Die gegenwärtige Debatte zur Erwachsenen- und Weiterbildung ist in hohem Maße von der Annahme bestimmt, dass sich die Bildungsverhältnisse gegenwärtig grundlegend wandeln. Fremdbestimmtes wird von selbstbestimmtem Lernen abgelöst, formelles von informellem Lernen, gesellschaftlich organisierte Bildung von individuell verantworteter Bildung. Mithin stehen nicht nur das Lernen Erwachsener, sondern auch die institutionellen Strukturen des Weiterbildungssystems, ihr gesellschaftlicher Auftrag und die professionellen Handlungsformen zur Disposition. Ob dies nun zum Untergang des Weiterbildungssystems führt oder zu seiner universellen Expansion, bleibt in der Debatte manchmal ebenso unklar wie die Frage, ob die bildungspolitischen Vorstöße und die disziplinären Konzepte nun Ursache oder Wirkung dieser Entwicklung sind. Eine gewisse Weitsicht und Klärung darf man von Positionen erwarten, die die Lage nicht nur beschreiben, erleiden oder gestalten, sondern sie bezugnehmend auf sozialwissenschaftliche Theoriekonzepte und anhand empirischer Bildungsforschung klärend präzisieren. Eine solche Anstrengung haben nun Jochen Kade und Wolfgang Seitter sowie ihre Mitarbeiter/-innen, v.a. Jörg Dinkelacker, Birte Egloff und Monika Fischer, in zwei Bänden vorgelegt. Die empirische Studie „Umgang mit Wissen“, die ein von der DFG gefördertes Projekt abschließt, ist im Umfang der empirischen Ebenen, des erhobenen Materials, der eingenommenen Perspektiven und in ihrem Anspruch an die Verzahnung von avancierter Theorie und exzessiver Empirie als durchaus ungewöhnlich und beeindruckend einzustufen. In einer Art systemtheoretisch geleiteten Ethnographie hat das Projektteam den „Umgang mit Wissen“ in einer sozialpädagogischen Einrichtung und in einem größeren Dienstleitungsunternehmen untersucht.
Den theoretischen Ausgangspunkt bilden zwei Thesen, die vor allem Jochen Kade in den letzten Jahren in der Entwicklung einer systemtheoretischen Position in der Weiterbildungswissenschaft herausgearbeitet hat. Zum einen, dass die pädagogischen Handlungsformen, die bisher an institutionelle Strukturen, einen gesellschaftlichen Auftrag, eine emanzipatorische Veränderungserwartung an die Subjekte und an professionelle Akteure gebundenen waren, sich zunehmend universalisieren und entgrenzen. Die klassischen pädagogischen Handlungsfelder erscheinen dann nicht mehr als der privilegierte Ort des Pädagogischen, das sich vielmehr über zahlreiche gesellschaftliche Bereiche verstreut. Professionelles und institutionelles Handeln in der Weiterbildung zeichne sich lediglich dadurch aus, dass dort Aneignung als Aneignung thematisch und damit explizit werde. Mit dieser Universalisierung sei aber – und darin besteht die zweite These – nicht ein Verschwinden einer gesellschaftlichen Einheit der Bildung Erwachsener verbunden. Auf der Basis der Luhmannschen Systemtheorie begreift Kade diese Einheit vielmehr als das Prozessieren pädagogischer Kommunikation als Veränderungserwartung am Lebenslauf von erwachsenen Individuen – einer Veränderungserwartung aber, die nicht mehr von einer pädagogischen Profession transportiert zu werden braucht, sondern die als allgemeines Strukturmerkmal der Gesellschaft allen Individuen gegenwärtig ist. Schon in jüngeren Veröffentlichungen haben Kade und Seitter präzisiert, nach welchem Modell sie dabei pädagogische Kommunikation verstanden wissen wollen: nicht nach dem Modell der „Bildung“, das die Erwachsenen- und Weiterbildung gewöhnlich leite und das mit hohen Erwartungen an die Autonomie der Subjekte und geringeren Erwartungen an die unmittelbare Wirkung pädagogischen Handelns einhergeht, sondern nach dem Modell der „Erziehung“, das die vier Elemente pädagogische Absicht, Vermittlung, Aneignung und Überprüfung der Aneignung konstelliert. Pädagogische Kommunikation sei also dadurch gekennzeichnet, dass sie absichtsvoll nicht nur auf die Vermittlung von Wissen gerichtet ist, sondern auch die erwünschten Formen der Aneignung bei den Adressaten sicherstellen möchte. Was zunächst an einen Regelkreis der Kybernetik erster Ordnung erinnert und in Widerspruch zu einem systemtheoretischen Ansatz nach der autopoietischen Wende zu stehen scheint, wollen Kade und Seitter als heuristisches Schema verstanden wissen, dessen Gebrauch in der empirischen Forschung sich nicht dafür interessiert, ob der Zusammenhang von Absicht, Vermittlung, Aneignung und Überprüfung zustande kommt, sondern wie die vier Elemente in der pädagogischen Kommunikation konstelliert oder nicht konstelliert werden.
