnahmen bisher ungekannte Bedeutung. Ein Rekurs auf die Geschichte der Pädagogik hätte einige dieser Gesichtspunkte, die auch Gegenstand philosophischer Betrachtungen waren, für die gegenwärtige Diskussion fruchtbar machen können. In der vom Verfasser geforderten ganzheitlichen Sichtweise des Kindes hätte es zudem nahegelegen, auch den ästhetischen Bedeutungsgehalt der Schulanlage stärker zu thematisieren.
Doch Zierer verzichtet darauf genau so wie er die architektonische Gesamtanlage der Grundschule als pädagogisch gestalteten Lebensraum außer Acht lässt und auch das weitere Umfeld der Schulen nicht in den Blick nimmt. Das hätte freilich erwartet werden dürfen, wenn die naturnahe Gestaltung der Freiflächen (die schon ein Ziel reformpädagogischer Schularchitektur war) ein Endpunkt der modernen Bemühungen um die pädagogische Gestaltung der Außenanlagen einer Grundschule sein soll.
Erstaunlicherweise kommt das Buch ohne jedes Bildmaterial aus. Gerade Fotos, Zeichnungen oder Pläne von gelungenen oder auch negativen Beispielen hätten der Veranschaulichung der weitgehend abstrakten Vorschläge und Forderungen dienen können und manche verbale Explikation überflüssig gemacht. Selbst wenn die pädagogische Hermeneutik als wissenschaftliche Methode gewählt wurde und auf empirische Folgeuntersuchungen verwiesen wird, hätten wohl schon kleine Anleihen an die Empirie das Anliegen der Studie unterstützt, zumal nach ausdrücklicher Intention des Verfassers möglichst rasch positive Veränderungen in der praktischen Schulhofgestaltung eingeleitet werden sollen. Dazu müssten Praktiker wie z.B. Architekten vom Anliegen des Buches überzeugt und angeregt werden, bestehende Verhältnisse zu verbessern.
Wer mit weniger praktischem Interesse zu diesem Buch greift, wird es freilich mit Gewinn lesen. Denn - von genannten Wünschen und sicher auch Defiziten abgesehen - trägt das Buch unzweifelhaft dazu bei, die pädagogische Gestaltung des Schulraums wie der Außenanlagen von Schule in ihrer Bedeutung erkennbar zu machen.
[1] Klaudia Schultheis: Leiblichkeit - Kultur- Erziehung. Zur Theorie der elementaren Erziehung. Weinheim 1998.
[2] Vgl. beispielsweise Lindemann, Fedor: Das künstlerisch gestaltete Schulhaus. Leipzig 1903 oder Hilsdorf, Theodor: Das moderne Schulhaus. Leipzig und Berlin 1913 oder die einschlägigen Artikel in der Zeitschrift "Das Schulhaus" 1899-1930.