Die "Erweiterte Kinderlandverschickung" (KLV) in der Zeit des Zweiten Weltkrieges hat in den letzten Jahren beträchtliche Forschungsaufmerksamkeit auf sich gezogen. Dies mag u.a. daran liegen, dass diejenigen, die ab 1940 als Kinder und Jugendliche aus den luftkriegsgefährdeten Gebieten Deutschlands in ländliche und vermeintlich sicherer Gegenden verschickt wurden, jetzt noch zu befragen sind.
Vor einigen Jahren wurde eine Studie vorgelegt, die in Anspruch nehmen kann, den Stand der Forschung zur KLV in übersichtlicher und treffender Weise dargestellt zu haben (vgl. Gerhard Kock: "Der Führer sorgt für unsere Kinder ...". Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg. Paderborn: Schöningh 1997). Vor diesem Hintergrund können nunmehr regional- und stadtgeschichtliche Beiträge zur weiteren Differenzierung beitragen, indem sie einen Überblick über die Schulsituation einer Region oder Stadt und zur Durchsetzung der KLV in den Jahren des Zweiten Weltkrieges bieten können.
Genau dies leistet der vorliegende Band für die westfälische Stadt Rheine. Nach einer allgemeinen Einleitung zur Geschichte und Organisation der KLV werden in 12 Abschnitten zunächst die einzelnen Schulen kurz vorgestellt, sodann anhand von Schulchroniken bzw. offiziellen Briefen und Akten der Schulen - soweit vorhanden - die offizielle Seite sowie anhand von Zeitzeugenberichten und Dokumenten (Briefen an die Eltern, Lagerbüchern und Fotos) die subjektive Seite der KLV beleuchtet.
Hervorzuheben sind bei diesem Vorgehen mehrere Aspekte. Zum einen ist der Blick hinter die Kulissen der KLV-Organisation auf die einzelnen Schulen sehr aufschlussreich, kommen doch hier in den Chroniken sowohl positive (wahrscheinlich zeitgenössische) als auch negative (wahrscheinlich nach dem Krieg ergänzte) Stimmen zu Wort. Zweitens bietet die Einbeziehung sämtlicher Rheiner Schulen einen Überblick über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei der Umsetzung der KLV in den Volksschulen und Gymnasien.
Darüber hinaus wird gezeigt, dass die konfessionelle Gliederung der Schulen Auswirkungen auf die KLV-Akzeptanz und die Gestaltung des Lageralltages hatte. So stieß die KLV bei katholischen Eltern auf größere Vorbehalte. Von den katholischen Schülerinnen und Schülern wird zudem öfter berichtet, dass der Kirchgang selbstverständlich war, auch wenn die Lagermannschaftsführer bzw. Lagermädelschaftsführerinnen sich dagegen aussprachen.
Im Hinblick auf das Geschlecht scheint es bei den Mädchen zu weniger Drill und militärähnlichen Formen gekommen zu sein als bei den Jungen, was eine Zeitzeugin zu dem Schluss brachte, dass die Mädchenlager wohl nicht so ernst genommen worden seien (S. 143).
Für alle Gruppen scheint aber zuzutreffen, dass die KLV "zu ihren besten Erinnerungen" zu zählen ist, wie es in einem propagandistischen "Elternbrief" 1942 formuliert wurde (S. 109). Kritik an den Zuständen der KLV-Lager, am Drill u.a. wird in den Zeitzeugenberichten nur selten geübt und betrifft dann meist die Verpflegung. Im Gegenteil wurde angesichts schlechter Bedingungen die Kameradschaft und Gemeinschaft am intensivsten erfahren, so dass das Urteil, "Ich möchte die KLV-Zeit nicht missen" (S. 153) wohl von vielen, wenn nicht den meisten Zeitzeugen bestätigt worden wäre. Und dies, obwohl fast übereinstimmend immer wieder hervorgehoben wird, dass man froh gewesen sei, wieder nach Hause zu kommen.
Nicht nur als Dokument über die mehrheitlich positiv beschriebene KLV-Erfahrung ist der Band von Interesse, sondern auch als Dokument der Verweigerung der Teilnahme an der KLV durch die Eltern. In der stark katholisch geprägten Region wurden viele Kinder von den Eltern an andere Schulen umgemeldet, wobei auch schulischer Abstieg in Kauf genommen wurde, damit die Kinder nicht an der KLV teilnehmen mussten.
Alles in allem bietet der Band zwar keine grundlegenden Neuheiten zur KLV, aber in der Konzentration auf eine Stadt doch einen Einblick in die KLV-Geschichte und -Organisation jenseits der großen Aktionen. Insbesondere in der Materialauswahl ist der Band ein Beispiel für den Nutzen stadt- und regionalgeschichtlicher Untersuchungen. Zugleich wird mit diesem Band auf ein Desiderat hingewiesen: die Erforschung der faktischen Zustände der Schule in den Jahren des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Neben den Schülerinnen und Schülern waren schließlich auch nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer verschickt worden, und aus manchen Lagern kamen sowohl SchülerInnen und LehrerInnen teilweise erst Ende 1945 oder gar 1946 zurückgekommen. Dieser Teil der Schulgeschichte muss erst noch intensiver bearbeitet werden. Hier scheint Material zur Verfügung zu stehen, das bislang noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen wurde.
EWR 1 (2002), Nr. 2 (April/Mai 2002)
Fast sämtliche Kinder sind jetzt weg"
Quellen und Zeitzeugenberichte zur Kinderlandverschickung aus Rheine 1942 - 1945
Münster, New York, München, Berlin: Waxmann 2001
(180 Seiten; ISBN 3-89325-1030-4; 29,80 EUR)
Klaus-Peter Horn (Berlin/Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Klaus-Peter Horn: Rezension von: Gießmann, Thomas / Marciniak, Rudolf: Fast sämtliche Kinder sind jetzt weg", Quellen und Zeitzeugenberichte zur Kinderlandverschickung aus Rheine 1942 - 1945, Münster, New York, München, Berlin: Waxmann 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 2 (Veröffentlicht am 00.04.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/893251030.html
Klaus-Peter Horn: Rezension von: Gießmann, Thomas / Marciniak, Rudolf: Fast sämtliche Kinder sind jetzt weg", Quellen und Zeitzeugenberichte zur Kinderlandverschickung aus Rheine 1942 - 1945, Münster, New York, München, Berlin: Waxmann 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 2 (Veröffentlicht am 00.04.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/893251030.html