Um diesen Problemhorizont empirisch zu operationalisieren, hat die Projektgruppe zwei recht unterschiedliche Felder ethnographisch erschlossen und miteinander verglichen: Zum einen ein sozialpädagogisch arbeitender Verein der Obdachlosenhilfe und zum anderen ein großes Dienstleistungsunternehmen in einem Industriepark. Weder der Verein noch das Unternehmen gehören im klassischen Sinn zur Weiterbildung. Vielmehr wird vom Projektteam die Frage aufgeworfen, inwiefern sich sowohl in der Kommunikation der Organisationen mit ihren Klienten und Kunden als auch in der internen Kommunikation untereinander Formen pädagogischer Kommunikation unter Erwachsenen finden lässt; denn es geht ja um die universalisierten Formen derselben. Die Untersuchung ist in zwei Ebenen angelegt, die auch unterschiedliche methodische Vorgehensweisen implizieren. Die erste Ebene nimmt die Kommunikationen, wie sie sich in verschiedenen Settings realisieren, durch ethnographische Beobachtung in den Blick. Die Projektgruppe unterscheidet dabei drei Typen von Settings: explizite, hybride und mediale. In expliziten Settings sind institutionell Handelnde nicht nur anwesend, sondern haben die Definitionsmacht über die Gestaltung der Situationen, Formen, Orte und Zeiten der Aneignung. In hybriden Settings können institutionell Handelnde zwar anwesend sein, pädagogische Kommunikation kann aber auch von anderen Akteuren lanciert werden. Ihre Legitimation ist in hybriden Settings fragil, sie muss ihre Berechtigung und Seinsweise in einem Ensemble verschiedenster Formen der Kommunikation behaupten. Während etwa Beratungssituationen im sozialen Verein und Weiterbildungsseminare im Unternehmen eindeutig als explizite Settings und ein Caféhausgespräch im sozialen Verein und der Tag der offenen Tür im Unternehmen eindeutig als hybride Settings gelten, hat die Projektgruppe offene pädagogische Formen wie eine Literaturwerkstatt und strukturierte, aber nicht pädagogische Situationen wie Abteilungssitzungen im Projektverlauf erst als explizite, dann aber als hybride Settings eingeordnet. Die letzte Gruppe, die medialen Settings, sind wieder klar abgegrenzt: Hier sind Formen wie eine Unternehmenszeitschrift oder eine Straßenzeitung zu finden. Der erste Band „Pädagogische Kommunikation“ enthält Studien, die die Beobachtung exemplarischer Fälle aus je einem dieser Settings darstellen. Die zweite Untersuchungsebene ist im zweiten Band „Pädagogisches Wissen“ entfaltet. In ihr steht das von Akteuren eingebrachte pädagogische Wissen im Mittelpunkt. In 30 Experteninterviews und einer Reihe von Gruppendiskussionen wurden die auf der ersten Ebene nur beobachteten Akteure nun auf ihr Handeln hin befragt und damit in eine reflexive Schleife gebracht. Die Auswertung der erhobenen Materialien beider Untersuchungsebenen erfolgte nach den Prinzipien des interpretativen Paradigmas durch Kategorisierung und Verdichtung von Aussagen, durch theoriegeleitete Bündelung anhand von Dimensionen oder Spannungsverhältnissen und durch Systematisierung und Erfassung von im Material aufgefundenen, auf systemtheoretischer Basis identifizierten Formen der Kommunikation, des Wissens, der Vermittlung etc. Auf durchweg aufschlussreiche, interessante und bisweilen auch unterhaltsame Weise geben sich in den einzelnen Beiträgen der Bände ethnographische Beschreibungen, Falldarstellungen und herausgearbeitete Taxonomien die Hand.
