Das Buch ist eine Festschrift zum 60. Geburtstag von Heinz Hermann Krüger – aber alles andere als eine bloße Sammlung von Gelegenheitsschriften der hochkarätigen Gratulantenschar. Vielmehr versuchen die Herausgeber, eine systematische Zwischenbilanz zum Prozess „eines umfassenden und grundlegenden Strukturwandels des Erziehungs- und Bildungssystems“ (9) in Deutschland zu ziehen. Als dessen wesentliches Merkmal wird „die sukzessive Kooperation und Verzahnung der bisher tendenziell getrennten Bereiche des Erziehungs- und Bildungssystems: Familie, Schule, Berufsbildung und Jugendhilfe (außerschulische Bildung) gesehen“ (10). An die Stelle solcher Segmentierung seien „interdisziplinär und integrale Konzepte für die Erziehungs-, Bildungs-, Integrations-, und Partizipationsaufgaben in der hochmodernen Gesellschaft“ (10) gefragt. „Kooperation zwischen Theoretikern und Empirikern, zwischen Schul- und Sozialpädagogik, zwischen Kindheits- und Jugendforschung“ (11) ist dafür nötig. Das ist der Horizont, den H.H. Krügers Arbeiten umgreifen, und Programm der Beiträge dieses Bandes.
Den Anfang machen auf der bildungspolitischen Ebene Beiträge von Thomas Rauschenbach sowie von Rudolf Tippelt und Bernhardt Schmidt, die auf unterschiedliche Weise versuchen, den komplexen Zusammenhang von geänderten Sozialisationsbedingungen, Veränderungen der Bildungslandschaft, deren wissenschaftliche Durchdringung und die Wechselwirkungen des Ganzen mit der Bildungspolitik zu durchleuchten. Rauschenbach skizziert dabei die Fortschreibungsmöglichkeiten des im 12. Jugendbericht entworfenen Programms. Tippelt und Schmidt geben vor allem einen Überblick über die einschlägige Forschungslandschaft, wobei der Eindruck einer unübersichtlich zerklüfteten Landschaft nicht an den Referenten liegt. Dass sozial- und bildungswissenschaftliche Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Entwicklungsforschung gerade in Deutschland noch kaum wechselseitig fruchtbar werden, ist nicht ihr Versäumnis. Sie haben immerhin einen Versuch vorzuweisen, jenen „Strukturwandel“ mit einer „Implementationsforschung“ zu begleiten zur „Beurteilung von Interventionen, Vernetzungsstrukturen oder komplexen Change-Prozessen“. In der (deutschen) Forschungslandschaft im Ganzen ist diese Aufgabe noch nicht angekommen.
Eher pragmatisch versucht Werner Thole das Problem der mangelnden Wirkung erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisse in praktischen und bildungspolitischen Zusammenhängen zu behandeln. Einerseits hält er denen, die Erziehungswissenschaft und wissenschaftliche Ausbildung als praktische Versager beschimpfen, vor, sie verlangten Rezepte, die Erziehungswissenschaft nun mal nicht geben könne; und er beklagt, dass die Öffentlichkeit das, was die Wissenschaft zu sagen habe, nicht hören wolle. Andererseits beschreibt er selbst (belegt auch mit eigner empirischer Forschung) die oft katastrophalen Misserfolge der erziehungswissenschaftlichen Ausbildungen, die durch Verweise auf Probleme des Theorie-Praxis-Transfers kaum zu rechtfertigen sind. Die abschließende Auskunft, das „Theorie-Praxis-Problem“ sei „immer neu“ zu bestimmen, werde aber seine „dilemmatische Kontur […] kaum verlieren“ (96), gibt wenig Anlass zur Hoffung auf Änderung.
