Vorgeburtliche Untersuchungen gehören heute zum Standard einer mit dem Versprechen auf Sicherheit und Beruhigung operierenden Schwangerenvorsorge. Durch die Entwicklung niedrigschwelliger Screeningmethoden wie Ultraschall und Blutuntersuchungen werden Tests auch Frauen angeboten, die weder ein altersbedingt erhöhtes Risiko noch genetische Vorbelastungen haben. Bei einem auffälligen Befund greift die nächste Stufe der Diagnostik, die mittels Zellgewinnung des Ungeborenen durch Nabelschnurpunktion oder Fruchtwasserentnahme Verdachtsmomente entkräften oder bestätigen hilft. Wird eine als „schwerwiegend“ empfundene Diagnose erhoben, entscheidet sich die Mehrheit aller Betroffenen für die frühzeitige Beendigung der Schwangerschaft durch eine künstlich eingeleitete Geburt.
Mit dieser gesellschaftlich etablierten Praxis pränataldiagnostischer Tests befasst sich der von Wieser et al. vorgelegte Band. Ausgehend von empirischen Ergebnissen des Forschungsprojekts „Prenatal Testing: Individual Decision or Distributed Action“, das im Rahmen des Österreichischen Genomforschungsprogramm durchgeführt wurde, thematisieren die insgesamt zehn Beiträge ethische, soziale und rechtliche Aspekte der Pränataldiagnostik. Zentral dabei ist die Frage nach der Entscheidungsautonomie der untersuchten Frauen sowie der Aspekt der individualisierten Verantwortung. Während sich Berufsverbände der Gynäkologen und Humangenetiker explizit auf das Konzept des „informed consent“ (informierte Entscheidung) berufen, zeigen Berger, Wieser und Karner auf, wie durch einen de facto Mangel an Beratung und Information bewusste Entscheidungen konterkariert werden. Zugleich weisen sie darauf hin, dass die Delegation von Verantwortung an die einzelne Frau zwar die Praxis von Pränataldiagnostik ethisch und gesellschaftlich legitimieren hilft, für die Betroffenen selbst aber oftmals eine Überforderung darstellt. Das komplexe Geflecht aus rechtlichen Regularien, medizinischen Vorgehensweisen und beraterischen Arrangements muss dabei kritisch analysiert und hinsichtlich von Vorentscheidungen, Einflussnahmen und Delegationen hinterfragt werden.
Vor diesem Hintergrund richten einzelne Autoren des Sammelbands ihren Blick auf Rolle und Funktion beteiligter Akteure. Locock & Alexander beleuchten die Rollenangebote und Erwartungen an die Partner der untersuchten Frauen. Sie problematisieren, dass Status und Gefühle der Männer als zukünftige Väter häufig externen Erwartungen untergeordnet werden. Ihre Aufgabe wird primär in der Unterstützungsleistung für ihre Frauen gesehen, z.B. als „protectors“ (Beschützer), „supporters“ (Unterstützer) oder „deciders“ (Entscheider). Als emotional Betroffene werden sie hingegen tendenziell übersehen.
Ein alternatives beraterisches Arrangement zur Begleitung von Entscheidungen im Kontext pränataler Diagnose entwickeln Heller & Dinges. Mit ihrem Modell eines „Clinical Ethics Counselling“ möchten sie den Klientinnen ein interdisziplinäres Beratungsteam zur Seite stellen, das neben Medizinern, Psychologen, Klinikethiker, Krankenhausseelsorger und Hebammen umfasst. Sie plädieren dafür, die Beratungsprozesse verstärkt an den Gefühlen und Biographien der Betroffenen zu orientieren und dabei eine systemische Sichtweise zu praktizieren. Als zentrales Desiderat benennen sie einen flexiblen Umgang mit Zeit in Prozessen existentieller Entscheidungsfindungen.