Abgesehen von der materialen Dichte, mit der die Thesen von der Universalisierung des Pädagogischen und den Formen pädagogischer Kommunikation gefüllt, plausibilisiert und differenziert werden, und die bei solchen Untersuchungen eine eigene Form des Ergebnisses darstellen, hat der Band zu einer Reihe von Irritationen geführt, die eine Weiterentwicklung der Theorie ermöglichten.
(1) Zum Einen hat sich gezeigt, dass pädagogische Kommunikation zwar in fast allen Settings präsent ist, dass sie aber nie allein vorkommt, sondern immer mit anderen Formen der Kommunikation nicht nur konstelliert ist, sondern sich in einem Kampf befindet. Dass dies für hybride Settings gilt, in denen die pädagogisch Kommunizierenden keine didaktische Definitionsmacht der Situation haben, war vielleicht zu erwarten. Es lässt sich aber auch für explizite Settings beobachten: Pädagogische Kommunikation wird von den Adressaten/-innen in der Regel zurückgewiesen, da sie von diesen als Eingriff begriffen wird. Je expliziter das Setting, desto unverfügbarer verhalten sich die Adressaten/-innen – in den Pflichtveranstaltungen der Unternehmensweiterbildung sind sie offenbar gar nicht mehr zugänglich. In der Cross-Over-Gruppendiskussion mit Vertreter/-innen beider Felder haben sich die Unverfügbarkeit der Adressaten/-innen und die Schwierigkeit, sie zu erreichen, als gemeinsames Thema beider Felder ergeben.
(2) Zuweilen erscheinen die pädagogisch Kommunizierenden in den Studien als tragische Helden, die Zumutungen vorbringen, die keiner hören mag und damit notwendig scheitern. In der Beratung im sozialen Verein zeigt sich eine solche tragische Strategie: Je resistenter die Klienten sich geben, desto expliziter wird das Setting in der pädagogischen Kommunikation gesetzt, was lediglich zu einer Intensivierung der Resistenz führt. Allerdings entwickelt pädagogische Kommunikation auch andere Strategien: Eine ist ihre Invisibilisierung. – Pädagogische Kommunikation wird verdeckt und intransparent. Sie erhält damit einen neuen Zusammenhang über ein Netzwerk an Handlungsweisen, eine „von der Kontingenz der Verknüpfungen geprägte Großform“ (Band 2, 311), in der sich die allgegenwärtige Veränderungserwartung an die Subjekte in Interaktionen konkretisiert.
(3) In sämtlichen Bereichen lässt sich nun aber die Entstehung einer pädagogischen Form beobachten, die das Erziehungsmodell der pädagogischen Kommunikation als zu einfach erscheinen lässt: Reflexivität bzw. Selbstbeobachtung, die zwar positiv konnotiert, aber nicht erzwingbar ist, sondern indirekt durch Wissensmanagement, Qualitätssicherung und Kommunikationsroutinen entsteht. Es ist fraglich, ob sich das Vierer-Schema der pädagogischen Kommunikation als Erziehung um einen weiteren Punkt ergänzen lässt oder ob sich mit Selbstbeobachtung und Reflexivität eine alternative Form pädagogischer Kommunikation zeigt, die mehr dem zuvor verabschiedeten Modell der „Bildung“ entspricht. Offenbar handelt es sich um eine Form, in der die Veränderungserwartung pädagogischer Kommunikation auf modernisierte Weise erscheint, indem sie den Widerstand der Subjekte gegen ihre Veränderung dadurch umgeht, dass sie sie zur Selbstveränderung anregt. Der Status des Erwachsenen als autonomes Subjekt werde damit prekarisiert, es ist zu permanenter Veränderungsbereitschaft aufgerufen. Luhmanns Dualismus – wer keine Erziehung zumutet, kann Bildung anbieten – greift dann entschieden zu kurz (vgl. Band 2, 310).
(4) Vor allem im Unternehmen sind zahlreiche Formen des Pädagogischen – an Erziehung und an Bildung orientierte – zu finden, die den Akteuren nicht reflexiv verfügbar sind. Hier sieht die Projektgruppe Möglichkeiten eines Entwicklungsschubs für pädagogische Professionalisierung; denn im Zusammenhang der Wissensgesellschaft gehe es um ein Explizitmachen pädagogischen Wissens. Während sich pädagogische Kommunikation zunächst ohne Beteiligung von „Pädagog/-innen“ universalisiert und als Kommunikationsform an Bedeutung gewinnt, ergeben sich wiederum Felder für eine Expansion professioneller, das heißt expliziter und wissenschaftsbasierter Handlungsweisen. Diese sollen aber nicht von der Steuerbarkeit von Situationen und Lernprozessen ausgehen, sondern von deren Unwahrscheinlichkeit und Unverfügbarkeit – womit die Autor/-innen einen disziplinären Konsens treffen dürften.