Noch grundsätzlicher gehen Hans Uwe Otto und Mark Schrödter das Problem des Strukturwandels im Verhältnis von Jugend und Bildung an: als Problem sozialer Gerechtigkeit. Sehr überzeugend weisen sie nach, dass das herrschende Modell der Gerechtigkeit von Bildungschancen nicht genügen könne, weil es unter der Bedingung knapper Ressourcen in allen Varianten systematisch eher Ungleichheit als Ausgleich der Chancen auf ein gutes Leben erzeuge. Sie setzen mit Bezug auf den „capability approach“ von Amartya Sen und Martha Nussbaum den Begriff der „Befähigungsgerechtigkeit“ dagegen. Als Leitbegriff der Reformdebatte zum Verhältnis von Jugend und Bildung, der es ja notwendig um das Verhältnis von Chancen zu Fähigkeiten der Aneignung gehen muss, ist dies sicher der bessere Begriff. Schade ist allerdings, dass ein zentrales Problem dieses Paradigmenwechsels nicht einmal erwähnt wird, welches Martha Nussbaum jedenfalls zum Mittelpunkt ihrer Argumentation macht: Gemeint ist, dass mit der Abkehr von einem formalen Gerechtigkeitsmodell das Problem einer Werteordnung gelingenden Lebens, für das befähigt werden soll, zu klären ist. Sozialpädagogen, die das unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen individueller Selbstverwirklichung und gerechten Verhältnissen nicht gerne zugeben, mögen dies als Rückfall in konservatives Denken abtun. Nussbaums Ansatz, aber, der über eine formale Theorie der Gerechtigkeit – besonders über John Rawls – hinausführen soll, impliziert notwendig, dass es nicht mehr nur um die Verteilung von Gütern (bzw. Chancen) geht. Gelingendes Leben kann nicht verteilt werden. Genauer zu diskutieren ist deshalb das Verhältnis von individuellem Recht des „pursuit of happiness“ zur Befähigung, eine positive Rolle in der Ordnung eines gerechteren Gemeinwesens spielen zu wollen und zu können. Nussbaum macht dafür Vorschläge, die man kritisieren aber nicht beiseite lassen kann, ohne dass aus dem capability approach doch wieder ein Modell der (noch) besser zu verteilenden Chancen wird. Schade, aber vielleicht kein Zufall, dass gerade zu dieser Schlüsselfrage aus der Perspektive einer sozialpädagogischen Jugendpolitik nichts gesagt wird.
Karin Bocks Beitrag geht von H.H. Krügers Konzept einer Kritischen Erziehungswissenschaft aus, das schon vor 20 Jahren die Wechselwirkungen zwischen den Krisenphänomenen einer postmodernen Risikogesellschaft und den selbstreflexiv gewordenen Erziehungsverhältnissen thematisierte und als Theorie einer neu zu denkenden Schule entwarf. Diese müsse Kinder und Jugendliche befähigen, sich „in wachsendem Maße vom unmittelbaren Zwang der gegebenen Verhältnisse zu befreien und an der aktiven Veränderung der Realität mitzuwirken […]“ (104). Bock bezieht dieses emanzipatorische Programm auf die institutionellen Kooperationsanforderungen an Schule und Jugendhilfe und übernimmt es zugleich als Theorie- und Forschungsprogramm der Kinder- und Jugendhilfeforschung. Jugendhilfe soll so als „flexible Lern-, Lebens- und Bildungswelt“ beschreibbar werden, „mit der es möglich wird, gesellschaftliche Partizipation und demokratische Grundstrukturen einzuüben und auszuprobieren“ (122). Ob Jugendhilfe damit strukturell überfordert sein könnte, wird nicht gefragt. Und allgemeiner frage ich mich, ob es genügt, als Theorie- und Forschungsprogramm Sozialer Arbeit begründende Analysen des von ihr Geforderten zu liefern, wenn sie nicht auch realistisch beschreibt, was sie selbst dafür leisten kann und was nicht.
Die folgenden Beiträge bleiben in dieser Hinsicht eher am Boden. V. Wensierski und Grunert liefern zum Thema „Jugendbildung im Modernisierungsprozess“ eine Analyse der begrenzten Beiträge, welche Ganztags-Schulmodelle einerseits und Jugendarbeit bzw. außerschulische Jugendbildung andererseits für eine „Ganztagsbildung“ leisten können. Auch dies endet allerdings mit der vielleicht allzu optimistischen Einschätzung, dass hierfür „sukzessiv integrale Konzepte entwickelt und durchgesetzt werden“ (131). Das bleibt abzuwarten.
Erst der nachfolgende Artikel von Werner Helsper zum „Bedeutungswandel der Schule für Jugendleben und Jugendbiographie“ liefert das theoretische Rüstzeug, um die Chancen und Grenzen des beschworenen Reformprozesses einschätzen zu können: Nämlich aus der Analyse der sich zuspitzenden Ambivalenzen des Verhältnisses von Schule und Jugendleben. In einem souveränen Forschungsbericht wird einerseits die immer größer gewordene Bedeutung der Schule sowohl für die Verteilung gesellschaftlicher Chancen als auch für die Konstitution jugendkultureller Milieus (und deren Spaltung in Schülerleben und autonome Freizeitmilieus) gezeigt; andererseits wird sichtbar gemacht, wieso sich das Spannungsverhältnis von Schule und Jugendkulturen auch in negative Gegenseitigkeit verstricken kann. Nicole Pfaffs nachfolgender Beitrag „Zum Verhältnis von Schule und Jugendkultur: Entfaltungskontext und Gegenwelt“ liefert dafür empirische Belege. Sie rekonstruiert aus Gruppengesprächen mit unterschiedlichen Schülerszenen den Ansatz einer Typologie von Umgangsweisen von Schülern mit Schule – wie mit gesellschaftlichen Chancen.