Interessante Anknüpfungspunkte für die Diskussion und Analyse pränataler Praxis stellen auch die Beiträge zur Akteurs-Netzwerk-Theorie (ANT) in Anlehnung an Bruno Latour dar. Die ANT dient dabei als kritische Referenztheorie, die sowohl die Funktion technologischer Neuerungen wie auch die Erwartungen an einzelne Akteure in ihren Auswirkungen auf einen veränderten Umgang mit Elternschaft beleuchtet.
Für die Bedeutung des moralischen Status von Embryonen und Feten sensibilisiert Marcus Düwell in seinem den Band abschließenden Beitrag. Als Philosoph und Ethiker fragt er nach der Legitimation, Embryonen und Feten aufgrund ihrer genetischen Konstitution zu selegieren. Neben der Praxis der pränatalen Diagnostik weist er auf die Problematik der Präimplantationsdiagnostik hin, die in mehreren europäischen Ländern legal praktiziert wird (z.B. England, Belgien, Niederlanden). Die Selektion von Embryonen und Feten wird durch diese Praxis weiter ausgebaut, ohne dass jedoch basale ethische Fragen geklärt sind. Düwell befürchtet, dass durch einen unreflektierten Umgang mit Reproduktionstechnologien der Status von Menschen mit Behinderungen weiter unterminiert wird. Die Debatte um Selektion mittels genetischer Diagnostik muss deshalb – so Düwell – quer durch die gesamte Gesellschaft geführt werden.
Zu dieser Debatte leistet der von Wieser et al. vorgelegte Sammelband einen wichtigen Beitrag. Dass er in englischer Sprache erschienen ist, mag einerseits die LektĂĽre in deutschsprachigem Raum erschweren, ist andererseits jedoch fĂĽr die Wahrnehmung des Diskurses im internationalen Kontext unabdinglich. Das besondere Erbe, das Deutschland und Ă–sterreich in Bezug auf Genetik und Selektion durch den Nationalsozialismus haben, dient somit auch international als historisch begrĂĽndete Quelle kritischer Anfrage.
Für den internationalen wissenschaftlichen Diskurs stellt „Prenatal Testing“ zweifelsohne einen Gewinn dar. Kritisch anzumerken bleiben Redundanzen, die durch die Kommentierung von Beiträgen durch nachfolgende AutorInnen entstehen. Durch diese Doppelungen verliert der Band an Spannung, trägt jedoch der Absicht der HerausgeberInnen Rechnung, den dialogischen Charakter des Symposiums im Tagungsband nachzuzeichnen. Zu empfehlen ist das Buch Leserinnen und Lesern, die bereits erste Einblicke in die ethische, soziale und rechtliche Diskussion pränataler Diagnostik haben und die vielfältigen Entwicklungslinien der neuen Untersuchungsmethoden ansatzweise kennen.
EWR 7 (2008), Nr. 2 (März/April)
Prenatal Testing
Individual Decision or Distributed Action?
(Technik- und Wissenschaftsforschung, Bd. 48)
(Technik- und Wissenschaftsforschung, Bd. 48)
MĂĽnchen, Wien: Profil 2006
(207 S.; ISBN 3-89019-603-9; 38,00 EUR)
Marion Baldus (Mannheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marion Baldus: Rezension von: Wieser, Bernhard / Karner, Sandra / Berger, Wilhelm (Hg.): Prenatal Testing, Individual Decision or Distributed Action? (Technik- und Wissenschaftsforschung, Bd. 48). MĂĽnchen, Wien: Profil 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 2 (Veröffentlicht am 15.04.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89019603.html
Marion Baldus: Rezension von: Wieser, Bernhard / Karner, Sandra / Berger, Wilhelm (Hg.): Prenatal Testing, Individual Decision or Distributed Action? (Technik- und Wissenschaftsforschung, Bd. 48). MĂĽnchen, Wien: Profil 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 2 (Veröffentlicht am 15.04.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89019603.html