Damit konnten nur wenige Punkte dieser reichhaltigen Studie diskutiert werden. Zuletzt bleibt zu hoffen, dass die Autor/-innen ihre Drohung am Ende des Resümees, jetzt wieder zur abstrakten Theoriebildung zurückkehren zu wollen (Band 2, 324), nicht rückhaltlos wahr machen, haben sie doch gerade gezeigt, wie leistungsfähig eine groß angelegte und theoretisch geleitete empirische Forschung für eine Weiterentwicklung der Wissenschaft der Weiterbildung sein kann. Der theoretische „Instrumentenflug bei Nebel“, den Luhmann als Leitbild sozialwissenschaftlicher Arbeit in Anspielung auf Hegels Eule, die nur bei einbrechender Dämmerung fliegt, proklamierte, gewinnt durch den Maulwurfblick der Ethnographie erheblich mehr Dignität. So könnte sich die Theorie auch noch weiter irritieren lassen und die Frage aufwerfen, ob denn alles Handeln, das eine Veränderungserwartung impliziert, pädagogisches Handeln ist – in machen empirischen Beschreibungen wird das Tun von Produktverkäufern gegenüber ihren Kunden unterschiedslos mit im engeren Sinn pädagogischen Formen wie Seminar oder Ausbildung gleichgesetzt, was eher eine Undifferenziertheit der begrifflichen Raster als ein Problem der Empirie zu sein scheint. Die Universalisierung pädagogischer Handlungsweisen bleibt auch dann unbenommen, wenn nicht jeder Wunsch, dass der Andere tut, was man möchte, als pädagogische Kommunikation begriffen wird, zumal dann Pädagogik und Macht einfach gleichgesetzt würden. Dennoch ist die Entgrenzung fruchtbar – sie wirft die Frage auf, ob das gegenwärtig verbreitete Verständnis von Weiterbildung als „Lernen“ und als „Kompetenz“ nicht eine unzulässige Engführung der neuen Bildungsverhältnisse ist, die das Können des einzelnen Individuums überbewertet, indem sie es ins Zentrum stellt. Schließlich bleibt zu fragen, ob das von der Projektgruppe lancierte Bild, dass sich pädagogisches Handeln wie ein Virus in der Gesellschaft ausbreite, nicht machttheoretisch grundgelegt werden müsste. Die Universalisierung könnte dann nicht einfach als autonome Expansion des Pädagogischen erscheinen, sondern als Indienstnahme von Formen des Pädagogischen im Rahmen einer allgemeineren gesellschaftlichen Verschränkung von Fremd- und Selbstregierung vor dem Hintergrund sich transformierender Produktionsverhältnisse – aber das ist, wie unschwer zu erkennen, keine systemtheoretisch immanente, sondern eine Standpunktkritik.
EWR 6 (2007), Nr. 5 (September/Oktober 2007)
Umgang mit Wissen
Recherchen zur Empirie des Pädagogischen;
Band 1: Pädagogische Kommunikation
Band 1: Pädagogische Kommunikation
Opladen/Farmington Hills: Budrich 2007
(474 S.; ISBN 3-86649-051-8; 36,00 EUR)
Umgang mit Wissen
Recherchen zur Empirie des Pädagogischen;
Band 2: Pädagogisches Wissen
Band 2: Pädagogisches Wissen
Opladen/Farmington Hills: Budrich 2007
(367 S.; ISBN 978-3-86649-052-9; 36,00 EUR)
Daniel Wrana (GieĂźen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Wrana: Rezension von: Kade, Jochen / Seitter, Wolfgang: Umgang mit Wissen, Recherchen zur Empirie des Pädagogischen Band 1: Pädagogische Kommunikation. Opladen/Farmington Hills: Budrich 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/86649051.html
Daniel Wrana: Rezension von: Kade, Jochen / Seitter, Wolfgang: Umgang mit Wissen, Recherchen zur Empirie des Pädagogischen Band 1: Pädagogische Kommunikation. Opladen/Farmington Hills: Budrich 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/86649051.html