Das Verhältnis von Familie und Schule beleuchtet Jutta Ecarius. Auf der Basis von Honneths Grammatik moralischer Konflikte und von eigenen empirischen Studien analysiert sie historischen Wandel und Anerkennungsverhältnisse zwischen Schule, Eltern und Kindern. „Anerkennungskonflikte um Liebe, Recht und Solidarität“ (183) müssen unterschieden werden, wenn die Spannungen zwischen Elternhaus und Schule (z.B. im Streit darüber, welche Seite in der Erziehung versagt) fruchtbar bearbeitet werden sollen. Ein damit verbundenes Thema greift Martina Löw mit dem Verhältnis von Bildung und jugendlicher Sexualität auf. Sie argumentiert und belegt, dass Sexualerziehung im öffentlichen Bildungswesen eigentlich nur als Gefahrenabwehr betrieben, aber nicht als ein zu bildender zentraler Bereich zwischenmenschlichen Umgangs ernst genommen werde.
Manuela du Bois-Reymonds Beitrag zu „Bildung und Lernen in europäischer Perspektive“ und Heinz Sünkers Essay „Bildungspolitik in Deutschland“ führen das Thema des Bandes auf die politische Ebene zurück. Du Bois-Reymond insistiert, dass es weder an theoretischem und empirischem Wissen noch an Klarheit der europäischen Bildungsstandards mangle, wenn der Strukturwandel des Bildungswesens nicht vorankomme. Es handle sich vielmehr um einen politischen Skandal mangelnder Umsetzung. Darin ist Heinz Sünker mit ihr völlig einig. Er sieht den „entscheidenden Skandal“ allerdings in weiterem Horizont Er liege „darin, dass gesellschaftliche Ungleichheiten, also Klassenverhältnisse, durch Bildung nicht nur überwunden, sondern noch verstärkt reproduziert werden, weil ‚Bildung’ für Lebenslauf und Lebenserfolg immer entscheidender geworden sind“ (236).
Dies letzte Zitat zeigt, warum es auch diesem Band, trotz seiner facettenreichen Beiträge, nicht gelingt zu klären, auf welcher Ebene (bzw. in welchem Verhältnis der unterschiedlichen Ebenen) das Thema „Jugend und Bildung“ als Analyse ihrer „Modernisierungsprozesse“ und ihres „Strukturwandels“ zu behandeln ist. Dass Erziehung letztlich nur für eine real existierende Gesellschaft erziehen kann, ist, wie wir seit Bernfeld wissen, kein Skandal, sondern ein Tatbestand. Als skandalös kann man allerdings die gesellschaftlichen Verhältnisse, z.B. die „Klassengesellschaft“ empfinden, für die erzogen wird. Dann aber geht es um etwas anderes als um Modernisierung des Verhältnisses von Jugend und Bildungswesen; z.B. nicht mehr um den Skandal, dass die deutsche Schule mehr Ungleichheit produziert als andere Länder mit ähnlichen Bedingungen; oder nicht mehr um den Skandal, dass Schule und Jugendhilfe immer noch mehr ihre gegenseitigen Vorurteile pflegen, anstatt klar ihre Grenzen zu erkennen und zusammenzuarbeiten; und auch nicht um das Problem, dass die Angebote der non-formalen Bildung mit den Ambivalenzen des Jugendlebens genauso zu kämpfen haben wie die Schule. Wie verhindert werden kann, dass der Verweis auf jenen ganz großen Skandal diese kleineren Skandale gar nicht mehr bearbeitbar erscheinen lässt, sagt Sünker nicht. Im Ganzen hätte ich mir, vor allem von den sozialpädagogischen Beiträgen, noch mehr Detailarbeit zu solchen auch nicht ganz kleinen Fragen gewünscht. Trotzdem ist der Band ein lesenswerter, provokativer und weiterführender Beitrag zu einem großen Thema des 21. Jahrhunderts.
EWR 8 (2009), Nr. 2 (März/April)
Jugend und Bildung
Modernisierungsprozesse und Strukturwandel von Erziehung und Bildung
am Beginn des 21. Jahrhunderts
am Beginn des 21. Jahrhunderts
Opladen: Budrich 2008
(269 S.; ISBN 878-3-88649-151-9; 24,90 EUR)
Burkhard MĂĽller (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Burkhard MĂĽller: Rezension von: Grunert, Cathleen / Wensierski, Hans JĂĽrgen von (Hg.): Jugend und Bildung, Modernisierungsprozesse und Strukturwandel von Erziehung und Bildung am Beginn des 21. Jahrhunderts. Opladen: Budrich 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/878388649151.html
Burkhard MĂĽller: Rezension von: Grunert, Cathleen / Wensierski, Hans JĂĽrgen von (Hg.): Jugend und Bildung, Modernisierungsprozesse und Strukturwandel von Erziehung und Bildung am Beginn des 21. Jahrhunderts. Opladen: Budrich 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/878388649151.html